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Tumblr verbannt Nacktheit und Sex – und das Netz verliert eine Alternative zum Porno-Mainstream

von Johnny Haeusler
Der Blog-Dienst Tumblr war über viele Jahre auch als Plattform für erotische bis pornografische Inhalte bekannt. Nun hat der Dienst ein Verbot von expliziten Inhalten für Erwachsene angekündigt – unser Kolumnist Johnny Haeusler findet das sehr falsch.

„The internet is for porn“ – Das Internet ist für Pornografie da. So heißt ein Song aus dem Musical „AvenueQ“ aus dem Jahr 2003. Und so lautet auch ein im Netz viel zitierter Satz, der natürlich nicht ganz richtig ist, dennoch etwas Wahrheit beinhaltet. Denn warum sollte das Internet anders sein als der Rest der Welt – in der Wissenschaftler davon ausgehen, dass die Darstellung von Menschen beim Geschlechtsverkehr bereits vor 7.200 Jahren stattgefunden hat – und zwar in der Region des heutigen Deutschlands.

Verlässliche Zahlen über den tatsächlichen Anteil von Pornografie an allen Internet-Inhalten gibt es kaum. Während konservative Gemüter von einem Drittel ausgehen, um sich darüber aufregen zu können, liegen andere Umfragen und Schätzungen bei 10-15 Prozent. Doch wie auch immer: Pornografie spielt eine Rolle in der Gesellschaft und so auch im Internet.

Erstaunlich ist dabei, dass so oft über Quantität, aber so selten über Qualität gesprochen wird. Während wir bei der Auswahl von Musik, Kleidung, Filmen, Serien und anderen Themen des Lebens endlose Debatten über detaillierte Unterschiede bei Geschmack, Stil und Umsetzung führen, scheint Pornografie einfach nur Pornografie zu sein. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt, und das ist im Fall der bekannteren Porn-Anbieter im Internet meistens eine Flut von reizüberflutender Hektik ohne jeden Anspruch, bei der Menschen, die man allzu oft eher bemitleidet als gerne anschaut, mit schmerzverzerrten Gesichtern emotionslosen Sex haben oder simulieren. Wenn überhaupt Gesichter zu sehen sind. Nach Echtheit, Leidenschaft, Spannung, Spaß oder gar ästhetischen Spielarten muss man lange suchen. Allein die Titel und Vorschaubilder der verfügbaren Videos lassen keinen Zweifel daran, dass die im wahrsten Sinne des Wortes zu befriedigende Masse der Pornografie-suchenden Menschen eben in erster Linie anspruchslose Männer sind, denen die Akteure so egal sind wie die Rechtschreibung, und denen die Darstellung von Sex anscheinend nicht brutal genug sein kann. Alle anderen können sich ja über die Suchfunktion bemühen, etwas nach ihrem Geschmack zu finden, wenn ihnen nicht schon auf der Startseite jede Lust auf Lust vergangen ist.

Tumblr war die Alternative zum Porno-Mainstream

Das ist der SEO-optimierte Pornografie-Mainstream im Netz, dessen Angebot sich skrupellos nach der Nachfrage der Masse richtet. Was die Sache nicht besser macht für das Ansehen der Masse. Doch glücklicherweise gibt es ja dank Internet auch alternative Pornografie-Angebote. Eines davon stellt nun zum 17. Dezember seine Dienste in dieser Hinsicht ein und heißt Tumblr.

Tumblr gehört derzeit der Yahoo-Mutterfirma Oath und ist – kurz beschrieben – eine Blog-Plattform mit vielen Funktionen, die an Twitter erinnern. Nutzerinnen legen einen Account an und können eigene Inhalte veröffentlichen und die von anderen kommentieren, „liken“ und/oder sie im eigenen Kanal re-posten. Um Fotos, Videos, Texte oder Links anderer User zu entdecken, „folgt“ man diesen, und so ergeben sich unzählige Mikro-Communities, die bevölkert sind von Content-Kuratorinnen. Auf Tumblr stellt man sich nach Geschmack seinen ganz eigenen Stream zusammen – ob man nun auf GIFs aus alten Filmen oder Retro-Games steht, oder eben auf eine bestimmte Art von erotischen oder pornografischen Bildern, Filmen, Texten, Sounds oder GIFs.

