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Warum zur Hölle wollen Forscher homosexuelle Menschen am Gesicht erkennen?

von Johnny Haeusler
US-Forscher haben herausgefunden, dass eine KI besser als Menschen aus Gesichtern die sexuelle Präferenz ablesen kann. Unser Kolumnist fragt sich, warum zur Hölle jemand so eine Studie überhaupt erst anfertigt. Und erkennt spannende Zusammenhänge zwischen den Machern und deren Motivation. 

Die Reaktionen der Medien und vieler Netznutzer_innen waren genau so gewollt wie erwartet, aber natürlich auch verständlich. Michal Kosinski und Yilun Wang von der Stanford University hatten eine Studie vorgestellt, bei der sie mehr als 130.000 Portraits von einer Dating-Website von einer Software für Gesichtserkennung hatten analysieren lassen. Und sie hatten behauptet, dass diese Software – die „Künstliche Intelligenz“, kurz KI – mit bis zu 83prozentiger Wahrscheinlichkeit erkennen kann, ob die abgelichtete Person homosexuell ist.

WTF?

Johnny Haeusler

Kosinski und Wang warnten vor den möglichen Gefahren für Schwule und Lesben (selbstverständlich nur in fernen Ländern und totalitären Staaten) und Kollegen klopften ihnen auf die Schultern: „Die Autoren haben hier ein starkes Statement darüber abgegeben, wie mächtig diese Technologie sein kann. Jetzt wissen wir, dass wir uns schützen müssen.“ Doch die Forscher packten noch einen drauf: Auch politische Ansichten, Gesundheitszustände oder Charaktereigenschaften könnten in Zukunft von Künstlicher Intelligenz erkannt werden.

Verständlich, dass Medien über eine solche Studie berichten, verständlich auch, dass wir in den Kanon der Bedenkenträger einstimmen und uns um unsere Mitmenschen sorgen. Schade aber, dass so wenige der einflussreichen Medien die wichtigste Frage an die Herausgeber der Studie gestellt haben. Diese lautet: WTF?

Warum zur Hölle fertigt jemand so eine Studie überhaupt erst an?

Seit vielen Jahrzehnten, Jahrhunderten gar mühen sich Forscher ab, Unterschiede bei den körperlichen Merkmalen homosexueller und heterosexueller Menschen festzustellen, aber was soll der Nutzen sein? Ganz besonders, wenn die Forscher auf neuere Gender-Studien, kulturelle und soziologische Erkenntnisse überhaupt nicht eingehen.

Gerade in diesem Fall wäre es sehr sinnvoll gewesen, sich die Autoren der Studie und ihre Motivation etwas näher anzusehen

Johnny Haeusler

Die vorgebliche Sorge um Künstliche Intelligenz und ihre mögliche Macht und daraus resultierende Gefahren ist, so scheint es manchmal, in Wirklichkeit die boulevardeske Lust an kommenden Horrorszenarien. Nicht, dass diese nicht eintreten könnten. Doch gerade in diesem Fall wäre es sehr sinnvoll gewesen, sich die Autoren der Studie und ihre Motivation etwas näher anzusehen.

Greggor Mattson, „Associate Professor of Sociology at Oberlin College and Director of the Program in Gender, Sexuality, and Feminist Studies“, hat genau dies für das Blog Scatterplot getan und dabei nicht nur ein paar unterhaltsame Seitenhiebe ausgeteilt, sondern auch interessante Fakten zusammengetragen.

Denn einer der Studien-Verfasser, Michal Kosinski, ist für aufmerksame WIRED-Leser_innen kein Unbekannter. Im „Das Magazin“-Artikel des letzten Jahres, der für einige Unruhe in Bezug auf die US-Wahl und den Sieg Trumps gesorgt hatte und bei dem das Zauberwort noch nicht KI, sondern Big Data war, galt Kosinski als Quasi-Urheber der angeblich vom Unternehmen Cambridge Analytica eingesetzten Software. Und so, wie dieses Unternehmen mit seinen Behauptungen vor einigen Monaten zurückrudern musste, was die Beeinflussbarkeit von Wahlen angeht, müssen vielleicht auch die Verfasser der Gesichtserkennungsstudie ein wenig relativieren, würde man sie auf ihre Motivation ansprechen.

Zumindest riecht es nämlich etwas merkwürdig, wenn man bedenkt, dass Michal Kosinski zum Team des Unternehmens Faception gehört, das Profile auf der Basis von Gesichtserkennung erstellt und seinen Kunden verspricht, Terroristen oder Pädophile anhand ihrer Gesichtszüge erkennen zu können. Mit etwas Sportsgeist könnte man denken, Kosinski warne mit seiner aktuellen Studie vor genau den Unternehmen, die er berät. Oder aber er macht sich für höhere Tagessätze wichtig und nutzt dafür clevere PR.

Spekulationen sind hier sicher fehl am Platz, doch das sind sie eben auch in Sachen Künstliche Intelligenz. Ein wenig mehr Hinterfragen und ein bisschen weniger Panikmache wäre gut, um sich mit den wirklichen Herausforderungen beschäftigen zu können – und diese werden trotz aller Skepsis in Bezug auf die „Gaydar-Studie“ kommen. Doch reißerische Headlines werden bei Lösungen kaum helfen.

Update vom 14. September 2017: Der im Text verlinkte Greggor Mattson sammelt in diesem neuen Text Reaktionen auf seinen Artikel, auch bezüglich der Rolle von Kosinski in den erwähnten Unternehmen.

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