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Predictive Policing in Chicago: Die Verbrecher der Zukunft stehen heute schon fest

von Sonja Peteranderl
Die Polizei in Chicago ist ein Pionier des Predictive Policing. Software für vorausschauende Polizeiarbeit soll besonders gefährdete Personen und Wiederholungstäter im Visier behalten – doch das Tool ist längst zu einem Instrument der Massenüberwachung mutiert.

„Nigga, you don't know how to shoot,“ höhnte Young Pappy in seinem Song „Shooters“ – bevor er ermordet wurde. Zwei Mordanschläge auf den Nachwuchsrapper schlugen fehl, beim dritten Mal trafen ihn Kugeln in den Rücken, während er an einem Freitagmittag am 29. Mai 2015 die North Kenmore Avenue in Chicago entlanglief. Der 20-jährige hatte den Soundtrack zu der Gewalt auf Chicagos Straßen geliefert – mit Gangster-Rap wie Killa oder Chiraq, einer Anspielung auf die Gewalt und die hohen Mordraten in der 2,7-Millionen-Stadt Chicago, in der es angeblich brutaler zugeht als im Irak-Krieg. Allein 2018 sind bereits mehr als 520 Menschen bei Schießereien gestorben.

Die Polizei hatte den jungen Rapper schon länger im Visier: Young Pappy, mit bürgerlichem Namen Shaquon Thomas, stand auf der Strategic Subject List (SSL) – einer 2013 eingeführten Datenbank der Chicagoer Polizei, die helfen soll, potentielle zukünftige Verbrecher, aber auch besonders gefährdete Bürger im Blick zu behalten.

Das Kalkül: Wenn eine begrenzte Personengruppe besonders häufig an Gewalttaten beteiligt ist, ist es für die Sicherheitsbehörden effizienter, sich auf sie zu konzentriert. Die als Risikopersonen eingestuften Bürger werden von der Polizei besucht und vorgewarnt, um zu verhindern, dass die Prognose eintritt. Auch soziale Unterstützung sollte die Zielpersonen ursprünglich auffangen. Ein Algorithmus berechnet die Wahrscheinlichkeit, inwieweit Personen Täter oder Opfer bei einer Schießerei werden könnten, und vergibt einen Heat Score mit bis zu 500 Punkten. Ganz oben auf der Liste rangieren Menschen mit besonders hohem Risiko, zu denen auch Young Pappy zählte.

Der Algorithmus, dein Freund und Helfer?

Chicagos Polizei war eine der ersten Polizeieinheiten weltweit, die mit Predictive Policing, vorausschauender Polizeiarbeit, experimentiert hat. Die Stadt ist aber auch zum warnenden Beispiel dafür geworden, wie digitale Polizeiarbeit sich unkontrolliert zur Massenüberwachung ausweiten kann.

Algorithmen im Polizei- und Sicherheitsbereich berechnen weltweit zunehmend, wo bestimmte Verbrechen wie Einbrüche mit hoher Wahrscheinlichkeit auftreten könnten – oder welche Personen zum Täter werden könnten. Software durchforstet Datenberge, sucht nach Mustern und kalkuliert den möglichen Ort und die Art des potentiellen Verbrechens. Je nach verwendeter Software und deren Einstellungen fließen in die Bewertungen unterschiedliche Informationsquellen ein: beispielsweise Strafregister und Kriminalfälle aus der Vergangenheit, aber auch soziodemografische Daten, Bonität, Wetterprognosen und Verkehrsdaten, sowie zum Teil auch aktuelle Informationen, etwa aus sozialen Netzwerken.

Für die deutsche Polizei sucht Software etwa nach Mustern bei Einbrüchen, derzeit wird auch ein Scoring-System für kriminelle Asylbewerber ausgearbeitet. Solch personenbezogene Risikobewertungen sind umstritten – wie auch Chicagos SSL-Liste.

Wie die Risikoprognosen in Chicago entstehen und welche Daten mit welchem Gewicht in die Berechnungen einfließen, hat die Polizei von Chicago lange unter Verschluss gehalten. „Wir haben über Medienberichte von der SSL erfahren, aber alles war sehr geheim“, sagt Freddy Martinez, Entwickler und Gründer des Lucy Parsons Lab in Chicago, das Polizeiarbeit aus technischer Perspektive analysiert und Missstände wie Polizeigewalt, Überwachung und Diskriminierung transparent macht. „Wir wollen, dass die Polizei Rechenschaft ablegen muss und haben versucht zu ermitteln, was die Inputs sind, wie der Algorithmus aussieht und ob es Verzerrungen und Diskriminierung gibt.“

