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Sechs Ideen für die Medizin von morgen

von Karsten Lemm
Die Berliner Uniklinik Charité will Forschung schneller in Produkte umsetzen. Erste Projekte zeigen, wie Ärzte mit Datenanalyse und Künstlicher Intelligenz die Behandlung ihrer Patienten verbessern könnten – vorausgesetzt, das Gesundheitssystem spielt mit.

Immer diese Schmerzen in der Brust: Jedes Jahr eilen 50 Millionen Menschen auf der Welt zum Arzt, wenn sie Angst haben, dass ihr Herz versagt – und ein Großteil von ihnen muss fürchten, eine falsche Diagnose zu erhalten. „Wir ordnen Patienten in Kategorien ein, statt sie individuell zu betrachten“, kritisiert Marc Dewey, Professor für Radiologie an der Berliner Universitätsklinik Charité. Noch immer klammere sich die Medizin an jahrzehntealte, pauschalisierte Verfahren, Menschen zu untersuchen, statt präzise den Blick auf jeden Einzelnen zu richten.

Dewey steht am Mittwochabend vor einem Publikum aus gut 120 Wissenschaftlern, Gesundheitsexperten und Investoren, um seine Lösung für das Problem zu präsentieren: eine App, die Ärzte Schritt für Schritt zur wahrscheinlichsten Erklärung für die Beschwerden führt; für jeden Patienten eigens berechnet, ganz so, wie es Erkenntnisse aus mehr als 7000 früheren, ähnlichen Fällen nahelegen.

Dieser Schatz aus verlässlichen medizinischen Messwerten und Diagnosen, den Dewey und sein Team über fünf Jahre hinweg aus zahlreichen Ländern zusammengetragen haben, bildet die Grundlage für das neue, digitale Diagnosemodell. Bis zu 25 Millionen Menschen jährlich könnten davon profitieren, verspricht Dewey, „weil sie eine korrekte Einschätzung dafür erhalten, wie groß ihr Risiko ist, am Herzen zu erkranken“.

Er braucht nur Geld, um aus dem Konzept ein Produkt zu machen. So wie alle, die an diesem Abend ihre Projekte vorstellen: Sechs Ideen, die aus der Forschung an der Charité hervorgegangen sind, sollen schnell und unkompliziert auf den Markt gebracht werden – das ist der Gedanke beim ersten Accelerator Day, den das Berlin Institute of Health, BIH, und Berlin Health Innovations organisiert haben.

Die Struktur der beiden Organisationen ist kompliziert, mit Querverstrebungen zwischen Staat, Uni und Instituten – ihr Auftrag dagegen simpel: Es geht darum, die Brücke zu schlagen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, damit vielversprechende Projekte nicht im Labor verkümmern, sondern Patienten Nutzen bringen. Ohne Umwege, ohne Umstände. Ganz so, wie man das aus der Startup-Welt kennt, die den Campus der Uniklinik in Berlin Mitte umgibt.

„Wir bauen eine Fabrik für digitale Gesundheitsfirmen auf“, erklärt BHI-Direktor Klaus Nitschke, während der Projektor hinter ihm Diagramme und Zahlen an die Diawand wirft. Die Präsentation soll Investoren von einer einzigartigen Gelegenheit überzeugen: Zugang zu mehr als 4000 Forschern und Ergebnissen ihrer Arbeit; 2000 Projekte basierend auf 27 Millionen Labordaten; Knowhow aus acht medizinischen Fakultäten. Und, nicht zu vergessen, „Marken, denen Menschen vertrauen“ – ein großes Plus, wenn es um Gesundheit geht, hoffen Nitschke und seine Kollegen.

Gesucht werden Geldgeber, die bereit sind, mindestens fünf Millionen Euro im Jahr in die Weiterentwicklung der Projekte zu stecken, und die viel Geduld mitbringen. Denn bis Forschungsprojekte alle Hürden genommen haben, vom Praxistest bis zur Zulassung durch Behörden, werden Jahre vergehen. Im Gegenzug stellt Nitschke Investoren ehrgeizige Renditen von 20 bis 30 Prozent in Aussicht und verspricht ihnen als Extra-Anreiz das wohlige Gefühl, nicht einfach ein weiteres Konsumrausch-Startup zu finanzieren, sondern etwas für das Wohl der Menschheit zu tun.

Alle Ideen, die an diesem Abend vorgestellt werden, liegen auf der Schnittstelle zwischen heute und morgen, bewegen sich zwischen Visionen, Prototypen und ersten Tests, drehen sich um Big Data und Sensoren, künstliche Intelligenz und menschliche Intelligenz.

Ein KI-System, das der Gehirnforscher Dietmar Frey entwickelt hat, nutzt Untersuchungsergebnisse von Patienten, um zu berechnen, wie hoch ihr Schlaganfall-Risiko ist. Sein Kollege Alexander Meyer vom Deutschen Herzzentrum will lernfähige Algorithmen nutzen, um die Überlebenschancen von Patienten in Intensivstationen zu verbessern: Sein System beobachtet kontinuierlich alle Messwerte, um Alarm zu schlagen, wenn sich Komplikationen wie innere Blutungen oder Nierenversagen abzeichnen. So sollen Ärzte eingreifen können, ehe es für die Patienten lebensbedrohlich wird.

