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Teil 4 der WIRED-Deutschlandreise: Karlsruhe, Reutlingen, Berlin

von Anja Reiter
Die Zukunft ist digital, das haben die Deutschen nun auch endlich kapiert. Wo steht dieses Land also, wo will es hin? Das wollten wir von WIRED herausfinden und sind fünf Monate lang durch Deutschland gereist. Herausgekommen ist ein Mosaik aus Digitalisierungsgeschichten in fünf Etappen. Teil 4 beginnt in Karlsruhe und führt über Reutlingen zurück nach Berlin.

Diese Reportage erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im Dezember 2016. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

(Mit Teil 4 eingestiegen? Hier geht's zum Anfang der Serie)

Teil 4 der WIRED-Deutschlandreise // Karlsruhe // Ende September 2016

Sechs Monate Kalifornien haben Christoph Keese genügt, um das Silicon Valley zu verstehen. Vor drei Jahren lebte der Axel-Springer-Manager von Frühjahr bis Herbst in einem Reihenhäuschen, das der Verlag in Palo Alto gemietet hat. In seinem Buch Silicon Valley beschrieb Keese anschließend, was dieses Tal so besonders macht. Im Nachfolger Silicon Germany will Keese jetzt Deutschland zeigen, was es von Kalifornien lernen kann, um wieder Anschluss zu finden.

Christoph Keese steht auf der Bühne der Code_n-Konferenz im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien (ZKM), um über sein neues Buch zu sprechen, ganz der Manager, der am Morgen aus Berlin eingeflogen ist und nach seinem Auftritt zurück in die Hauptstadt jettet: dunkelblauer Anzug, hellblaues Hemd, Kragen auf.

Bei der Code_n sollen sich Startups und Traditionsunternehmen begegnen, hier geht es um neue Konzepte. Doch irgendwie kommt einem vieles bekannt vor, was Keese referiert. „In Deutschland sind wir sehr gut darin, Dinge Schritt für Schritt zu verbessern“, sagt er. „Aber das ist evolutionäre Innovation, keine disruptive.“ Mehr Tempo verlangt Keese, mehr Bereitschaft, etwas Eigenes zu wagen, mehr Mut zu, oh, no: großen Träumen. Wenn man zu viel auf deutschen Digitalkonferenzen rumhängt, sehnt man sich irgendwann danach, dass jemand mal was anderes sagt. Andererseits: Wenn sich alle in der Analyse so einig sind, muss ja was dran sein.

Keese hat auch viele andere Was-alles-falsch-läuft-in-Deutschland-Evergreens mitgebracht aus Berlin. Etwa den: Ingenieure suchten lieber die sichere Anstellung bei Siemens, Daimler oder Bosch, statt sich ins Abenteuer einer eigenen Firma zu stürzen. „Was wir brauchen, ist eine Kultur, in der Technologie-Studenten rausgehen und Firmen gründen.“

Die Code_n wird nach vier Jahren auf der Cebit erstmals als eigenständiges Tech-Festival abgehalten. Im ZKM präsentieren auf drei Bühnen mehr als 200 Redner und 50 Startups aus elf Ländern ihre Ideen. Gleich daneben haben Unternehmen wie Trumpf und B. Braun ihre Stände aufgebaut: Mittelständler aus dem Umland, die mit Laser- und Medizintechnik groß geworden sind und nun den Wandel suchen, um weiter weltweit konkurrenzfähig zu sein.

Code_n wird organisiert von Ulrich Dietz, Chef und Hauptaktionär des Stuttgarter Software-Anbieters GFT. Zu Dietz’ Kunden gehören viele der größten Banken in Europa, GFT entwickelt Apps, Bezahlsysteme, Big-Data-Analysen – was Geldhäuser so brauchen, um digital zu werden. Mit seinen 58 Jahren, der rundlichen Statur und seinem gemütlichen Auftreten verkörpert Dietz das Gegenteil eines jungdynamischen Startup-Unternehmers. Doch er ist das, was man einen Macher mit Vision nennt.

