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Unkontrollierbare Scheißstrecke: Warum die Rocket Beans Erfolg haben

von Max Biederbeck
Wie heftig müssen TV und Streamer miteinander kämpfen? Wer diese Frage beantworten will, kommt am Ausnahmesender Rocket Beans TV mit seinen hunderttausenden Fans nicht vorbei. WIRED hat die Hamburger Zentrale des Medien-Startups besucht und gelernt: Die Bohnen haben längst ihre eigenen Tatsachen geschaffen. 

Die Verwandlung von Etienne Gardé vom Medienmanager zum Online-Star dauert wenige Minuten. Gerade noch saß er auf einer Couch im Büro seines Geschäftsführers. Das Hemd sauber unter den Pulli gesteckt, hat er Argumente abgefeuert: „Wir platzen aus allen Nähten“, sagte Gardé. „Entweder wir finden einen Sponsor für den Umzug in ein größeres Studio, oder wir suchen eine andere Möglichkeit.“ In diesem Moment rappelt der Slack-Messenger des 39-Jährigen, und Gardé, tausende im Internet kennen ihn nur als Eddie, bricht das Gespräch mit seinem Chef abrupt ab.

Seine Augen hüpfen kurz über eine Nachricht auf seinem Computer, dann springt er auf die Beine und hastet aus der Tür. Die Zentrale der Rocket Beans Entertainment GmbH im Hamburger Schanzenviertel ist ein verwinkeltes Treppenhaus. Gardé kennt es seit Jahren, es gibt hier keinen Ort, an dem er noch keinen Filmbeitrag gedreht hat. Es dauert auch heute nicht lange, bis er ein kleines Studio weiter oben gefunden hat. Dort zieht er seine Schuhe aus, auch Hemd, Pullover und Hose. Eine deutsche Internet-Legende in weißer Unterwäsche – und eine ganze Crew wartet auf ihn, bereit für die Transformation.

Gardé ist einer der Gründer von Rocket Beans TV, dem vielleicht erfolgreichsten Internet-Kanal in Europa. Den deutschen Fernsehpreis hat die gleichnamige Produktionsfirma aus Hamburg damit abgeräumt, auf Twitch verfolgen knapp 270.000 das Programm der Bohnen. Dazu kommen rund 500.000 YouTube-Abonnenten. Kombiniert man die Klicks auf YouTube mit der Zahl ihrer Fans, kommen die Rocket Beans auf rund 1,2 Millionen Stunden Spielzeit in der Woche (sogenannte Watched Hours).

In nur drei Jahren ist der Sender von einer Notlösung mit nur 20 Mitarbeitern zu einem florierenden Medien-Startup mit 90 Angestellten gewachsen. Die Firma arbeitet mit Produzenten, Maske, Marketing-Leuten, Reportern, Moderatoren – alles entstanden, weil einige Querköpfe aus dem Videospiele-Journalismus nicht damit leben wollten, dass das Fernsehen ihnen den Geldhahn zudreht.

Mittlerweile kooperieren die Rocket Beans im Internet mit Funk – dem jungen Programm von ARD und ZDF – genauso wie mit RTL2. Aus der deutschen Games-Landschaft sind ihre Spieletests und Let’s Plays nicht mehr wegzudenken. Es gibt eigene Morning Shows, Talk-Formate, Nachrichtenbeiträge. Immer geht es um Computerspiele, Filme, Musik oder Brettspiele. Alles, was das Nerd-Universum zu bieten hat. Nur: So richtig definiert, was diese bunte Anarcho-Truppe aus Hamburg eigentlich für die Medienwelt bedeutet, das hat noch niemand. Gehören sie wirklich zu den Vorboten einer Unterhaltungsrevolution?

„Damit sehe ich ja aus wie eine Pellwurst“, lacht Gardé. Eine junge Kostüm-Expertin hat den Moderator in einen rotweißen Rennanzug gesteckt. Dazu gibt es den passenden Motorrad-Helm – mattrot lackiert. Überall im Studio fliegen solche Requisiten herum. Jede Ecke dient als eigenes Set. Vom sportlichen Gamer-Tisch mit Rennsitzen auf der einen Seite bis zur gemütlichen Zocker-Ecke mit Couch auf der anderen. Gardé posiert jetzt links vor einem großen Green-Screen. Vor der Kamera spricht er nicht mehr vom Sender-Ausbau und von Investoren. Sein Chef heißt jetzt Trant: Regisseur, Planer und Rocket-Beans-Urgestein.

