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Wie Virtual-Reality-Gaming die Welt rettet

von Katharina Tillmanns
Während die Welt um uns aus den Fugen gerät, scheint mit dem Siegeszug von Virtual Reality mancherorts zumindest der virtuelle Prometheus-Funke zum Greifen nah. Ergeben wir uns einmal mehr der bloßen medialen Durchlüftung unseres Emotionshaushalts oder ist doch etwas dran an der neuen digitalen Schule der Menschlichkeit? 

Frühjahr 2020. Im gedämpft beleuchteten Saal des brandneuen Kölner VR Palasts herrscht seltsame Stille, die LEDs der Bewegungssensoren blinken. Eine junge Frau steht vom Boden auf und streift ihren Visor ab. Ihre Augen sind gerötet, das Programm hat sie sichtlich mitgenommen. Nach und nach entledigen sich auch die anderen Besucher der Vorstellung ihrer HMDs. Einige der Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 10 bleiben noch eine Weile sitzend oder liegend am Boden. Das Energielevel der Jugendlichen scheint verhältnismäßig niedrig – kein Wunder, denn in den letzten 60 Minuten haben sie in einem Flüchtlingskonvoi die Balkanroute durchwandert, sich vor dem ungarischen Grenzschutz versteckt und zuletzt im Wald übernachtet. Kurze Zeit später im Foyer entlässt ein Lehrer eine Gruppe Schüler in die Mittagspause: Morgen wird man das hier Erlebte noch weiter besprechen. Draußen stellt sich derweil schon die Essensfrage, ob nun Döner am Ring oder Falafel-Sandwich auf der Zülpicher. Oder eher was mit Salat, später geht´s schließlich noch zum Badminton. „Das gerade fühlte sich verdammt echt an“, murmelt jemand noch beim Gehen. Allgemein zustimmendes Nicken...

Dass Games und digitale Welten uns historische oder gar tagespolitische Events hautnah nacherleben lassen, erinnert an Aldous Huxleys Science-Fiction-Dystopie vom Gefühlskino in seinem Roman Schöne neue Welt. In Huxleys Welt ersetzen die Feelies nicht nur Kunst und Literatur, sie regulieren den gesamten Gefühlshaushalt einer emotional verarmten Gesellschaft. Mittels der neuen raumgreifenden VR-Technologien, in Verbindung mit dokumentarischen Ansätzen und Gaming, bildet sich jenseits des Mainstreams heute ganz real eine neue Erzähl- und Erlebnisform die, entgegen der düsteren Visionen von Schöne neue Welt, wichtige gesellschaftliche Themen aufgreift und der Allgemeinheit zum Diskurs bereitstellt. Szenen aus der Realwelt könnten in naher Zukunft als virtuelle begehbare Wahrheiten Empathie fördern und unser Denken und Handeln in der Alltagsrealität nachhaltig prägen. Die neue Art der Nachrichten- und Wissensaufnahme würde dabei zu einer Revolution im Prozess der Meinungsbildung führen – ob nun allein zuhause oder als Gruppenerlebnis im VR Palast.

Neben den atemberaubenden Möglichkeiten, die Virtual Reality im Bereich fiktiver Unterhaltung verspricht, deutet sich das Dokumentarische, eben jene Verbindung zwischen Realität und medialer Aufbereitung, als spannendstes Abenteuer der VR-Forschung an.

Dokumentarisches Erzählen und VR
Heute schon ermöglichen Games und digitale Welten ästhetisch nicht nur die Abbildung der Wirklichkeit, sondern liefern gestaltete Umgebungen, die oftmals detaillierter sind als die Realität selbst. Dabei werden User mit immer intensiveren Reizen eingehüllt. Die totale Immersion ist längst nicht bloß einschlägige Vokabel im Vermarktungsjargon, sie ist ein Muss für Massentauglichkeit und damit den Erfolg am Markt. Für dokumentarisches Erzählen ist dieser Anspruch gleichermaßen Chance und potenzielle Falle.

