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Tod dem Tod: Der Web.de-Gründer und seine Suche nach dem ewigen Leben

von Dirk Peitz
Kann die Wissenschaft den Tod besiegen? Michael Greve, der einst Web.de gründete, will dabei helfen – und selbst am liebsten für immer leben. Damit ist er nicht allein.

Da sitzt Michael Greve Anfang August abends auf einer Terrasse in San Diego zwischen Gleichgesinnten, von denen die meisten bis vor Kurzem wohl nicht mal seinen Namen kannten. Den des Mannes aus Deutschland, der fast alles dafür tut, damit er und andere so lange wie möglich leben und gesund bleiben. Am liebsten für immer.

Das Leben ist Greve viel wert, man kann sogar beziffern wie viel: zehn Millionen Dollar. So viel steckt er in den kommenden fünf Jahren in die Forschung gegen das Altern und Krankwerden. Die Hälfte des Geldes spendet Greve der SENS Research Foundation, die in Moun­tain View ihren Sitz hat, ein paar Kilometer von Google entfernt; die andere Hälfte investiert Greve als seed funding in zwei amerikanische Bio­tech-Startups, Oisin und Ichor, die Forschungsansätze der Stiftung in Therapien verwandeln möchten. Oisin will eine zelluläre Therapie entwickeln, um verbrauchte, sogenannte seneszente Zellen aus dem Körper zu schaffen, die sich über ein Menschenleben hinweg ansammeln und die Bildung neuer Zellen behindern; Ichor arbeitet an einer molekularen Reparaturtherapie, die altersbedingte Makuladegeneration heilt, die häufigste Ursache von Erblinden bei Senioren.

Der britische Biogerontologe Aubrey de Grey, Mitgründer von SENS, sitzt mit Greve am Tisch in San Diego, außerdem ist da William Faloon von der Life Extension Foundation, deren kommerzieller Arm Nahrungsergänzungsmittel vertreibt, und José Cordeiro von der Singularity University, dem Think-Tank des Futurologen und Google-Vorstandes Ray Kurzweil. Wegen seinen zehn Millionen Dollar letztlich befindet sich Greve nun an diesem schönen Abend in der Runde dieser Menschen, die ihr Berufsleben der Abschaffung des Todes gewidmet haben. Dafür brauchen sie Geld. Von der öffentlichen Hand, von Universitäten oder Forschungseinrichtungen kriegen sie es nicht.

Bald ist dank Gentherapien, Nanorobotern, Zellreparaturen das Ende des Endes da – der Tod stirbt aus

In San Diego sind alle wegen des ersten RAAD Fest, das Kürzel steht für Revolution Against Aging and Death: 900 Anhänger der Idee der life extension, der Verlängerung der gesunden Lebensspanne, sind aus über 30 Ländern in das Town and Country Resort gekommen, um vier Tage lang Vorträgen zu lauschen. Bald ist es so weit, sagen fast alle auf der Bühne des Konferenzsaals. Bald ist dank Gentherapien, Nanorobotern, Zellreparaturtechnologien das Ende des Endes da. Der Tod stirbt aus. Die meisten der Zuhörer im Saal sind alt, sie müssen das, was man einstweilen noch bio­logische Uhr nennt, laut ticken hören. Zur Beruhigung gibt es in einem Nebentrakt ein paar Verkaufsstände mit allerdings eher dubiosen Sachen: Lebensverlängerungsserum, Superwasser, Tantra-DVDs. Tand halt, Merchandise. Der Mensch als solcher wollte ja noch nie sterben, in früheren Jahrhunderten trank er deswegen auch schon mal Quecksilber. Das Angebot in San Diego ist völlig ungiftig. Aber an die Wirkung muss man schon glauben.

Die zehn Leute, die hier nun im Kreis auf der Terrasse des Town and Country Resort sitzen, versuchen wirklich ernsthaft, etwas gegen den Tod zu tun. Oder zumindest seinen Zeitpunkt weiter nach hinten zu verschieben. Doch niemand von ihnen arbeitet in einer etablierten Forschungseinrichtung. Sie sind eher Theoretiker des Alterns wie de Grey, ein Star der Life-Extension-Community, oder Praktiker des Sichdagegenstemmens wie Faloon. In der Wissenschaftsgemeinde sind ihre Ideen bestenfalls umstritten. Sie sind Außenseiter. Und doch am rechten Platz hier, denn die kalifornischste aller Fragen stellt sich beim RAAD Fest: Werden Außenseiter finden, was Universitäten und Pharmaindustrie bisher nicht gefunden haben oder gar nicht suchen – das ewige Leben? Werden die Methoden des Silicon Valley, das In­vestieren in verrückt erscheinende Ideen, die Vergänglichkeit besiegen? Funktioniert disruption auch gegen den Tod? Oder ist und bleibt das alles Science-Fiction?