Gucken Sie mal, wie nachhaltig diese Startups in Berlin sind, von den Samwers und Co. Das ist doch alles Kruscht, was die machen, schnelllebiges Zeug

Ulrich Dietz, Chef und Hauptaktionär des Stuttgarter Software-Anbieters GFT

Dietz hat keinen Zweifel, dass Deutschland noch die Kurve kriegen kann. Er will aber auch nichts schönreden. Als Vizepräsident des Branchenverbandes Bitkom kennt er viele Firmen, die nur von Digitalisierung reden. Doch er sieht auch Mittelständler, die im Wandel ihre Chance sehen. „Wenn es denen gelingt, Geschäftsideen mit digitalen Themen zu entwickeln, dann wird aus einem Laden mit 20.000 Mitarbeitern einer, der Gewinne schreibt und 50.000 Leute beschäftigt. Das ist eine erfolgreiche Entwicklung. Da brauchen wir viele Startups, bis wir dahin kommen.“

Es ist ein kleiner, feiner Nadelstich gegen Berlin. „Gucken Sie mal, wie nachhaltig diese Startups in Berlin sind, von den Samwers und Co“, grummelt Dietz. „Das ist doch alles Kruscht, was die machen. Schnelllebiges Zeug.“ Karlsruhe dagegen hat vorwiegend B2B-Startups, die sich an Geschäftskunden wenden. Die 300.000-Einwohner-Stadt bekam 2014 von einer EU-Studie bescheinigt, bei Informations- und Kommunikationstechnik europaweit spitze zu sein, sie lag auf Platz vier, hinter München, Paris, London.

Berlin landete auf Platz 15. Zwei Dutzend Hochschulen und Forschungseinrichtungen, darunter das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und zwei Fraunhofer-Institute, füttern gut 4200 IT-Unternehmen mit Nachwuchs. Woran es Karlsruhe mangelt, ist PR. Doch lieber werkelt die Region im Stillen vor sich hin. „Wir haben eine Reihe von hidden champions“, sagt Martin Hubschneider. „Die sind in ihrem Markt der totale Marktführer. Aber weil sie häufig B2B sind, haben sie keine Notwendigkeit, die Öffentlichkeit darüber zu informieren.“

Hubschneider selbst ist so ein heimlicher Überflieger: Mit seiner Firma CAS, die er 1986 gemeinsam mit Ludwig Neer gegründet hat, bietet er CRM-Software für Kundenmanagement an, ähnlich wie SAP, Oracle oder Salesforce. Nur, dass seine Zielgruppe eine andere ist: kleine und mittelständische Unternehmen wie CAS selbst. Etwa 500 Mitarbeiter beschäftigt die Karlsruher Firma, hat 20.000 Kunden und 52 Millionen Euro Umsatz. Kein Vergleich zum 20-Milliarden-Riesen SAP aus Walldorf. Und doch fordert CAS SAP heraus. Symbolisch.

Wird Cloud-Software bisher zu festen Preisen angeboten, egal, ob sich die Entwicklungskosten auf 10.000 oder zehn Millionen Nutzer verteilen, will CAS seine Software künftig billiger machen, je mehr Kunden sich finden: Kostet ein Abo anfangs 40 Euro im Monat, soll der Preis bei steigender Popularität fallen, für alle Kunden. „Unser Plan ist, dass das irgendwann vielleicht bei einem Euro landen kann“, sagt Hubschneider.

Gedeckelt wird dagegen der Gewinn: Erreicht er zehn Prozent vom Umsatz, ist Schluss. „Wir glauben, wenn so etwas einmal eingeführt wurde und erfolgreich ist, werden es die bisherigen kapitalistischen Plattformen nicht einfach haben“, sagt Hubschneider, ein Mann von Ende 50 mit hoher Stirn, dessen Augen in diesem Moment angriffslustig funkeln.

Er hat nicht vor, SAP direkt Kunden abzujagen – die CAS-Software taugt gar nicht für Großunternehmen, die SAP benutzen. Aber er will die Welt bewegen, auf seine Weise. Er strebt nicht nach Gewinnmaximierung. Wenn Mittelständler in allen Ländern auf das Versprechen fallender Preise anspringen, reichen auch zehn Prozent Marge – um mehr Geld zu verdienen als je zuvor.

Reutlingen // Mitte Oktober 2016

Manche Revolutionen geschehen halt im Verborgenen. Weil niemand groß drüber redet. Und auch weil sie oft im Detail stecken – zum Beispiel in Dingen, die wir dauernd benutzen. Aber in die wir nie reinschauen.

In einem hellen, länglichen Kasten, vier Stockwerke hoch, werden in Reutlingen genau solche kleinen Details gefertigt – in der Chipfabrik von Bosch. Mehr als vier Millionen Chips sind es täglich. Sie landen später als Sensoren in Autos und lösen dort den Airbag aus; sie sorgen dafür, dass Smartphones erkennen, wie herum man sie gerade hält, oder VR-Brillen, in welche Richtung man gerade schaut. In drei von vier Smartphones auf der Welt steckt heute schon ein Sensor aus Reutlingen. Bei Bosch denkt man an Bohrhammer oder Kühlschränke, vielleicht noch an Autoteile, auf jeden Fall an nichts Digitales. Dass Bosch Weltmarktführer in der Sensortechnik ist, weiß kaum jemand.