Aufwändige Untersuchungen, die oft Eingriffe in den Körper verlangen, will der Radiologe Florian Michallek mit höherer Mathematik vereinfachen: Fraktalanalyse könne helfen, Herzkrankheiten, aber auch Krebserkrankungen zu erkennen, erklärt Michallek. Dazu werden die Aufnahmen von CT- oder MRT-Scans per Software untersucht und durch komplexe Algorithmen so weit verfeinert, bis sich zeigt, ob eine Erkrankung vorliegt. Allein bei Protatakrebs ließen sich auf diese Weise 400 Millionen Euro im Jahr sparen, wenn herkömmliche Biopsien durch Fraktalanalyse ersetzt würden, erklärt Michallek. „Wir prüfen auch den Einsatz von Fraktalanalyse für Brustkrebs.“ Eine Patentanmeldung läuft.

Aus zwei Projekten sind bereits Firmen entstanden: Boca Health misst Schwankungen im Wasserhaushalt des Körpers, um daraus Hinweise auf Nierenschäden oder Herzerkrankungen abzuleiten. Motognosis nutzt Video-Aufnahmen für die Beobachtung von motorischen Störungen – etwa bei Parkinson-Patienten oder Menschen, die oder Multipler Sklerose leiden. Das soll Ärzten helfen, auch aus der Ferne zu beobachten, wie gut die verschriebenen Arzneien wirken.

Bisher verwendet Motognosis dazu die Kinect-Bewegungserkennung der Xbox, die Microsoft nicht mehr weiterentwickeln will. Das Startup arbeitet aber daran, die Technologie auch auf andere Systeme zu übertragen, darunter Intels Realsense. Vier Jahre Forschung stecken in der Idee, erzählt Mitgründer Sebastian Mansow-Model. „Auf Kongressen sind Neurologen auf uns zugekommen und haben gesagt: ,Das brauchen wir. Gibt es das auch als Produkt?‘“

Nun steht Motognosis vor der gleichen, großen Herausforderung wie alle anderen hier: Medizin ist kein Markt wie jeder andere. Behörden und Vorschriften regeln, wer was tun darf – und wie und wann und warum. Ärzte, Kliniken und Pharmakonzerne wollen Geld verdienen, während Krankenkassen versuchen, die Kosten in den Griff zu bekommen.

Deshalb geben Skeptiker den vielen neuen Ansätzen, Krankheiten zu behandeln (oder sogar zu verhindern), nur geringe Chancen: „Das sind alles Insellösungen“, sagt der Herzspezialist Joachim Wunderlich, der im Publikum sitzt und die Pitch-Parade wenig beeindruckt an sich vorüberziehen lässt. Nötig wäre aus seiner Sicht eine grundlegende Reform des Gesundheitssystems, angefangen mit der Digitalisierung der Patientendaten – so, wie es in Ländern wie Dänemark oder Israel längst Alltag ist.

Marc Dewey, der Entwickler des digitalen Herzdiagnose-Systems, kennt solche Einwände. Er weiß, dass die Abwehrkräfte des Gesundheitsapparats anschlagen, wenn Möchtegern-Revolutionäre wie er mit neuen Ideen kommen. Aber er habe auch die Erfahrung gemacht, dass viele offen seien, dem Neuen eine Chance zu geben, erzählt der 41-Jährige: „Ich kriege überwiegend positive Reaktionen.“ Schließlich wollten viele Ärzte in erster Linie für ihre Patienten da sein und nicht einfach nur Geld scheffeln.

Im Idealfall könnten also in wenigen Jahren Menschen, die Schmerzen in der Brust verspüren, zu ihrem Hausarzt gehen und bekämen eine individuelle Einschätzung auf Basis vergleichbarer Fälle, ohne dass der Arzt ein Herzspezialist sein muss. Dank des Systems aus der Uniklinik in der Berlin. „Alles, was wir heute gezeigt haben, sind Dinge, die aus der Forschung kommen“, sagt Dewey.

Es ist die wissenschaftliche Neugierde, die ihn antreibt, der Drang, mit immer neuen Methoden zu verstehen, was im Körper schiefläuft oder demnächst schieflaufen könnte. Deshalb mag er sich auch nicht vorstellen, eines Tages seine Professur aufzugeben, selbst wenn ihn seine Forschung zum erfolgreichen Unternehmer machen sollte. „Ich werde nie den universitären Bezug aufgeben“, versichert Dewey. „Ohne die Studenten, das Umfeld hier, hätten wir nicht die Hälfte der Ideen entwickelt. Aber ich bin auch nicht jemand, der nur im Elfenbeinturm sitzen will.“

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