Eine eher philosophische Frage wäre, ob der Mensch den Tod überhaupt überwinden können soll­te, die Natur überlisten, letztlich Gott die Arbeitsgrundlage entziehen. Wäre Unsterblichkeit wirklich gut für uns Menschen? Martin Heidegger etwa glaubte, die Begrenztheit des Lebens erst definiere es und gebe ihm eine Richtung. Er nannte es „Dasein zum Tode“. Doch Heidegger war einer der größten Philosophen des 20., nicht des 21. Jahrhunderts. Er starb 1976. Da entstand das Silicon Valley gerade.

Michael Greve wirkt an diesem Abend in San Diego gelöst. Ihn umgibt sonst die Aura eines Asketen, er hat etwas von einem Mönch. Das hat auch mit seinem Lebensstil zu tun und einer Wandlung, die hinter ihm liegt, gleichsam vom Saulus zum Paulus. Der 53-Jährige, der 1995 zusammen mit seinem Bruder Matthias den E-Mail-Dienst Web.de gegründet hat und später Portale wie Lastminute.de und Flug.de, war um die Jahrtausendwende einer dieser New-Economy-Typen, die sich von Lieferpizza, Red Bull und Zigaretten ernährten. Greve hatte 20 Kilo Übergewicht und 700 Mitarbeiter, heute ist er schlank und beschäftigt noch vier Leute. Die Webseiten sind längst alle verkauft. Greve hat sich von allem getrennt, was Ballast bedeuten könnte.

Er hält sich an die Paleo-Diät, die Nahrungsmittel umfasst, die einst auch Steinzeitmenschen zur Verfügung hatten. Fleisch, Fisch, Meeresfrüchte, Gemüse, Obst, Eier und Nüsse sind erlaubt; Getreide, Hülsenfrüchte, Zucker nicht. Pizza, Pasta, Brot, Cola, Alkohol, Milchprodukte – alles gestrichen. Greve schluckt dreimal am Tag zusätzlich Nahrungsergänzungsmittel, treibt Sport, schläft viel und lässt sich regelmäßig medizinisch durchchecken. Er ist streng zu sich selbst.

Seine Wandlung begann vor knapp anderthalb Jahrzehnten, als um ihn herum Menschen, die ihm lieb waren, zu leiden begannen und starben: einer der besten Freunde an Krebs, ebenso die Mutter und eine Tante; die Großmutter bekam Alzheimer. In Greve reifte der Entschluss, sein Leben radikal zu ändern. Altes Klischee, stimmt aber ja manchmal: Die stärksten Raucher werden die härtesten Nichtraucher.

Aubrey de Grey, leicht zu erkennen an seinem endlos langen Bart, ist genauso alt wie sein neuer Finanzier Greve. Und er will wie der, dass das Altern an sich aus der Welt geschafft wird. Ansonsten scheinen die beiden Männer nichts gemein zu haben. De Grey trinkt zum Beispiel ganz gern Alkohol. In dem Dokumentarfilm The Immortals, in dem er einer der Protagonisten ist, sagt ein ehemaliger Uni-Kollege, er kenne sonst niemanden, der auch nach ein paar Bieren noch Wissenschaftsdiskussionen führen könne.

Aubrey de Grey will den altern­den Menschen auf zellulärer und molekularer Ebene reparieren und ihm so ein viel längeres Leben schenken, als wir es heute für möglich halten. De Grey hat einst Informatik studiert, bildete sich danach aber gleichsam im Heimstudium zum theoretischen Biogerontologen weiter und schrieb ein Buch über den Alterungsprozess, The Mitochondrial Free Radical Theory Of Aging. Seine Alma Mater, die Universität Cambridge, verlieh ihm dafür im Jahr 2000 die Doktorwürde in Biologie, obwohl de Grey keine Prüfungen in dem Fach abgelegt hatte. Im Jahr 2009 gründete er die SENS Foundation mit (die später erst das „Research“ im Namen dazubekam), die den menschlichen Alterungsprozess gemäß seiner Theorien erforscht.

