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Technik kann uns keine Welt ohne Arschlöcher erschaffen

von Johnny Haeusler
Na klar, Twitter und Co dürfen Missbrauch und Nötigung auf ihren Plattformen nicht zulassen, das meint auch unser Kolumnist. Doch er warnt: Technische Möglichkeiten lösen keine sozialen Probleme. Zumal beim Bemühen, eigene Richtlinien, Wünsche der Community und die Rechtslage im jeweiligen Land in Einklang zu bringen, Zensur nicht mehr fern ist.

Tut doch was! Das fordern User zunehmend von Twitter (und anderen Plattformen), wenn es um verbalen Missbrauch, um Nötigung oder andere Belästigungen geht. Die Social-Media-Anbieter sehen sich so in der Pflicht, über Moral und Gesetz zu hüten. Anscheinend geht es nicht anders, auf Dauer kann es aber auch schiefgehen.

Aktueller Anlass: Die Hashtag-Aktion #MeToo, bei der Frauen in aller Welt – eindrücklich auch in Deutschland – von Missbrauch, Sexismus und Belästigungen in ihrem Alltag berichten, zu dem eben auch das Netz gehört, Twitter etwa. Angefangen hatte es mit dem Hashtag #WomenBoycottTwitter, unter dem vor wenigen Tagen zum Boykott der Plattform aufgerufen wurde, nachdem die Schauspielerin Rose McGowan temporär von Twitter gesperrt wurde. McGowan hatte – nach vielen anderen Frauen – den Film-Produzenten Harvey Weinstein der Vergewaltigung beschuldigt. Obwohl Twitter die Sperre mit einer von McGowan veröffentlichten Telefonnummer rechtfertigte, reagierten immer mehr Menschen entrüstet und solidarisierten sich mit Rose McGowan, darunter auch Hollywood-Schauspieler wie Alyssa Milano, John Cusack oder Kerry Washington. Und während jetzt unter dem neuen Hashtag #MeToo Tausende Frauen ihre verstörenden persönlichen Geschichten erzählen, muss Twitter Stellung beziehen.

Seit zwei Jahren versuche seine Plattform, stärker dagegen vorzugehen, dass über Twitter Menschen einander nötigten oder verbal missbrauchten, schrieb Twitter-Gründer Jack Dorsey, doch dies sei offensichtlich nicht gut genug gelungen. Dorsey will nun alles viel strikter regeln und härter vorgehen, in erster Linie gegen „ungewollte sexuelle Annäherungsversuche, Nacktheit ohne gegenseitiges Einvernehmen, Hass-Symbole und Tweets, die Gewalt verherrlichen.“

Warum das schiefgehen kann? Zu bedenken ist bei all diesen Diskussionen, dass eine Plattform wie Twitter von Land zu Land verschiedenen Herausforderungen und auch Gesetzen gegenüber steht. In den USA ist beispielsweise Holocaust-Leugnung oder die Abbildung von Nazi-Symbolen kein Strafbestand. Dennoch werden die Stimmen immer lauter, die von Twitter eine Suspendierung von Accounts fordern, die mit rechtsradikalen Tweets und Symbolen agieren, und inzwischen empfehlen einige US-Twitter-Accounts, die Landespräferenzen in der App auf „Deutschland“ zu stellen. Denn dann werden betreffende Accounts nicht angezeigt, da sie hierzulande gegen geltendes Recht verstoßen. Die meisten rechtsradikalen US-Accounts, die nicht selten mit Hakenkreuzen und ähnlichen Symbolen übersät sind, bekommen Twitter-Nutzer_innen in Deutschland gar nicht erst zu sehen.

Technische Möglichkeiten lösen keine sozialen Probleme

Letztlich beweist dieses Beispiel, dass es für die großen Social-Media-Plattformen im Gegensatz zu früheren Aussagen durchaus möglich ist, zumindest einen Großteil bestimmter Inhalte, politischer Richtungen oder Bilder zu filtern – oder eben auch zu zensieren. Doch technische Möglichkeiten lösen keine sozialen Probleme, und so stehen die Betreiber vor immensen Aufgaben, welche die eigenen Richtlinien, die Wünsche der Community und die Rechtslage im jeweiligen Land ausloten müssen. Wie eine freie und vielfältige Meinungsäußerung sichergestellt, geltendes Recht beachtet und das Wohlergehen und die Sicherheit der Nutzerinnen und Nutzer garantiert werden können – dafür gibt es auch im Virtuellen leider keine Zauberformel.

Es ist kompliziert. Auch, weil sich Belästigungen und Bedrohungen oftmals nicht in einer eindeutigen, konkreten Aussage oder Drohung manifestieren, sondern in massenhaften, zynischen, als „Ironie“ oder „Spaß“ getarnten Andeutungen, die einzeln und für sich nicht justiziabel sind und auch nicht der Rede wert wären, in der Masse aber eine unheimliche Wirkung haben können. Menschen, die sich ekelhaft benehmen, sind nicht automatisch auch dumm, ganz besonders geplante, gezielte und orchestrierte Attacken gegen Einzelne sind sich der Grenzen des gerade noch Zulässigen oft sehr bewusst, benehmen sich entsprechend entlang der legalen Grenzen und können dennoch enormen Schaden anrichten, Angst verbreiten, Menschen zum Schweigen oder zum Rückzug veranlassen oder noch schlimmere Konsequenzen provozieren.