Wer hier eingelassen werden möchte, muss sich wie bei pingeligen Bekannten erst mal die Schuhe ausziehen. Alle Mitarbeiter tragen weiße Fußbettsandalen, viele eine Art Jogginganzug. Straßenkleidung ist in den Reinräumen streng verboten, auch Make-up, Schmuck oder Uhren, weil Hautpartikel so in die Luft gelangen könnten. Im Kern der Fertigung im dritten Stock, in der an 360 Tagen im Jahr rund um die Uhr gearbeitet wird, ist jedes Partikel in der Luft ein potenzieller Zerstörer. Landet es auf einer Siliziumscheibe, ist die Schrott.

„Diese Fabrik ist das Herz von Bosch, um die Vernetzung zu ermöglichen“, sagt Markus Schmidt. Er ist bei Bosch Automotive Electronics für die strategische Ausrichtung verantwortlich und hält nun eine Präse: Wie Bosch vom größten Autozulieferer der Welt zu einem Technologie- und Softwareunternehmen wird; wie dank Bosch-Sensoren demnächst das eigene Auto mit dem Kühlschrank und der Waschmaschine verbunden sein wird und umgekehrt; wie Industriemaschinen melden werden, wenn sie ein Ersatzteil brauchen und Autos sich selbst einen Parkplatz suchen – alles dank Bosch-Sensoren.

„Heute sind in der Bosch-Gruppe 50 Prozent der Erzeugnisse internetfähig“, sagt Schmidt und klingt wie ein stolzer Vater, der über die Erfolge seiner Kinder spricht. Sensortec, das die Chips herstellt, war vor elf Jahren eine Ausgründung aus Schmidts Abteilung – und ist heute Weltmarktführer. Ebenso die E-Bikes, die Bosch vor sechs Jahren zum eigenen Startup machte und die heute den Markt in Europa anführen. Christoph Keese wäre womöglich erstaunt, was die von ihm als mutlos gezeihten Ingenieure bei Bosch so hinkriegen.

Spricht man Schmidt auf den Diesel-Skandal von VW an, weicht kurz die Luft aus seinem Körper

Über Erfolge spricht man gerne bei Bosch. Viel lieber als über den Diesel-Skandal, in den Bosch als Zulieferer für VW verwickelt ist. Bosch soll da eine sehr aktive Rolle gespielt haben. Spricht man Schmidt darauf an, weicht kurz die Luft aus seinem Körper. Ärgerlich, dass die sonst so unsichtbare Kompetenz von Bosch jetzt ausgerechnet dort sehr öffentlich wird, wo es um Betrug geht.

Ludwigsburg am Morgen darauf, in der turnhallengroßen Werkstatt auf dem Gelände der Bosch Startup GmbH wird ein gelber Gabelstapler auf seinen Auftritt vorbereitet. Gleich kommen Kunden, um den mit Sensoren und Kameras ausgestatteten smarten Stapler im Einsatz zu sehen.

Wenn Chiphersteller Sensortec und die Bosch eBike Systems die Teenager unter den Bosch-Startups sind, dann ist Zeno Track, die Firma hinter dem Gabelstapler, in der Grundschule. Vergangenes Jahr hat Bosch das österreichische Unternehmen gekauft und in seine neu gegründete Robert Bosch Start-up GmbH integriert. Jetzt arbeitet Zeno Track gemeinsam mit zwei weiteren Teams in der ehemaligen Industriehalle in Ludwigsburg.

„Wir können nicht auf einmal die gesamte Kultur bei Bosch umstellen“, sagt Peter Guse, der Chef hier. „Wir können nur Inseln im Großkonzern schaffen, auf denen der Spielraum da ist.“ Guse ist Elektroingenieur, um die 50 und wie viele seit Langem „beim Bosch“. Er war Innovationsmanager im Bereich Corporate Research, bevor er 2013 Gründer der Robert Bosch Start-up GmbH wurde.

Guse ist zwar nicht mehr jung und sieht auch nicht wild aus, er trägt das Bosch-übliche weiße Hemd. Aber bei Bosch sind er und seine Kollegen Dirk Linzmeier und André Hedler so etwas wie die Jungen Wilden. Sie sind dafür zuständig, dass das Tempo, das man sonst aus der Startup-Szene kennt, wo kleine Teams schnell Produkte testen und ebenso schnell ihre Pläne ändern, im Mutterschiff Bosch ankommt. Guse macht das außerhalb, Linzmeier und Hedler innerhalb des Konzerns – und ja, in den verantwortlichen Positionen trifft man hier fast nur Männer.