Er steckt all seine Zeit in die Verlängerung der Zeit, die ihm bleibt auf Erden

Etablierte Gerontologen halten die für bestenfalls nicht belegt. Wie bitter der Streit zwischen den Seiten mitunter geführt wird, zeigte im Jahr 2005 ein Brief des amerikanischen Alternswissenschaftlers Richard Miller an de Grey, den Miller indes an die MIT Technology Review schickte und der mit vernichtender Ironie begann: „Lieber Aubrey, ich habe dich gestern im Fernsehen gesehen, und nachdem nun also das Problem des Alterns gelöst ist, hast du vielleicht Zeit, mir bei der Lösung einer ähnlichen Ingenieursherausforderung zu helfen, die seit viel zu langer Zeit bereits von der ultrakonservativen Mainstream-Wissenschaftsgemeinde ignoriert wird: fliegende Schweine zu produzieren.“

Greve sei jetzt die Nummer 2, sagt de Grey in San Diego. Er meint: was die Höhe der Summe angeht, die jemand SENS gespendet hat. Nummer 1 ist weiter de Grey selbst, der einen Großteil seines Vermögens der Stiftung überschrieben hat, 13 Millionen Dollar aus dem, was er von seiner Mutter geerbt hat. Auf Platz 3 verdrängt ist nunmehr Peter Thiel, PayPal-Mitgründer und der wohl schillerndste Venture-Capital-Investor des Silicon Valley.

Gäbe es in Deutschland einen ähnlichen Kult um Startup-Unternehmer wie in den USA, wäre der heutige VC-Investor Michael Greve berühmt wie Thiel. Greve macht allerdings nicht den Eindruck, als sehne er sich nach Öffentlichkeit. Nur die Idee der life extension, die will er populär machen. Deshalb hat auch er vor knapp anderthalb Jahren eine Stiftung gegründet und sie Forever Healthy genannt. Auf deren Website veröffentlicht Greve Forschungsergebnisse, die er für wesentlich hält im Kampf gegen das Altern. Er will Interessierten übersichtlich und kostenlos das Wissen zur Verfügung stellen, das er sich mühsam im Selbststudium erworben hat. Greve glaubt an die Wissenschaft, auch wenn er selbst einst nach vier Semestern sein Elektrotechnikstudium abgebrochen hat, um Unternehmer zu werden. Aus dem Geschäftsleben hat sich Greve mittlerweile weitgehend zurückgezogen. Die VC-Aktivitäten seiner Firma Kizoo regeln größtenteils Mitarbeiter. Greve steckt all seine Zeit in die Verlängerung der Zeit, die ihm bleibt auf Erden.

Als die Runde auf der Terrasse des Town and Country Resort sich erhebt, um zum Dinner zu gehen, verabschiedet sich Greve. Beim RAAD Fest werden keine Gerichte serviert, die seinen Essgewohnhei­ten entsprechen. Die anderen am Tisch nicken anerkennend. Wie viele Leute die Life-Extension-Community in Deutschland umfasse, fragt einer noch. Greve antwortet: nicht viele. Er sei vor einer Weile von Karlsruhe nach Berlin gezogen auch in der Hoffnung, dass dort Menschen seien, die sich für Lebensverlängerung interessieren. Diese Erwartung habe sich nicht bestätigt.

Ziemlich genau ein Jahr zuvor, im August 2015, sitzt Greve nachmittags in der Rooftop-Bar des Soho House in Berlin-Mitte vor einer Tasse Earl Grey mit Mandelmilch, während draußen rund um den Pool Mittzwanziger bis Enddreißiger herumhängen. Wenn es Menschen gibt, die so aussehen, als würde ihnen das ewige Leben gut stehen, dann die Coolen und Schönen da draußen auf der Dachterrasse.

Greve ist eine halbe bis ganze Generation älter als sie und entspricht keinem der üblichen Berlin-Klischees. Er trägt Klamotten, die man überall sonst normal nennen würde, schon gut, aber definitiv nicht hip. Greves Frisur ist praktisch. Wie er so dasitzt, denkt man: Dieser Mann hat für den äußeren Schein keine Muße. Dass er auch deshalb wie ein Fremdkörper wirkt zwischen den anderen Mitgliedern des Soho House, diesem exklusiven Club, über den so viele falsche Vorurteile, aber ebenso viele hübsche Übertreibungen kursieren, scheint ihm nichts auszumachen. Er nutzt den Laden als Büro, Kantine, Gym. Andere Mitglieder betrachten das Soho House eher als Laufsteg und Anbahnungsladen.

Greve hält dort auch gelegentlich Vorträge. Am Abend zuvor hat er in einem Barzimmer zusammen mit Mathias Brandt, einem der wenigen Life-Extension-Sympathisanten in Berlin, eine Präsentation gehalten für Mitglieder. Brandt, Ende 30, trainiert, gebräunt, lässig, wirkt auf den ersten Blick wie einer der Soho-Typen vom Sonnendeck.