Ich möchte niemandem vorschreiben, was er in der Öffentlichkeit (oder einer Halböffentlichkeit wie Twitter) von sich gibt. Aber ich möchte, dass derjenige die Verantwortung dafür trägt

Es sind Menschen, welche Twitter, Facebook und andere Netzwerke manchmal zu unangenehmen, schädigenden und auch widerlichen Orten machen, weil sie die Freiheiten einer solchen Plattform missbrauchen. Menschen, die einer anderer Meinung nicht widersprechen können, ohne dabei persönliche Angriffe, Beleidigungen oder Drohungen auszusprechen. Menschen, die für „ihre Sache“ mit derartigem Wahn eintreten, dass ihnen mögliche Folgen egal oder diese sogar beabsichtigt sind. Und leider eben auch immer wieder Menschen, die nur deshalb so agieren, weil sie es bis zu einem gewissen Grad in der Anonymität tun können.

Ich habe das schon einmal geschrieben: Ich möchte niemandem vorschreiben, was er in der Öffentlichkeit (oder einer Halböffentlichkeit wie Twitter) von sich gibt. Aber ich möchte, dass derjenige die Verantwortung dafür trägt und für mögliche Konsequenzen gerade steht. Dies ist in Anonymität unmöglich, die ich aber eben im Netz auch nach wie vor für wichtig halte. Niemand kann angezeigt oder anders zur Rechenschaft für sein Handeln zur Verantwortung gezogen werden, der als Person nicht identifizierbar ist. Aber zu wichtigen heiklen Themen würden sich viele eben auch nicht mehr äußern, wenn es keinen Schutz ihrer Person gäbe.

Dies ist und bleibt ein Dilemma, das im ersten Schritt durch die Plattform-Betreiber zu lösen ist, die zunächst die Durchsetzung ihrer eigenen Regeln möglich machen müssen – schließlich sind es privatwirtschaftlich betriebene Räume mit Hausrecht. Wer sich an diese Regeln nicht hält, fliegt raus, wem die Regeln nicht passen, muss die Plattform nicht nutzen. Es gibt kein Grundrecht auf Twitter, gleichzeitig aber viele andere Formen, online seine Meinung zu äußern.

Facebook versucht an dieser Stelle, die Anonymität der Nutzerinnen und Nutzer zu erschweren und erreicht damit immerhin, dass es inzwischen zu mehreren Verurteilungen von Hetzern gekommen ist – die Mühlen der Bürokratie und die Hürden für eine Anzeige bestimmter Personen und Handlungen sind dabei noch ein eigenes Thema.

Twitter tut sich mit ähnlichen Schritten – zurecht, wie ich finde – schwerer und will anonyme oder pseudonyme Accounts bewusst weiter zulassen, bekommt aber die Quittung dafür von den Communities, die stärkeren Schutz fordern.

Und Twitter setzt dabei mehr als Facebook auf die Strategie, den Nutzerinnen und Nutzern bessere Werkzeuge zum Selbstschutz an die Hand zu geben: Wir können auswählen, wer uns folgen darf, wir können andere Accounts stummschalten oder blockieren, wir können Nachrichten nur von Accounts zulassen, die durch eine Handy-Nummer verifiziert wurden, wir können missbräuchliche Accounts auf vielfältige Art melden.

Filterblasen galore

Ich halte diese Strategie generell für die richtigere, bin aber gleichzeitig davon überzeugt, dass sie in den kommenden Jahren zu einer Art Zweiklassen-Gesellschaft bei Twitter führen wird: Wer durch Angaben zu seiner Person, die nur nach bestimmten Regeln zur Geltung kommen würden, volle Verantwortung für sein Handeln übernimmt, bekommt eine gesonderte Kennzeichnung oder Verifizierung. Diese Nutzerinnen und Nutzer können dann entscheiden, „unter sich“ zu bleiben und anonyme Accounts (und auch ausgewählte verifizierte) aus ihrer Timeline auszuschließen oder nicht verifizierte nur individuell zuzulassen. Nicht verifizierte Accounts wiederum würden in einer Art „Dark Twitter“ innerhalb der Twitter-Regeln zwar machen können, was sie wollen, aber eben auch weniger Möglichkeiten zur Beschwerde haben und keine Chance bekommen, verifizierte Accounts zu sehen oder zu kontaktieren. Egal, ob ich das gut finde oder nicht: So oder ähnlich wird es kommen, schätze ich. Filterblasen galore, aber eben auch besserer Schutz. Mit vielen Lücken, zugegeben.

Doch anders werden die vielen unterschiedlichen Forderungen und Ansprüche an Quasi-Öffentlichkeiten wie Twitter kaum zu befriedigen sein. Denn eines kann Technik nicht erschaffen, auch wenn es das ist, was sich viele Netzbewohnerinnen und -bewohner wahrscheinlich eigentlich wünschen: Eine Welt ohne Arschlöcher. Eine Welt, in der Kritik halbwegs sachlich formuliert wird und Debatten mit ausreichend Respekt geführt werden, in der man sich persönliche Angriffe und Diffamierungen verkneift und in der niemand teilnimmt an gezielten und bewussten Hass-Tiraden mit dem Ziel, Dritten zu schaden. Eine Welt, in der Beistand, Widerspruch und virtuelle Hilfeleistung die Regel sind.

Eine solche Welt können weder Facebook noch Twitter noch Andere kreieren, das müssen wir selbst hinbekommen. Da aber meine Hoffnung auf eine solche Welt leider gegen Null geht, werden wir uns wohl mit mitteltollen Workarounds wie den beschriebenen zufrieden geben müssen und dabei auch noch hoffen, dass die Politik nicht ein weiteres Mal mit noch weniger sinnvollen, dafür aber wesentlich restriktiveren „Lösungen“ schneller reagiert.

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