Während in traditionell linearen Erzählformen bisher ausschließlich die Autoren den Blick auf das Gezeigte bestimmen und so auch die Immersionstiefe beeinflussen, ist das Blickregime in der Domäne der Games längst entfesselt. Gerade in screenbasierten First-Person Games ist die Ego-Perspektive ein wichtiger Faktor für das Eintauchen in die Spielwelt. Mit der Freiheit der Blickrichtung verstärkt sich, etwa im Vergleich zu 2D-Games, die individuelle Wahrnehmung des Gaming-Erlebnisses: Was sehe ich, wann sehe ich es und wem oder was kehre ich bewusst den Rücken zu? – Das alles sind Entscheidungen, die im Fiktionalen zwar spielintrinsische Konsequenzen haben, mit dem Verständnis, „man habe es doch selbst erlebt“ im Dokumentarischen gleich eine entsprechende Deutung und Projektion auf die Realität nach sich ziehen.

Mit einer neuen Freiheit des Blicks experimentiert gegenwärtig besonders die Dokufilmszene und nutzt 360° Video zur Entwicklung neuer Erzählansätze. Sozusagen als Vorstufe zu echter VR bedeuten sphärische oder volumetrisch aufgezeichnete 360° Videos dabei eine direkte Übertragung traditionell dokumentarischer Aufzeichnungstechniken in den virtuellen Raum: Das von dem Medienmacher und VR-Doku-Pionier Milk 2015 zusammen mit der New York Times gelaunchte 360° Doku-Projekt The Displaced begleitet drei reale Flüchtlingskinder in unterschiedlichen Krisengebieten und dokumentiert dabei einen Ausschnitt aus ihrem Leben in zerstörten Siedlungen und Übergangsbehausungen. Der Betrachter ist dabei lebensgroß mitten im Geschehen, allerdings beschränkt auf eine passive Beobachterrolle.

Trotz der hier weiter vorhandenen Lean-Back-Haltung des Publikums sieht Milk in den verschiedenen Ausprägungen von VR das Potenzial, die Menschen auf eine nie dagewesene Art zu verbinden, ihr Denken zu verändern und sie dadurch letztendlich menschlicher werden zu lassen.

Die echte virtuelle Realität, also die komplett am Computer modellierte und begehbare Konstruktion oder Rekonstruktion von Ort, Zeit und Handlung, lässt im Vergleich zu 360° Videos nicht nur Interaktion und damit Gaming über verschiedenste Controller zu, auch die Bewegung im Raum ist mit Setups wie zum Beispiel der HTC Vive möglich.

Rekonstruktion statt Dokumentation
Dass das für seine Experimentierfreude bekannte Sundance Film Festival Anfang 2017 in seinem New Frontiers Programm eine Vielzahl von VR Film-Game Hybriden präsentiert, verwundert kaum: Teil des Programms ist der Titel Out of Exile: Daniel's Story von Emblematic Group, der unter der Leitung der Journalistin und VR Pionierin Nonny de la Peña entsteht. Der Titel teleportiert den User als nicht näher spezifizierten Augenzeugen in das Wohnzimmer der Familie Pierce, wo Sohn Daniel nach seinem Outing von seiner Verwandtschaft beschimpft, geschlagen und schließlich aus dem Haus geworfen wird. Die computergenerierte Rekonstruktion der Geschehnisse wird flankiert von Original-Tonaufnahmen des realen Vorfalls.

Der User findet sich in ein Wechselbad der Gefühle zwischen Ohnmacht und Wut versetzt

Wie auch in vorangegangenen von de la Peña unter der verheißungsvollen Überschrift Immersive Journalism gestalteten VR Experiences wird dem User durch die körperliche Bewegungsfreiheit im Raum ein Gefühl von Handlungsfähigkeit suggeriert. Doch die Freiheit in der Perspektive wird im Sinne des Dokumentarischen durch den Entzug jeglicher sonstiger Interventionsmöglichkeiten beschnitten. Der User findet sich in ein Wechselbad der Gefühle zwischen Ohnmacht und Wut versetzt. Im besten Fall erzeugt dieses Stilmittel Mitgefühl und im speziellen Fall von Out of Exile ein gesteigertes Verständnis für die Belange der LGBTQ-Jugend.

Die Wiederentdeckung des Körpers
Stationäre HMDs wie die Oculus Rift, Samsung Gear VR und auch Google Cardboard verdeutlichen seit 2014, dass allein die Projektion raumgreifender Illusionen in das Sichtfeld des Users die emotionale Intensität und vermeintliche Authentizität des Erlebnisses verstärkt. Ob nun der eigene Körper im Virtuellen gar nicht, in Form eines Avatars ganz oder in Teilen repräsentiert wird: Der User geht, angetrieben durch die visuelle Orientierung, körperlich automatisch mit – ein Effekt, wie wir ihn schon vom 3D Kino oder screenbasierten First-Person Games kennen.