Gut zwei Dutzend Menschen waren gekommen zum Talk von Greve und Brandt, in dem sie Life-Ex­tension-Strategien vorstellten, mit denen man sich gegen die Krankheiten des Alters wappnen soll, Krebs, Diabetes, Alzheimer, Parkinson, Demenz, Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Als Greve und Brandt fertig waren mit ihrer Präsenta­tion, meldete sich bei der Runde der Publikumsfragen eine Frau zu Wort, vielleicht Mitte 30, sehr hübsch, ganz in Schwarz gehüllt. Sie hatte eher Meinungen als Fragen und hielt erst mal einen Monolog (auf dem Mitschnitt klingt die Frau nicht ganz so aufgeregt wie in der leicht gekürzten Abschrift nun).

„Mir erscheint das alles ein Problem der Ersten Welt zu sein. Das ist ein Programm für reiche Leute, die sich diese Untersuchungen und Supplements leisten können. Aber was passiert, wenn man es nicht mehr kann? Fällt man dann in drei Jahren tot um? Oder kriegt Alz­heimer oder Parkinson? Warum denken Leute, dass sie so wichtig sind, dass sie besonders alt werden sollten? Warum lebt man nicht im Augenblick und akzeptiert das Leben so, wie es ist? Manche Menschen können das offenbar nicht. Der Tod ist ein Teil des Lebens. Was soll das eigentlich, sich den ganzen Tag selbst zu beobachten? Und seinen Kot analysieren zu lassen, das Blut, die genetische Disposition? Warum nutzt man die Zeit nicht dazu, einfach zu leben, statt vor dem Altern wegzurennen? Abermillionen Menschen sind vor uns gestorben, und eines Tages werden wir es auch tun. Natürlich bin ich dafür, dass die Technologie weiterentwickelt wird, auch in der Medizin. Aber nehmen wir uns nicht alle zu wichtig? Als Menschen in diesem System namens Erde, das auch ohne uns auskommt? Woher nehmen wir uns das Recht, 200 Jahre alt werden zu wollen?“

„Du möchtest also an Krebs sterben, auch um für jemand anderen Platz zu machen?“, entgegnete Greve. „Denn das sagst du letztlich ja: Krebs, Alzheimer und all die altersbedingten Krankheiten haben die Funktion, dass alte Menschen jungen Platz machen.“ Frau: „Ich persönlich?“ Greve: „Du persönlich.“ Frau: „Ich halte es für wichtiger, in unserer Gesellschaft selbstbestimmten Tod zu erlauben. Damit Menschen wie meine Großmutter nicht jahrelang in Seniorenheimen vor sich hin dämmern müssen, bis sie erlöst werden.“ Greve: „Ich will keinen Krebs bekommen. Und kein Alzheimer.“

Wie viel Prozent des Körpers schon im Plus ist auf dem Weg zu einem langen Leben, wird man auf runden Skalen ablesen können

Brokkoli, Karotten, Rosenkohl, Spinat, Avocado, Minze, Erdbeeren, Himbeeren, Banane, Multivita­minsaft. Alles im Glasbehälter des Smoothie-Mixers. Mathias Brandt stellt auf on, zwei Minuten später ist das Frühstück fertig. „Wenn man mal anfängt, sich nicht mehr danach zu richten, ob ein Nahrungsmittel gut schmeckt oder gut aussieht oder bequem zu kriegen ist“, sagt er, „kommt man drauf, was wesentlich ist: der micronutrient content.“ Der Smoothie ist braun und schmeckt, nun ja, interessant. Aber es geht ja um den Inhalt.

Es ist ein fabelhafter Samstagmorgen im Juli, Brandt steht in der offenen Küche seines lichten Dachgeschosslofts in Kreuzberg. Auf den langen Esstisch hat er sein Laptop gestellt, da ist die fast fertig gebaute App drauf, die er in den vergangenen Monaten allein entworfen hat. Mit ihr soll man mal den eigenen Gesundheitszustand überprüfen können. Wie viel Prozent des Körpers schon im Plus ist auf dem Weg zu einem langen Leben, wird man auf runden Skalen ablesen können. Die App, die noch keinen Namen und keinen Veröffentlichungstermin hat, soll einem dabei helfen, sich selbst ganz ungeschönt zu betrachten. Sich dazu zu überwinden, dafür braucht es Mut, und ob besonders viele Menschen ihn besitzen, ist fraglich. Die meisten gehen doch erst zum Arzt, wenn was wehtut. Und irgendwann kann der Arzt dann nicht mehr helfen.

