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So hat Google mit drogensüchtigen und alkoholkranken Menschen Geld verdient

von Cindy Michel
Googelt man in Deutschland nach „Tablettensucht+Entzug+Klinik“, so kann es passieren, dass nicht nur normale Suchergebnisse angezeigt werden. Auch Werbung für Suchtkliniken taucht unter den Treffern auf – ein Fehler im System. Denn eigentlich hat Google nach einem Skandal weltweit Anzeigen verbannt, die sich an Suchtkranke richten. Nur in den USA darf wieder inseriert werden – von zertifizierten Kliniken.

Leasha ist 39, Mathe-Lehrerin, Mutter von zwei Kindern – und schwere Alkoholikerin. Seit ihrer Geburt leidet sie an einer chronischen Krankheit, die ihre Organe Stück für Stück auffrisst. Schmerzen und Depressionen ließen sie zur Flasche greifen. Dieses Mal, im Januar 2016, hört sie gar nicht mehr auf zu trinken. Ihr Rausch dauert 48 Stunden. Dann bekommt sie eine E-Mail der örtlichen Klinik, in der ihre neuesten Laborergebnisse stehen. Über den Bildschirm flimmern ihre Leberwerte. Sie sind schlecht, sehr schlecht.

Die Amerikanerin bekommt Angst, versucht mit Google mehr über ihre Testergebnisse zu erfahren. Ganz oben in der Liste der Suchergebnisse erscheint eine Anzeige. Darin wirbt eine kostenlose Hotline damit, Therapieplätze an Suchtkranke zu vermitteln. Im Rausch glaubt sie, dass selbst Google inzwischen weiß, dass sie dringend Hilfe braucht. Sie wählt die Gratis-Nummer. Keine zwölf Stunden später sitzt sie in einem Flugzeug nach Florida – angeblich zu einer für sie perfekten Einrichtung…

Mit dieser Enthüllungsstory deckte das amerikanische Internetportal The Verge im vergangenen Jahr den Fall der Amerikanerin Leasha auf. Über eine Anzeige bei Google landete sie in einer Entzugsklinik, die mit fragwürdigen Methoden arbeitete. Das bemerkte sie allerdings erst, als es schon zu spät war.

Lukrativ vermittelt: Wer verdient an diesen Anzeigen?

In den USA, aber auch in Großbritannien ist die Behandlung von Suchtkranken ein lohnendes Geschäft. Daher hat sich dort ein besonderes Business entwickelt: kostenlose Hotlines, die meist von Drittanbietern wie Agenturen betrieben werden. Sie vermitteln Hilfesuchende an Therapieeinrichtungen – und kassieren dafür von den Kliniken hohe Provisionen. Nun ist es inzwischen so, dass viele Suchtkranke Menschen im Internet nach Hilfe suchen. The Verge zitiert dazu eine Studie von Google, wonach über 61 Prozent von ihnen im Netz eine Entzugsklinik ausfindig gemacht haben. Für die Anbieter der Hotlines ist es daher entscheidend, bei Google präsent zu sein, um dort ihre lukrativste Kundschaft anzusprechen: Betroffene, die entweder vermögend sind oder eine gute Versicherung haben. Dazu zählt auch Leasha, die Mathe-Lehrerin.

Bei GoogleAds können Anzeigen basierend auf Suchbegriffen an ganz bestimmte Zielgruppen ausgespielt werden, die Google durch seinen Datenschatz genau identifizieren kann. Werbung kann auch auf einzelne Länder oder Regionen beschränkt werden, erklärt eine Google-Sprecherin im Gespräch mit WIRED. Deswegen bekommen verschiedene Nutzer unterschiedliche Anzeigen zu sehen, selbst wenn sie nach denselben Begriffen googeln.

Nicht nur The Verge ist auf Hotlines gestoßen, die Therapieplätze vermitteln und bei Google Anzeigen geschaltet haben. Die Sunday Times aus London fand heraus, dass das Geschäftsmodell auch in Großbritannien funktionierte. So sollen Agenturen für eine erfolgreiche Vermittlung von nur einem Patienten bis zu 20.000 Pfund, also rund 22.400 Euro Provision kassiert haben. Diese immensen Summen haben laut der Sunday Times die Kosten für Privatpatienten in Großbritannien in die Höhe getrieben. Auch Google verdiente demnach mit. Sowohl die Times als auch The Verge schreiben von Beträgen um die 200 Euro pro Nutzer, der auf eine der Anzeigen geklickt hat. Manche Vermittler sollen sechs- oder sogar siebenstellige Beträge pro Monat an Google überwiesen haben.

Über die Google-Anzeige in die Therapie-Hölle

Bis hierhin ist diese Art der Vermittlung für manche vielleicht moralisch fragwürdig. Sie ist aber legal und nicht unbedingt schädlich für Betroffenen. Wenn aber unseriöse Unternehmen, die lediglich auf Profit aus sind, die Hilfsbedürftigen an nicht ausreichend zertifizierte Einrichtungen vermitteln, dann wird es problematisch. Bei Leisha war genau das der Fall.