„Was machst du mit dem Spieler?“, fragt Trant. „Ich setze ihn in ein unkontrollierbares Scheißauto“, antwortet Gardé unter seinem Helm, „und lasse ihn über eine unkontrollierbare Scheißstrecke fahren, mit wechselnden Untergründen.“ – „Du wirst langsam brutal, Dirt4, brutal und sadistisch“, antwortet Trant. Eine Stunde lang werden zahlreiche MitarbeiterInnen an der Szene werkeln. Ein riesen Aufwand für einen Video-Test des Renntitels Dirt4, den die Rocket Beans eine Woche später online stellen werden.

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Eddies Dreh als fertiges Produkt in der GameTwo-Review zum Spiel Dirt4 ab Minute 28:45

Vier Jahre früher. Ein erfolgreiches Projekt wird begraben. Der Sender MTV und sein US-Mutterunternehmen Viacom haben kein Geld mehr, um eine eigene Serie über Videospiele zu finanzieren. Nach acht Jahren und 300 erfolgreichen Folgen der Show Game One ist Schluss. Das Projekt steht vor dem Aus, eine über Jahre aufgebaute Online-Community droht zu zerfallen, trotz kreativer Inhalte, kritischem Journalismus und positivem Feedback von allen Seiten. Game One und seine Macher stehen kurz davor, den Weg vieler kreativer Sendungen zu gehen: Der Druck durch Quoten und Planer würde sie im Nichts verschwinden lassen. 

Stattdessen ergreifen Gardé und seine Kollegen aber die Flucht nach vorne und ihr kleines Team setzt sein ganzes Geld auf Livestreaming im Internet. „Wir wollten das schon die ganze Zeit machen, aber es war nur eine Idee. Auf einmal mussten wir volles Risiko gehen“, erklärt Gardé. Das damals noch junge Unternehmen Rocket Beans entwickelt in Windeseile neue Video-Formate und Sende-Konzepte. Dann starten sie im Januar 2015 ihren Sender, zunächst auf Twitch dann auf YouTube. Der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten, die Game-One-Community bleibt den Bohnen treu, weil die Bohnen schon lange gute Online-Arbeit machen und sich die Leute an den täglichen Blick in ihre Angebote gewöhnt haben.

Seitdem kämpft das Unternehmen auf einem ganz anderen Markt – mit anderen Problemen und anderen Konkurrenten. Der Gegner, gerade im jungen Zuschauersegment, ist nicht länger das Fernsehen. Zahlen der aktuellen ARD-ZDF-Onlinestudie zeigen: 58 Prozent der 14-29-Jährigen schauen täglich Online Videos. Tendenz steigend. Knapp 80 Prozent besuchen dazu Videoportale wie YouTube oder Twitch. Die Nutzungsdauer ist seit 2000 stark gestiegen: 2015 verbrachten junge Menschen 187 Minuten am Tag online. Vor dem Fernseher hocken sie immerhin noch 144 Minuten, Tendenz aber fallend.

Eine Studie der YouTube-Mutter Google feiert begeistert die Strahlkraft der Internet-Promis unter Jugendlichen: Demnach ist Video-Sternchen Bibi von BibisBeautyPalace unter Teenagern schon beliebter als Heidi Klum, Online-Spielezocker Gronkh nahbarer als Manuel Neuer, News-Erzähler LeFloid glaubwürdiger als Joko Winterscheidt. Solche Erkenntnisse kommen natürlich den Geschäftsinteressen der Video-Plattform entgegen. Es ist aber nicht zu übersehen: Das Fernsehen verliert seine Zuschauer nicht nur an Netflix und Amazon, es verliert sie auch an tausende junge Entertainer mit Kamera und spitzer Zielgruppe. „Wen wundert es, dass wir Enddreißiger die Jüngeren nicht erreichen? Wir sind alles alte Säcke!“, fragt auch Etienne Gardé. Er trifft damit einen wunden Punkt der deutschen Unterhaltungsindustrie.

Die Pro7-Gruppe setzt noch immer auf vermeintlich „junge“ Zugpferde wie Joko und Klaas. Die beiden sind weit über dreißig, sie erreichen längst nicht mehr so viele Jugendliche wie das die Pro7-Planer gerne hätten. Mitte Juni musste Pro7 ihre Sendung „Circus Halligalli“ sogar einstellen. Die Quoten waren schon lange nicht mehr gut – Gronkh, LeFloid und Bibi sind deutlich jünger und begeistern weiterhin Millionen. Auch die Öffentlich-Rechtlichen versuchen mittlerweile verzweifelt, mit ihrem Social-Media-Angebot Funk wieder ein junges Segment zu erreichen.