Brandt ist kein Mediziner, er ist studierter Ingenieur, hat dann aber was mit Online gemacht. Im Moment hat er viel Zeit zum Nachdenken, er braucht gerade nicht zu arbeiten. „Eine Kette von glücklichen Umständen“ habe dazu geführt, dass er allein seinen Interessen folgen könne. Zu denen gehört neben der App noch ein geplanter lokaler Fahrradvertrieb eines selbst hergestellten Wassers. Außerdem macht Brandt Musik. „Aber die meiste Zeit des Tages widme ich meinem eigenen Wohlbefinden“, sagt er.

Es wirkt so, als lebe er bereits in dem Ennui, als den sich manche ein Leben vorstellen, das befreit ist von der größten Angst, der vorm Tod. Brandt hat zwar nie wie Greve ungesund gelebt, er hat also nicht umkehren müssen. Er habe im Gegensatz zu Greve auch kein Problem damit, irgendwann zu sterben, sagt Brandt. Aber wie jeder andere Mensch auch braucht er einen Sinn im Leben. Für Brandt scheint der nicht so sehr im Hier und Jetzt zu liegen. Sondern in der Zukunft – als Gedankengebäude des Möglichen.

Vor drei Jahren war Brandt eine Weile in Los Angeles, dort hat er nach einer neuen Inspiration für sich gesucht. Er hat dann den kalifornischen Zukunftsoptimismus gefunden und Fantastic Voyage von Ray Kurzweil und Terry Grossman, das Buch, das so etwas wie das Manifest der life extension geworden ist. Die Autoren liefern darin das theoretische und praktische Gerüst fürs ewige Leben, indem sie die Denke und Mechanismen der Computerindustrie auf die Forschung zum Altern übertragen. So wie mit jeder Rechnergeneration die Prozessoren exponentiell schneller und die Speicherkapazitäten exponentiell größer werden, so werde auch das Wissen zur Biologie des menschlichen Körpers und die Technologie zu seiner Erhaltung nicht linear, sondern exponentiell wachsen. Bis der Tod Vergangenheit sein wird. Wir müssen nur lange genug leben, um es zu erleben.

Er könne überhaupt nicht verstehen, sagt Brandt, warum Leute sich dagegen sperrten, den Körper so wie Kurzweil zu begreifen, als Maschine. „Wir Menschen sind bio­chemische Systeme“, sagt Brandt. „Und es ist wunderbar, dass wir diese Systeme immer besser verstehen. Wir stehen jetzt an dem Punkt, wo Forscher, technisch ausgedrückt, das reverse engineering des menschlichen Organismus als softwaregesteuertes System ans Ende treiben. Wobei die Software quasi unsere DNA ist.“

Woran erinert sich ein Hirn, das 1000 Jahre alt ist? Die Ewigkeit könnte ein ziemlicher Hirnfick werden

Brandt greift sich den halb­vollen Smoothie-Behälter und geht voran zu der Treppe, die sich mitten im Raum erhebt. Sie führt hinauf auf einen paradiesischen Dachgarten, es gibt Grasflächen mit kleinen Bäumchen, dazwischen führen Stege zu Holzplateaus, auf denen Sitzmöbel verteilt sind. Der Weitblick über Berlin ist erhaben und endlos an diesem Morgen. „Da, wo ich herkomme“, sagt Brandt und meint Bayern, „hatten die Leute keine Angst vor der Zukunft. Da gab es eine grundsätzliche Ruhe und Stabilität. Mir aber macht Altersarmut und Kinderarmut schon Angst. Und auch die Frage, was aus der deutschen Wirtschaft in den nächsten 20 Jahren wird.“ Je länger Brandt über das spricht, was kommen könnte, desto mehr verdüstert es sich. Kalifornien ist eben weit weg von Kreuzberg. Und die Zukunft ungewiss.