Teil der Beschleunigungsmaßnahmen ist die „Pitch Night“, die Linzmeier und Hedler eingeführt haben: In einem Brauhaus in Tübingen stellen Mitarbeiter in Teams ihre Ideen vor, vor dem Vorstand, aber eben auch vor Publikum. Und „nicht mit Schlips und Kragen, sondern alles ganz locker, mit Jeanshosen und T-Shirt“, wie Hedler sagt. Beim Wort „Jeanshosen“ wird klar: Die stehen fürs Neue in diesem 130 Jahre alten Unternehmen, das spitze darin ist, Produkte immer besser zu machen. Aber jetzt lernen muss, flexibler und schneller zu handeln, wenn man spitze bleiben will.

„Robert Bosch hat ja auch noch nicht gesagt, ich will der beste Zündkerzenbauer der Welt werden“, sagt Guse. „Er hat experimentiert und dadurch Spitzentechnologie entwickelt.“ Doch einen Konzerntanker mit 375.000 Mitarbeitern, 132.000 davon in Deutschland, zu einem wendigen Schnellboot umzubauen, klingt nach einer Herausforderung. „Deswegen brauchen wir die Schnellboote“, sagt Guse. „Wenn ich radikale Ergebnisse haben will, muss ich auch radikale Methoden anwenden wie die ,Pitch Night‘.“

Man kann sich darüber lustig machen, wenn ein Konzern mit 70 Milliarden Euro Umsatz versucht, sich Startup-Feeling zu holen. Aber zum Vergleich: Zalando beschäftigt bei drei Milliarden Euro Umsatz knapp 10 000 Mitarbeiter. Die Zukunft der deutschen Wirtschaft wird nicht in der Startup-Szene der Hauptstadt entschieden. Sondern weit weg in Unternehmen wie Bosch. Andererseits entsprechen auch in Berlin nicht alle den Berlin-Klischees.

Berlin // Mitte Oktober 2016

Vielleicht beschreibt die Tatsache, dass es diese grüne Metalltor gibt, Verena Pausder am besten. Das Tor befindet sich in der Mauer zwischen einer Privatschule in Berlin-Mitte und Pausders Digitalwerkstatt, wo die Schüler von nebenan Programmieren lernen. Der Weg über den Hinterhof ist kurz, aber seit in der Schule umgebaut wird, sollen die Schüler um den Block herumlaufen, ein Riesenumweg. Andere hätten sich damit abgefunden. Pausder hat ein Loch in die Hofmauer reißen und das Tor einbauen lassen. „Das wären sonst 15 Minuten Umweg gewesen, das geht alles vom Coden ab“, sagt sie.

Manche nennen die 37-Jährige schon das deutsche Postergirl der Startup-Szene. Pausders Büro ist ein paar Hofeingänge von der Digitalwerkstatt entfernt, Backsteinwand, Holzdielen, eine Sitzgruppe für Kinder. Sie sagt nun: „Die Digitalisierung der Bildung ist ein langsamer Fluss, der ständig gestaut wird. Wir räumen die Steine aus dem Weg.“

Pausder verbringt viel Zeit damit, Kindern die digitale Welt nahezubringen. In der Digitalwerkstatt, in der Kinder an Technologie herangeführt werden. Und mit der Firma Fox & Sheep, die hochwertige Apps für Kleinkinder entwickelt, 15 Millionen Downloads bisher. Das Unternehmen bringt das Geld ein, die Digitalwerkstatt ist Idealismus, „keine cash cow“. Fox & Sheep hat Pausder im Jahr 2012 zusammen mit Moritz Hohl gegründet, im vergangenen Jahr haben sie die Firma an HABA verkauft. Der Holzspielzeug-Hersteller soll eine zweistellige Millionensumme bezahlt haben. Pausder behielt einen Anteil, blieb Geschäftsführerin und hatte die Idee zur Digitalwerkstatt – und mit HABA einen solventen Partner.

Die Digitalisierung der Bildung ist wohl eines der dicksten Bretter, das die Bundesregierung durchbohren müsse, meint Pausder. Infrastrukturell komplex, emotional aufgeladen. „Wenn mir jemand das Thema auf den Tisch legen würde, das wäre der reinste Horror.“ Aber es geht voran. In einer Umfrage, die jüngst von der Körber-Stiftung veröffentlicht wurde, sprachen sich 59 Prozent der deutschen Eltern für ein Schulfach Programmieren aus. Google, Microsoft, Samsung, Stiftungen, Hochschulen, die Bundesregierung – alle wollen Kindern das Coden beibringen. Gerade hat Bildungsministerin Johanna Wanka ein Digitalpaket für Schulen angekündigt, fünf Milliarden Euro sollen bis 2021 in WLAN-Netze für Schulen fließen. Bisschen spät, bisschen wenig, könnte man sagen. Oder: endlich.