Wie passen die Bohnen in diese Entwicklung? Die Produktionsfirma aus Hamburg erreicht nach wie vor nicht die Quoten eines YouTube-Stars, sie hat auch nicht die enormen finanziellen Ressourcen eines großen TV-Senders. Dennoch ist das Medien-Startup seit Jahren auf einem stetigen Erfolgskurs. „Wir sind nicht Fernsehen, wir sind nicht YouTube, wir sind ein komischer Hybrid“, erklärt das Gardé.

Es gibt in der Tat einen Unterschied zwischen der Bohnen-Truppe und allen anderen. Dem Fernsehen haben die Rocket Beans voraus, dass sie im Internet einen enormen Vorsprung haben. Die Bohnen kennen ihre Community genau und arbeiten auf eine Weise mit ihr, wie es das Fernsehen nicht kann. Wird ein Video aufgenommen, schneidet eine eigene Redakteurin immer auch ein Making-of-Video mit. Wer einer Sendung zuschaut, kann parallel dazu mit anderen chatten und live kommentieren.

Aus einer TV-Show entwickelt sich so ein gemeinsames Erlebnis unter Freunden, bei dem alle das Gefühl bekommen, direkt dabei zu sein. Die Rocket Beans können neue Moderatoren, Formate und Shows direkt zusammen mit ihren Zuschauern entwickeln. Sie müssen neue Ideen nicht blind testen oder auf irgendwelche Quoten vertrauen.

Gegenüber YouTubern auf der anderen Seite können die Fernseh-Sprösslinge Eddie, Budi, Simon und Nils ihre TV-Erfahrung ausspielen. Sie bauen keine Ein-Mann-Show auf, wie es die Entertainer Gronkh oder LeFloid tun, sondern einen ganzen Sender. In dessen System haben die alternden Stars längst begonnen, Stück für Stück neue Talente in ihre Community einzuführen. Erst mit kleinen Gastauftritten, dann mit eigenen Beiträgen und dann ganzen Sendungen. Rocket Beans TV kann so, was ein Gronkh nicht kann: für immer jung bleiben, auch wenn die aktuellen Moderatoren-Helden zu alt fürs Publikum werden.

Rocket Beans TV ist sozusagen eine sich selbst ölende Maschine. In der Tat haben die Bohnen einen Hybrid zwischen alter und neuer Sende-Welt erschaffen. Man könnte auch sagen Rocket Beans vereint zwei Welten miteinander, die viele Experten eigentlich als Antagonisten einstufen. Dieses System hat Erfolg, die Zuschauer lieben den Sender, der ihnen als täglicher Club-Treff dient.

Etienne Gardé trägt jetzt wieder Hemd und Pulli. Ein wenig verschwitzt ist er. Es bleibt eine Stunde Pause bis zum nächsten Dreh. Die grüne Leinwand hinter ihm rollen seine Kollegen bereits hastig zusammen. Wo geht es als nächstes hin mit den Rocket Beans? „Wir sind alle mehr oder weniger Nerds in irgendwas“, sagt Gardé. Die Bohnen würden jetzt und in Zukunft Programm zu allem machen, in das man sich richtig reinsteigern kann. „Richtige Sendungen über Musik, über Kinofilme oder eben Spiele gibt es doch gar nicht mehr. Wir bringen das zurück“, sagt Gardé – „statt dieser Shiny-Floor-Showtreppe, die sie im TV unbedingt dauernd haben müssen.“

Dieser Artikel ist Teil der WIRED Story Shots – Denkanstöße zu den wichtigsten Fragen der Digitalisierung. Diese Woche: Let’s Play – sind einige Spiele-Nerds im Internet in Wahrheit Teil einer Entertainment-Revolution?

Teil 1
Scheiß auf Fernsehen, schaut PietSmiet – über einen Kampf um Sendefreiheit
Teil 2
Guest-Shot: Gegen Let’s Player haben TV-Showleute keine Chance mehr!
Teil 3
Was bedeutet der Erfolg von Deutschlands größtem Internet-Sender „Rocket Beans TV“?

Teil 4
Kommentar eines Gamers: Interessieren sich Let's Player überhaupt noch für ihre Spiele?!
Teil 5
Werden YouTuber wie Rewinside zum nächsten Thomas Gottschalk?
Teil 6
Live-Streams entwickeln sich zum interaktiven Teleshopping!

+++ In den vergangenen Story Shots behandelten wir das Thema: Mega-Mensch – Wie verschmelzen wir mit der Technologie? +++

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