Ray Kurzweil fährt langsam auf die Bühne des RAAD Fest, er ist der keynote speaker des Festivals, doch körperlich anwesend ist er nicht. Kurzweil hat einen Roboter geschickt, wie ihn auch Edward Snowden benutzt, um von seinem russischen Exil aus überall auf der Welt auftreten zu können: zwei Räder, daran zwei Stangen, zwischen denen oben ein Monitor montiert ist, auf dem ein Live-Kamerabild den Kopf des Besitzers zeigt, den talking head. Für Kurzweil ist das Ding einfach bequem, er musste nicht extra aus Nordkalifornien anreisen. Kurzweil spricht nun über die vier Brücken, die er vor uns liegen sieht zum Erreichen einer radical life extension. Die erste: was wir heute schon alles tun können, Ernährung, Sport, Lebensweise. Die zweite: die Biotechnologien, die gerade entwickelt werden. Die dritte: die Nanorobotik, die Bots liefern wird, die unsere Körper durch­strömen und von innen gesund halten werden. Die vierte, noch ferne: der Moment, in dem biologische und synthetische Hirne miteinander verschaltet werden und der Mensch, das heißt sein Bewusstsein, mit der künstlichen Intelligenz in der Cloud verschmilzt; das wird drahtlos geschehen, Nano­roboter in unserer Großhirnrinde werden sich gleichsam per WLAN ins Superbewusstsein einwählen können, wo auch das Backup unseres Bewusstseins gespeichert sein wird. Kurzweil kann das Erreichen der einzelnen Brücken sogar datieren, bei Nummer 2 und 3 etwa werde sich Ende der 20er-, Anfang der 30er-Jahre viel tun. Das ist eine schlechte Nachricht für die Alten beim RAAD Fest. Sie werden noch eine ganze Weile durchhalten müssen.

Ob die Unsterblichkeit auch wirklich eine körperliche sein wird, da bleibt Kurzweil vage. Fleisch und Blut wären für sein Szenario theoretisch nicht mehr nötig. Ein Backup-Brain könnte ja sogar in so einem Roboter wohnen, wie Kurzweil und Snowden einen haben. Brutal gesagt: Die Ewigkeit könnte ein ziemlicher Hirnfick werden. Aber falls der Körper doch erhalten werden könnte, wie würde dann ein tausendjähriges biologisches Menschenhirn zum Beispiel Erinnerungen prozessieren?

Das, sagt Aubrey de Grey, „ist eine dumme Frage. Und ein Beispiel für eine ganze Klasse von dummen Fragen, die sich mit Dingen beschäftigen, die wir nicht vorhersagen können. Deswegen sollten wir uns nicht damit beschäftigen.“

Wie werden unsterbliche Menschen leben, was werden ihre Jobs sein, wie viele Karrieren hintereinander werden sie haben; wie oft werden sich Menschen verlieben, wie lange werden Beziehungen dauern; was werden sie überhaupt denken, meinen, glauben, fühlen; wie werden Gesellschaften voller Unsterblicher politisch, wirtschaftlich, sozial organisiert sein; wird es mehr Kriege geben oder keine mehr, weil Krieg eine der letzten Todesursachen sein wird neben dummen Zufällen wie Treppenstürzen; und wird alles hinfällig sein, was Menschen bisher gedacht und gemacht haben in dem Wissen, dass das Leben ein Ende hat? Lauter Fragen, bei deren Beantwortung man spekulieren müsste. Science-Fiction eben.

„Für mich ist Science-Fiction ein Riesenproblem“, sagt de Grey nachmittags in San Diego, er sitzt im Schatten einer lieblichen Laube, die wie ein kalifornischer Kitschtraum von Arkadien aussieht. „Die Mehrzahl der Science-Fiction-Erzählungen, die sich mit einer Welt nach dem Ende des Alterns beschäftigen, sind Dystopien. Die verkaufen sich gut, weil sich die Menschen keine falschen Hoffnungen machen wollen. Die lassen sich lieber ihre Vorstellungen von einem schlechten langen Leben bestätigen und fühlen sich bestärkt in ihrer Ablehnung meiner Arbeit. I mean … Fuck it!“

Er will nichts hinterlassen, er gibt sein Vermögen zu Lebzeiten dafür aus, dass er gar nicht erst abtreten muss

Ablehnung kennt Aubrey de Grey gut, und was die des Wissenschaftsapparats angeht, so erklärt er sich die fehlende Unterstützung für Forschung in seinem Sinne vor allem mit den herrschenden Regeln der Fördergeldvergabe. „Wissenschaftler muss man nicht dazu überreden, das Ungewisse zu erforschen, das wollen sie eh“, sagt er. „Sie wissen aber, dass sie dafür aus traditionellen Fördertöpfen keine Gelder bekommen. Denn da konkurrieren sie mit anderen, die weniger Ambitioniertes tun wollen. Wenn man mit ungewissem Ausgang forschen will – high risk, high reward sci­ence –, trifft man auf eine Barriere, weil die Forschungsgelder aus Quellen kommen, die durch peer-review kontrolliert werden. Man konkurriert mit Kollegen, die schneller Ergebnisse produzieren können, auch wenn die weniger beeindruckend sein werden. Doch das ist, was Leute wollen, die einem Geld geben: Sie wollen, dass es so aussieht, als sei ihr Geld gut angelegt worden. Scheitern sieht nicht gut aus.“

Als er sich noch in Academia bewegte als junger Forscher, sagt de Grey, „stand ich faktisch außerhalb des Systems, weil ich nicht viel Geld brauchte, ich machte ja keine Experimente“. Darum habe er am System vorbei arbeiten können. Das Geld, das er heute braucht, um es anderen zu geben, die damit forschen, bekommt er von Spendern und Investoren. Michael Greve ist beides. „Michael hat mich vor einer Weile kontaktiert mit seinem Angebot. Wir haben ihm verschiedene Projekte vorgestellt, er brachte eigene Vorstellungen ein, dann haben wir uns geeinigt“, sagt de Grey.