Nutzerinnen von Tumblr haben – bisher – die Möglichkeit, ihre Inhalte ggf. als „nicht jugendfrei“ zu kennzeichnen und sie so von der generellen Suche und für die User auszuschließen, die keinerlei Nacktheit oder Sex sehen möchten. Diese Möglichkeit wird es ab dem 17.12. nicht mehr geben, denn es wird keine so gearteten Inhalte mehr geben, Tumblr verbietet ab diesem Tag die Verbreitung der Darstellung von Nacktheit und Sex mit sehr wenigen Ausnahmen.

Tumblr kämpfte mit illegalen Inhalten

Das ist ein bisschen verständlich, aber schlecht. Verständlich ist es, da Tumblr anscheinend mit der Verbreitung von illegalen Inhalten zu kämpfen hatte. Zwar werden strafbare Inhalte und dokumentierte Verbrechen wie der Missbrauch von Kindern oder anderer Menschen meist schnell gemeldet (ich weigere mich an dieser Stelle von „Pornografie“ zu sprechen, da der Begriff normalisierend und verharmlosend wirkt und/oder eine Zustimmung der Opfer suggeriert) und können so verfolgt und hoffentlich geahndet werden. Es gibt keine verlässliche Aussage von Tumblr dazu, wie hoch der Anteil an illegalen Inhalten im Netzwerk tatsächlich war oder ist, und ich vermute, dass kriminelle Netzwerke eher an anderen Stellen aktiv sind.

Doch ich habe auch ein gewisses Verständnis dafür, dass eine offensichtliche inzwischen sehr kommerziell ausgerichtete Plattform wie Tumblr beschließt, den einfacheren Weg zu gehen und eben jede auch völlig legale Nacktheit oder sexuelle Darstellung zu verbieten. Das automatisierte Filtern, Kennzeichnen oder Löschen jeglicher Art von nackter Haut ist relativ leicht, und vermutlich geht Tumblr lieber das Risiko einer zu häufigen Löschung ein als Gefahr zu laufen, Kriminelle zu unterstützen.

Gut ist das aber aus verschiedenen Gründen nicht. Zum einen ist es eine Kapitulation des Legalen vor dem Illegalen. Wenn es keine Wege für eine große Plattform gibt, illegale Inhalte schnell zu löschen und die Verursachenden anzuzeigen, dann kann man gleich alles ganz sein lassen. Denn es ist zu vermuten, dass sich Menschen, die eine Plattform missbrauchen wollen, auch von AGB nicht abschrecken lassen. Selbstverständlich gibt es neben der Herausforderung durch kriminelle Handlungen auch noch weitere Themen wie den Jugendschutz, um die sich Tumblr und andere kümmern müssen, doch das gehört nun mal zum Betrieb einer solchen Plattform dazu, die von größtmöglichen Freiheiten für die Nutzerinnen lebt.

Verbot könnte das Ende von Tumblr bedeuten

Zudem ist das Verbot bestimmter Inhalte für Erwachsene ein Verlust, der auf Dauer sogar das komplette Ende von Tumblr bedeuten kann. Tumblr wohnte bisher eine Freiheit bei, die auch für all diejenigen wichtig war, die eben mit dem oben beschriebenen Mainstream in Sachen sexueller Darstellungen nichts zu tun haben wollen. Eine umfangreiche Analyse aus dem Jahr 2017 schätzt, dass die Nutzerinnen pornografischer Inhalte auf Tumblr in der Altersklasse 20 bis 25 zu 72 Prozent Frauen sind, die sich ihren Stream nach ihrem Geschmack zusammenstellen. Selbstverständlich gibt es auch Hardcore-Pornografie auf Tumblr und wer weiß schon, wer welchen Geschmack hat, doch nirgendwo anders scheint es so leicht zu sein, nicht genehme Dinge eben auch nicht sehen zu müssen. Das Konsumieren der Darstellung von Erotik oder Sex in allen Facetten und Arten ist auf Tumblr einfach sehr leicht zu individualisieren, was natürlich nicht nur für Frauen gilt, sondern für alle Nutzerinnen der Plattform.