Wenn man die Wörter ,Kind, Smartphone, Zimmer‘ hört, denkt man sofort an ein daddelndes Kind. Niemand denkt an eines, das einen Film mit seinen Lego-Figuren dreht

Verena Pausder, Gründerin der Digitalwerkstatt

24 Klassen kommen Woche für Woche in die Digitalwerkstatt, alle von der Privatschule. Pausder ist in Kontakt mit staatlichen Schulen, noch besuchen die sie nur zu Projekttagen, mehr ist wegen der engen Lehrpläne nicht drin. „Ich war optimistischer, bis ich mit Schulleitern gesprochen habe. Die sagen: ,Macht ihr schön weiter, wir können das in den nächsten zehn Jahren nicht leisten.‘“

Vielleicht kann nur jemand wie Pausder es mit dem verkrusteten deutschen Schulsystem und seinen föderalistischen Verästelungen aufnehmen: jemand, der sich die Abkürzung durch die Wand schlägt und nicht auf Ausschüsse und Rahmenlehrpläne wartet. Jemand wie Pausder, der das Unternehmertum – und hier stimmt ein Klischee ausnahmsweise – wirklich im Blut liegt: Ihre Familie führt seit 1722 einen Stoffhandel in Bielefeld, mittlerweile in neunter Generation. Pausders Lebenslauf selbst liest sich wie eine Mission aus Need for Speed: erste Gründung mit 19, ein Sushi-Restaurant. Dann: BWL in St. Gallen, Trainee bei der Münchener Rück, Managerin einer Online-Agentur. Wieder eine Gründung, CEO of the Future, Head of Sales einer Bertelsmann-Tochter für eLearning-Tools. Geschäftsleiterin bei Young Internet, die Online-Gaming für Kinder anbieten. 2012 schließlich Fox & Sheep.

Zwei Kinder hat Pausder, Henry und John sind sechs und acht, einen dritten Sohn brachte ihr zweiter Mann in die Ehe. Pausder war im achten Monat schwanger, als sie bei Young Internet unterschrieb, vier Monate nach der Geburt war sie Geschäftsführerin. Teilzeit kommt für sie nicht infrage. Sie bloggt, bespielt Podien, organisiert Veranstaltungen für Unternehmerinnen, engagiert sich für Gründer und social entrepreneurs. Sagenhaft gut Fußball soll sie auch noch spielen.

Pausder zeigt nun auf kleine Figuren, die auf dem Tisch in ihrem Büro stehen, Biegepuppen, eigentlich sind sie für eine Puppenstube gedacht, HABA stellt sie seit Langem her. In der Digitalwerkstatt will Pausder Kindern zeigen, wie sie damit Stop-Motion-Filme drehen können. Ihre Söhne haben auch einen gedreht, Pausder zeigt den Film auf dem Telefon. „Uns fehlen die Bilder dafür, wie Digitales auch kreativ sein kann“, sagt sie. „Wenn man die Wörter ,Kind, Smartphone, Zimmer‘ hört, dann denkt man sofort an ein daddelndes Kind. Niemand denkt an eines, das einen Film mit seinen Lego-Figuren dreht.“

Wenn Pausder digitale Bildung sagt, dann denkt sie nicht nur an Programmieren in Schulen. Mit der Digitalwerkstatt geht es ihr um mehr: den kreativen Umgang mit Technologie. Es geht um eine neue Haltung. Vom Konsum zum Handeln. Vom Anwender zum Gestalter. Von der Überforderung zur Selbstbestimmung. „Es gibt so viele Panels zu dem Thema, wo sich alle irgendwelche Hirnströme um die Ohren werfen“, sagt sie. „Aber wenn du Kinder beobachtest, die Minecraft spielen oder Stop-Motion-Filme drehen – die sind hellwach.“ Pausder blickt auf ihr Smartphone, eine Menge Termine sind da für den Rest des Tages eingetragen. Treffen mit Ministern, Investoren, Influencern? Sie lacht. Nein, sie muss jetzt in die Schule. Gleich ist Elternsprechtag.

Die finale Etappe der WIRED-Deutschlandtour startet in Bonn. Von dort aus geht es nach Berlin, Lathen, Köln, Hamburg und München. Unser letzter Stopp ist Saarbrücken. Alle Teile lest ihr in der neuen Ausgabe des WIRED-Magazins.

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

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