Greve hat der Ingenieursansatz von SENS überzeugt. Andere Wohlhabende stecken ihr Vermögen in Kunstsammlungen oder vermachen Opernhäusern ihr Geld, um in Erin­nerung zu bleiben über ihren Tod hinaus. Michael Greve sagt, das verstehe er nicht. Er will nichts hinterlassen. Er gibt sein Vermögen zu Lebzeiten dafür aus, dass er gar nicht erst abtreten muss. Michael Greve hat seinen Einsatz gemacht. Ob er auf die richtigen Ideen setzt und womöglich mehr herausbekommt als nur wirksame Therapien, nämlich einen return on investment von den Startups, wird sich zeigen. Seine Wette ist eine aufs Leben. Selbst wenn er sie verliert, hat er es wenigstens versucht.

Nein, sagt Tom Skalak, die Mauer der gegenseitigen Ablehnung zwischen traditioneller Forschung und der der Life-Extension-Community sei in den vergangenen Jahren nicht abgebaut worden. Skalak ist Chef der neuen Paul G. Allen Frontiers Group, die im März offiziell vorgestellt wurde. Ihr Namensgeber, der Microsoft-Mitgründer Paul Allen, hat mit der Frontiers Group bereits das vierte Wissenschaftsinstitut ins Leben gerufen. So wie die für Hirnforschung, künstliche Intelligenz und Zellkunde hat Allen auch die Frontiers Group mit einem Budget von 100 Millionen Dollar ausgestattet. Sie soll nach Allens Worten Biosci­ence-Forschung mit „Out-of-the-box-Ansätzen am absoluten Rand unseres Wissens“ unterstützen. Im Grunde also das, was de Grey high risk, high reward science nennt.

Die Frontiers Group fördert jedoch ausschließlich Wissenschaftler, die an Eliteuniversitäten und etablierten Spitzenforschungseinrichtungen arbeiten. Paul Allen, der zu den Gründungsvätern der heutigen Softwareindustrie gehört, glaubt offenkundig nicht an Disruption von außen. Die Revolutionen, die die Frontiers Group auch in der Alternswissenschaft anstoßen will, sollen aus dem alten System Universität heraus geschehen.

Der Mensch ist, auch als reiner Organismus, womöglich zu kompliziert, um ihn retten zu können

Skalak sagt, ein Großteil der Vermögen, die in den vergangenen Jahren im Silicon Valley gemacht wurden mit Software, Social Media, Smartphones würden nun eben in die Erforschung der Biologie des Menschen und seines Alterns inves­tiert. „Es mag sein, dass das mit dem Ziel geschieht, so disruptive zu wirken, wie die Technologien des Silicon Valley auf die Kommunikation der Menschen gewirkt haben.“ Disruption aber sei eine Businessstrategie und ihr Ziel die Steigerung der Effizienz in bestehenden Branchen. „Doch Effizienzsteigerungen helfen einem beim Auffinden neuer Informationen und der Erfindung der Zukunft nicht weiter. Da ist Grundlagenforschung nötig.“

Nein, sagt Skalak erneut: „Wir werden die Unsterblichkeit in der näheren Zukunft nicht hacken. Doch die Chancen stehen nicht schlecht, dass wir in den nächsten zehn, 20 Jahren die gesunde Lebensspanne von Menschen verlängern können, indem wir mehr über Stammzellen und das Immunsystem herausfinden und darüber, wie wir den Entwicklungsverlauf von Zellen kontrollieren können.“ Mehr Hoffnungen möchte Tom Skalak, der Professor für Biomedical Engineering ist an der University of Virginia, uns nicht machen. Der Mensch ist, auch als reiner Organismus, womöglich zu kompliziert, um ihn retten zu können.