Versprochen wurde ihr ein medizinisches Luxus-Ressort unter Palmen, in dem sie durch verschiedenste Therapieansätze von ihrer Sucht loskommen sollte. Doch Leasha findet sich in einem alten Motel wieder. Die Zimmer sind überbelegt, die Therapiegruppen riesig – und die medizinische Behandlung, die sie aufgrund ihrer chronischen Krankheit bräuchte, bekommt sie erst gar nicht. Ärzte oder geschultes Personal sind rar. Erst als sie einen medizinischen Notfall hat und nach langem Bitten und Betteln in ein Krankenhaus eingeliefert wird, kann sie der angeblichen Entzugseinrichtung namens „Wellness“ entfliehen. Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus will sie dort ihre persönlichen Gegenstände abholen und in eine seriöse Therapieeinrichtung wechseln. Doch erst mit Hilfe der Polizei bekommt sie ihr Smartphone und ihre Geldbörse zurück. Insgesamt elf Tage verbringt Leasha in der fragwürdigen Einrichtung. Diese stellt ihrer Versicherung eine Rechnung in Höhe von insgesamt fast 75.000 US-Dollar aus. Die Versicherungsgesellschaft begleicht ein Drittel der Summe.

Nach der Veröffentlichung der Berichte von The Verge und der Sunday Times, zieht Google die Notbremse und wirft im Januar 2018 alle Anzeigen, die für Entzugskliniken werben, von seinen Seiten. Weltweit. „Wir haben gesehen, dass es auf diesem Gebiet vermehrt zu Vorfällen kam. Es war das Gegenteil von dem, was wir eigentlich bewirken wollten“, sagt die Google-Sprecherin zu WIRED. Denn alles, was mit Arzneimitteln oder Gesundheit zu tun habe, unterliege beim Unternehmen hohen Standards. „Was sich negativ auf Konsumenten auswirkt, stoppen wir, bis wir eine Lösung gefunden haben.“

Keine bekannten Fälle in Deutschland

Auch in Deutschland verbannt Google damals Anzeigen für Entzugskliniken, obwohl hierzulande keine Fälle dieser Art bekannt seien. Das bestätigen sowohl die Google-Sprecherin als auch Wibke Voigt, die Vorsitzende des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe, im Gespräch mit WIRED. „Die Reha-Szene in Deutschland ist komplett anders, als die im Ausland“, erklärt Voigt. Anders als in den USA oder Großbritannien werden Suchtkliniken streng kontrolliert, auch die Vergabe von Therapieplätzen ist genau geregelt. Die Rentenversicherung überwacht die Einrichtungen und entscheidet, wo Patienten behandelt werden. Diese dürfen lediglich Wünsche äußern. Außerdem, sagt Wibke Voigt, gebe es zwar teure, aber sehr gute Privatkliniken, deren Kosten von Privatkassen übernommen würden.

Im April 2018 erklärt Google, die Konzernrichtlinien im Bereich Gesundheit und Medizin wieder zu lockern, und kündigt an, Anzeigen, die sich an Drogen- und Alkoholabhängige auf der Suche nach Hilfe richten, wieder zuzulassen. Allerdings erst ab dem Sommer und ausschließlich in den USA – und nur, wenn die beworbenen Therapieanbieter von LegitScript zertifiziert wurden. Bei dem Unternehmen handelt es sich um einen Verifizierungs- und Überwachungsdienst für Online-Apotheken, mit dem Google schon in der Vergangenheit zusammengearbeitet habe als es um Arzneimittel ging, berichtet die Google-Sprecherin.

Da draußen war es wie im Wilden Westen.

Bill Koroncai, Sprecher eines Klinikbetreibers

Erst vergangene Woche wurde der Klinikbetreiber Recovery Centers of America, kurz RCA, von LegitScript geprüft und darf nun wieder auf Google inserieren, wie das Techmagazin Gizmodo berichtete. Bill Koroncai, der RCA-Sprecher, erklärte gegenüber TechCrunch, dass man Google voll und ganz dabei unterstütze, „unmoralische Anbieter“ loszuwerden: „Da draußen war es wie im Wilden Westen.“ Für den deutschen Markt kann Google LegitScript nicht nutzen. Das Unternehmen könne nur amerikanische Anbieter prüfen, ein deutsches Pendant gebe es noch nicht. „Daher können wir noch nicht sagen, ob und wenn ja, wann es eine Änderung der entsprechenden Policy in Deutschland geben wird“, sagt die Google-Sprecherin.

Woher kommt der Fehler im deutschen Google-System?

Seltsam aber, dass einem dann trotzdem als Anzeigen markierte Links zu Therapieeinrichtungen und Kliniken in den Suchergebnissen angezeigt werden, wenn man etwa nach „Tablettensucht+Entzug+Klinik“ in Deutschland googelt, oder?

„Es gibt immer Menschen, die schlau genug sind, einen Algorithmus zu umgehen“, erklärt die Google-Sprecherin. Es passiere immer wieder, dass Dinge durchrutschten, doch sobald diese gemeldet oder bekannt würden, würden sie sofort gelöscht. „Das Programm lernt stetig, je größer die Grundlage der vorhandenen Beispiele, desto besser wird es. Am Ende des Tages ist der Algorithmus doch nur eine Maschine, der keinen Menschen ersetzen kann.“

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