Gerade in der Domäne der First-Person MMOs geht das körperliche Miterleben bereits deutlich über das rein Navigatorisch-Koordinatorische hinaus. Mittels ihrer Avatare erleben Spieler in den fiktiven Welten aktiven soziokulturellen Austausch. Der Körper des digitalen Repräsentanten und die damit verbundenen Ausdrucksmöglichkeiten spielen dabei eine identitätsstiftende Rolle, die über das Spielerlebnis in den Alltag hinausreicht. Neben den Erlebnissen in der vordergründigen Spielmission kann die Verkörperung eines digitalen Alter Egos darum als alternative Lebenserfahrung angesehen werden. Gerade im Kontext von Roomscale-VR, in dem die natürlichen Bewegungen der Spieler erfasst werden, könnten die pädagogisch vielfach erprobten Dynamiken von Rollenspiel zukünftig neue Möglichkeiten zum Hervorrufen von Empathie, nachhaltiger Wissensvermittlung und Empowerment bieten.

Vom Augenzeugen zum Akteur
In seinem vielzitierten Buch Persuasive Games: The Expressive Power of Videogames stellt der Medientheoretiker Ian Bogost heraus, dass die Überzeugungskraft digitaler Spiele in deren sogenannter procedural rhethoric liegt, nämlich der Fähigkeit, Systeme und kausale Zusammenhänge von Ereignissen und Prozessen der realen Welt zu simulieren und hierdurch nicht nur sichtbar, sondern erfahrbar zu machen. Nach Bogosts Modell erfolgt die Produktion von Bedeutung während des Spielens vor allem durch die Handlungsentscheidungen des Spielers.

Schnell stellt sich beim Spielen die Überzeugung ein, Armut und Obdachlosigkeit seien schlicht eine Folge falscher Entscheidungen

Die Kategorie der sogenannten Games for Change – Spiele mit Realweltbezug und expliziter, zumeist gesellschaftspolitischer Message – bedient sich oftmals dieser Methodik. So bietet das Browsergame Spent den Spielern eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten im Strudel der Armutsspirale. Die ursprünglich zur Steigerung von Empathie entwickelte Simulation geriet zuletzt allerdings genau wegen der suggerierten Entscheidungsfreiheit in die Kritik, denn schnell stellt sich beim Spielen die Überzeugung ein, Armut und Obdachlosigkeit seien schlicht eine Folge falscher Entscheidungen.

Gelungenere Titel wie Papers, Please von Lucas Pope oder Phone Story von Molleindustria drängen den Spieler ebenfalls in moralische Dilemmas. Sie fördern und fordern mit simplen und repetitiven, zugleich aber bedeutungsstarken Spielmechaniken und einer beim Spielen fühlbaren Autorenhaltung, allerdings eine gewisse Distanz zum Geschehen. Das Resultat sind durch Reduktion und Tonalität fast zynisch wirkende, dabei aber emotional hoch aufgeladene Simulationen, in denen Spieler aufgefordert werden, aktiv Stellung zu beziehen. Unverzüglich wird ihnen allerdings klar gemacht, dass die einzige wirklich freie Handlungsoption ist, das Spiel zu verlassen und damit sinnbildlich das System zu stoppen. Eine bejubelnswert subversive Message, die allerdings wenig konkrete Übersetzungshilfen in unsere Alltagswelt bietet.