Zwei Wochen nach dem RAAD Fest steht Michael Greve beim Jahrestreffen der SENS Research Foundation auf der Bühne, er ist als Redner eingeladen. Greve spricht knapp eine Viertelstunde lang, das Video davon hat SENS auf YouTube hochgeladen. Michael Greve erzählt von seiner persönlichen Wandlung, von Forever Healthy und den Parallelen, die er in der IT-Industrie einerseits und der Erforschung des Alterns andererseits erkennt. Er sei überzeugt: Wenn erst mal ein Life-Extension-Startup einen Durchbruch geschafft habe, werde das weitere Investitionen, weitere Erfolge und öffentliche Aufmerksamkeit zur Folge haben. Der Prozess muss nur in Gang kommen. Greve will mit seinem Geld helfen, ihn anzuschieben.

Dann redet Michael Greve von der Zukunft. Von einer Zeit, „in der Altern eine Sache der Vergangenheit sein wird“. Das werde unser Rentensystem entlasten, unsere Ausgaben für Krankheiten radikal senken und unseren Blick völlig verändern: „Im Moment tun wir so, als gingen uns Umweltverschmutzung und der Klimawandel gar nichts an. Doch wenn wir 100 oder 200 Jahre auf diesem Planeten leben, werden wir selbst nasse Füße bekommen, wenn die Polarkappen schmelzen.“

Als Greve seine Rede beendet, erheben sich die Zuhörer. Standing Ovations. Ganz links im Saal steht Aubrey de Grey. Der Mann, der sich die Zukunft nicht ausmalen will, klatscht begeistert darüber, wie Michael Greve sich die Zukunft ausmalt. Als der Zehn-Millionen-Mann die Treppen heruntersteigt von der Bühne, geht de Grey ihm entgegen und reicht ihm die Hand.

Update, 19.12.2016:
Es ist Mitte Dezember, als Mathias Brandts App schließlich live geht. Nun ist sie in den Stores, man kann sie fürs iPhone wie für Android-Telefone herunterladen, in insgesamt 136 Ländern auf der Erde, sie heißt Longevity Basics. Jetzt müssen nur noch möglichst viele Menschen mitbekommen, dass sie sich ab sofort für 7,99 Euro auf ihrem Smartphone ausrechnen können, wie weit sie auf dem Weg sind zu einem möglichst gesunden langen Leben.

Brandt hat all das hineingepackt in die App, was er in den vergangenen Jahren zum Thema gelesen hat. Seine Quellen: unüberschaubar viele wissenschaftliche Einzelstudien, deren Ergebnisse er kombiniert hat in einer Liste von vielen Unterpunkten. Dass diese keine umfassende Theorie des gesunden Lebens sein kann und schon gar keine wissenschaftliche Empfehlung zu dessen Erreichen, versteht sich von selbst. Denn wie all die Stoffe und Prozesse in unseren Körpern zusammenwirken, das ist ja das große und bislang noch immer nicht gelüftete Geheimnis des Lebens an sich – und warum es irgendwann endet mit dem Tod.

Brandt halt also lediglich eine Art Checkliste erstellt, anhand derer man sich selbst ausmessen kann, seinen Körper, seine Gewohnheiten. Was isst du, welchen Sport machst du, wie steht es mit deiner mentalen Befindlichkeit, welche Nahrungsergänzungsmittel nimmst du, welche medizinischen Untersuchungen hast du an dir vornehmen lassen, was macht dein Hormonhaushalt: All das und noch mehr wird abgefragt bei Longevity Basics. Und am Ende steht eine einzige Zahl, ein Score.

Mathias Brandt, der unglaublich gesund lebt und sich auch gerne selbst ausmisst bei diesem gesunden Leben, hat seine eigene App selbstverständlich ausprobiert. Er hat dabei unter anderem realisiert, dass er zum Beispiel zu lange kein großes Blutbild mehr von sich hat machen lassen; überhaupt, dass viele seiner medizinischen Check-Ups schon echt lange her sind.

Brandts Score? Nur knapp über 50 von 100 möglichen Punkten. Er muss an sich arbeiten, sonst wird das nichts mit den 500 Lebensjahren, die Brandt in seiner App als Ziel ausgibt. „Ich hab aber richtig Bock gekriegt, den Score 100 so schnell wie möglich zu erreichen“, sagt er. Und klingt dabei so fröhlich, wie man nur sein kann, wenn man sich vorgenommen hat, das Rennen gegen den eigenen Tod zu gewinnen.

Oder zumindest so lange im Rennen zu bleiben, wie es nur irgendwie geht.

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Mitarbeit: Julia Zange

Dieser Artikel stammt aus der Herbstausgabe des WIRED-Magazins, die am 4. Oktober 2016 erschienen ist. Weitere Themen: Künstliche Intelligenz, die Zukunft des Fliegens, ein Blockchain-Krimi aus Sachsen, Udacity-Gründer Sebastian Thrun – und ein Punk, der uns vor der NSA schützen will.

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