Ganz besonders betroffen vom kommenden Einschnitt bei Tumblr scheinen mir dabei eben die jüngeren Erwachsenen zu sein, die Tumblr nicht selten neben ihren visuellen sexuellen Gelüsten auch für andere Lebensbereiche nutzen und mehrere Tumblr-Accounts betreiben – von der Fanpage für eine Band bis zu den eigenen zur Schau gestellten Illustrationskünsten gibt es eben doch noch das ein oder andere Thema neben Sex, für das sich Menschen interessieren. Tumblr bot die leicht zu bedienende Community-Plattform für fast alles, und ob die Plattform ihre Beliebtheit behalten wird, wenn Freiheiten eingeschränkt werden, bleibt abzuwarten.

Und dann gibt es auch noch die Meta-Ebene bei der generellen Analyse von Pornografie im Internet, für die Tumblr selbstverständlich nicht die alleinige Verantwortung übernehmen kann – bei der die Plattform bisher aber eine wichtige Rolle gespielt hat. Wenn es keinerlei gut verbreitete, einfach zu bedienende und nicht männlich dominierte Community-Services mehr gibt, die auch Inhalte für Erwachsene zulassen, dann findet Erotik und Pornografie nur noch bei den kompromisslos kommerziell geleiteten Anbietern statt, die nach der Maxime „Härter, schneller, lauter!“ agieren. Für junge Menschen gibt es kein „Herantasten“ mehr, die volle Dröhnung Hardcore ist kaum zu vermeiden. Auch für ältere Erwachsene wird es schwerer, nach ihrem individuellen Geschmack zu filtern und Online-Inhalte sexueller Art so zu konsumieren, wie sie es möchten.

Wie wir aber Sexualität und Sex betrachten, wie wir damit umgehen, wie wir uns selbst gegenüber anderen verhalten, das wird auch und ganz besonders bei jüngeren Menschen vom Internet geprägt. Wenn es dabei keine Nuancen mehr gibt, keine Zwischentöne, keine Alternativen, keine Individualität, keine Zärtlichkeit, keine echte Leidenschaft, kein Raum für Lachen, Spaß und Lust über den tatsächlichen Akt hinaus – dann ist das ein großer Verlust.

Die Zentralisierung von Inhalten ist eine schlechte Idee

Die erotische Kunst, ungewöhnliche Fotografie, der oft vorhandene Witz bei Tumblr-üblichen GIFs, die stellenweise geradezu liebevolle Kuration individueller Tumblr-Streams, die den Bildfluss unterbrechenden Text-Postings und Geschichten einzelner Nutzerinnen, die Vielfalt an Formaten bis zu reinen Audio-Sex-Blogs und auch das zufällige Entdecken anderer spannender Inhalte jenseits des Themas Sex bei Menschen, deren Interessen über das Offensichtliche hinausgehen, vor allem aber die hohe Individualisierbarkeit der Community, in der man sich bewegen mag … alles das wird fehlen, wenn Tumblr explizierte Inhalte für Erwachsene verbietet. Ganz sicher wird das Internet neue Angebote schaffen und natürlich gibt es auch schon andere Möglichkeiten, doch bis diese eine ähnliche Verbreitung erreichen wie Tumblr, das ja kein ausschließliches Angebot für sexuelle Inhalte war, werden einige Jahre ins Land gehen.

Letzten Endes zeigt die Entwicklung erneut, dass die Zentralisierung von Inhalten unter einem Dach, das hin und her verkauft werden kann und sich mehr für die Rendite der Inhaberinnen als für die Nutzerinnen interessiert, immer noch eine schlechte Idee ist. Weshalb sich einige Tumblr-User nun auch Mastodon zuwenden wollen. Dass das dezentral organisierte Netzwerk bei den Vorteilen, der Attraktivität und der Einfachheit einer über Jahre gewachsenen Plattform wie Tumblr mithalten kann, bezweifle ich derzeit noch. Doch auch im Internet braucht es halt manchmal ein bisschen Geduld. Für den Moment heißt es erstmal: Rest in peace, Tumblr porn.

Johnny Haeusler

Johnny Haeusler

von GQ

Hinweis: In einer früheren Version des Artikels hieß es, dass „pornografische Inhalte auf Tumblr zu 72 Prozent von jungen Frauen zwischen 20 und 25 Jahren genutzt werden“. Hier ist uns leider ein Fehler unterlaufen. Korrekt ist, dass „die Nutzerinnen pornografischer Inhalte auf Tumblr in der Altersklasse 20 bis 25 zu 72 Prozent Frauen sind“. Wir haben die Stelle entsprechend korrigiert.

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