VR-Experimente wie die an der TH Köln entstandene First-Person Simulation Outcasted zeigen mit der Mischung verschiedener VR und spieleigener Techniken erste wegweisende Ansätze aus dieser Sackgasse: Im Körper des fiktiven Obdachlosen Paul sitzt der Spieler in Outcasted an einer Einkaufsstraße und bettelt. Er kann zu den Passanten aufblicken und ihnen nachschauen, bei unveränderter Position hebt sich die Hand des Avatars in Blickrichtung. Aufstehen und Herumlaufen sind nicht möglich, die Interaktion ist streng reduziert auf den Versuch einer Kontaktaufnahme mit den vorbeilaufenden NPCs. Das im Low-Poly-Stil gehaltene Setup bietet zunächst also nicht viel, was zum Verweilen einlädt. Doch das, was fehlt, füllt schnell die eigene Ambition. Der Spieler strengt sich an, von den Passanten wahrgenommen zu werden: Mit intensiven Blicken, real fuchtelnden Armen, die im Digitalen gar nicht zu sehen sind, je nach Frustrationsgrad sogar mit verbalen Ausbrüchen. Bei einigen stellt sich schnell, bei manchen erst spät Resignation ein. Und plötzlich bleibt dann doch diese nette Frau oder dieser nette Mann stehen, grüßt und gibt vielleicht sogar ein paar Münzen. Epic Win!!! – Irgendeine Technik muss es also geben um nicht weiter übersehen zu werden. Spoiler alert: Es gibt sie nicht und auch kein finales Ziel oder einen Endgegner. Das Spiel ist ein Loop, die NPCs sind randomisiert und es ist nicht die eigene Leistung, wenn einmal ein Passant stehen bleibt. Spätestens mit dem Absetzen der Oculus ist klar, dass man im realen Leben meist selbst das ignorante Arschloch ist, das die Ausgrenzung jener, die am Boden sitzen, aktiv bestärkt und dass es eigentlich nicht viel bedarf, ein bisschen Würde herzustellen. Die Übersetzung in das eigene Alltagsverhalten? – Möglicherweise gar nicht so schwer.

Digitale Schule der Menschlichkeit
Schaffen VR-Experimente wie Outcasted oder Out of Exile: Daniel's Story nun so etwas wie begehbare Wahrheiten? Eröffnen sie Handlungsperspektiven, die aus dem digitalen Raum in die physische Realität hineinspielen und so als digitale Schule der Menschlichkeit unsere Gesellschaft positiv verändern? Oder wird die großangelegte Rekonstruktion historischer und tagespolitischer Events spätestens nach Abnutzung des Neuheitseffekts von VR nicht letztlich zu einer Art virtuellem Katastrophentourismus, nach dem wir im Huxley'schen Sinn einfach wieder unserem gewohnten Trott nachgehen?

Am Ende ist es vielleicht gerade das Unperfekte, das Empathie zulässt

Am Ende ist es entgegen unserem Streben nach möglichst vollkommener Illusion vielleicht gerade das Unperfekte, die Miniatur, die Immersion und deren bewusster Bruch, die Empathie zulässt und den VR-Usern zugleich die nötige Distanz bietet, um eine Haltung zu entwickeln und Handlungsspielräume für die Realität zu erkennen. Zugunsten wahrhafter, nämlich faktenbasierter Authentizität bedarf es dabei gerade wegen des ungewohnt freien Blicks einer kompromisslosen Transparenz hinsichtlich der Quellen und Motive der Macher.

Vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Lawine rückschrittlicher Ideen, die nicht zuletzt durch den massiven Feelings-over-Facts Trend befeuert werden, muss sich für Medienschaffende aller Disziplinen jedenfalls die Frage nach geeigneten und nachhaltigen Formen zur Vermittlung progressiver, weltoffener Botschaften stellen. Als Publikumsmagnet bietet VR sowohl formal-inhaltliche als auch ökonomisch vielversprechende Perspektiven, um neue Gestaltungsansprüche zu wagen. Für die Macher wird es eine Gratwanderung, denn damit eine neue digitale Schule der Menschlichkeit unter Einbezug von Virtual Reality Erfolg haben kann, müsste nicht nur das vordergründige Spielerlebnis gestaltet, sondern gleichermaßen auch die gekoppelten physischen und kognitiven Abläufe, Gefühls- und Verhaltensmuster im Designprozess überdacht werden.

Neben der flammenden Euphorie und auch Skepsis hinsichtlich der Möglichkeiten des noch jungen Mediums bleibt die grundsätzliche Frage, welcher medialen und psychologischen Tricks und Stunts es heutzutage bedarf, um Bürgern wie Entscheidern humanistisches Handeln als oberste Maxime im Hier und Jetzt nahezulegen. Virtual Reality wird sicher nicht die Welt retten. Das müssen wir, außerhalb der Schutzzone des virtuellen Raums, am Ende doch ganz real erledigen.

Dieser Text ist zuerst unter dem Titel „Die Menschlichkeitsmaschine” in der 11. Ausgabe des Videospiele-Bookazines WASD erschienen. Die ganze Ausgabe bekommt ihr hier.

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