Nach viel Kritik hat die Stadt immerhin auf ihrem Open Data Portal 2017 die Art der Variablen und einen anonymisierten Datensatz zu Verhaftungen bis 2016 im Zusammenhang mit der SSL veröffentlicht. So spielt etwa der Kriminalitätstrend eine Rolle, also ob jemand weniger oder häufiger auffällig ist, Verhaftungen wegen Waffenbesitz und andere bisherige Delikte, sowie das Alter. Auch die Beteiligung an Schießereien, sowie die Zuordnung zu einer Gang beeinflussen die Prognose. Soziale Netzwerke sollten ursprünglich ebenfalls eine Rolle spielen – allerdings ist nicht öffentlich bekannt, welche Kontakte in welchem Umfang ausgewertet werden. Doch nur 3,6 Prozent der durch die SSL erfassten Personen waren dem Chicagomag zufolge tatsächlich an „Gewalt beteiligt“, also als Täter oder Opfer in eine Schießerei involviert. Und es sind besonders häufig schwarze junge Männer, die von der SSL erfasst werden: 56 Prozent der afro-amerikanischen Männer in Chicago zwischen 20 und 29 Jahren wurden mit einem Risikowert bedacht.

Der ermordete Rapper Young Pappy war als Schüler beim Kiffen erwischt worden, danach wurde er immer wieder auffällig. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er elf kleinere Delikte sowie eine Verurteilung wegen Waffenbesitzes angehäuft und saß ein Jahr im Gefängnis. „Er hat angefangen zu kiffen, hing mit den falschen Leuten ab und kam immer wieder in den Jugendarrest“, sagte seine Mutter zu Vice.

Die Gang-Datenbank ist fehleranfällig

Personen, die auf der SSL stehen, werden nicht darüber informiert, warum – zudem passt die Polizei die Kriterien immer wieder an. „Die Eigenschaften, die vom Strategic-Subject-Algorithmus genutzt werden, ändern sich, da das Modell laufend aktualisiert wird“, schränkt die Stadtverwaltung die Aktualität der Daten ein. Martinez zufolge existieren „mindestens fünf Generationen der SSL“ – und das ist nicht das einzige Problem. „Wir wissen, welche die Variablen sind, aber es gibt keinen Weg herauszufinden, wie die Variablen genau kalkuliert werden“, so der Informatiker. „Was wir aber sehen: Manche Variablen sind ganz klar voreingenommen, wie die Aufnahme in die Gang-Datenbank.“ Während Young Pappys Mutter abstreitet, dass er einer Gang angehörte, rechnete die Polizei ihn etwa den Gangster Disciples zu.

Wie die Investigativredaktion von ProPublica Illinois recherchiert hat, ist Chicagos Gang-Datenbank fehleranfällig: Es fließen im Nachhinein mitunter fragwürdige Einschätzungen in die SSL ein und verzerren die Risikoberechnung. „Mir ist klar geworden, dass die Datenbank mit zweifelhaften Einträgen, Diskrepanzen und offensichtlichen Fehlern gespickt ist“, sagt der ProPublica-Reporter Mick Dumke. Er hat die Einträge in der Gang-Datenbank mit Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz erhalten und ausgewertet.

Demzufolge werden Dutzende Rentner sowie über 100-Jährige, die Mitte der 1980er Jahre in Gangs aktiv waren, als Kriminelle eingestuft. Dazu kommen Bürger, die nur von der Polizei angehalten wurden, ohne eine Straftat begangen zu haben, ebenso wie Menschen, die im falschen Stadtviertel wohnen. „Die internen Regeln der Abteilung für die Klassifizierung von Personen als Bandenmitglieder sind verschwommen“, so das Fazit von Dumke. „Wenn Verdächtige zugeben, dass sie in einer Gang sind oder Banden-Tattoos haben, zählt das. In einigen Fällen stützt sich die Polizei bei der Entscheidung auf das, was sie von Quellen hört.“

Das ist ein System der Massenüberwachung

Freddy Martinez

Auch die SSL-Datenbank, die anfangs rund 1000 Personen umfasste, ist inzwischen stark aufgebläht. Etwa 1400 Personen sind derzeit als Hochrisikopersonen erfasst, insgesamt wurden mehr als 400.000 Menschen mit einem Risikowert eingestuft. „Das ist ein System der Massenüberwachung“, kritisiert Martinez. „In der Version der SSL von 2015 war etwa jeder erfasst, der jemals verhaftet wurde. Das Problem ist aber, dass Polizeiarbeit und Festnahmen nicht gleichmäßig über die Gesamtbevölkerung verteilt sind.“

Auch wenn ethnischer Hintergrund und Geschlecht der Polizei zufolge keine Rolle bei der Risikobewertung spielen, spiegeln sich soziale Ungleichheit und Rassismus im System wider. Da die Polizei etwa schwerpunktmäßig in Brennpunkten kontrolliert und Razzien durchführt, werden mehr Latinos und Afroamerikaner als weiße Bürger festgenommen und erfasst. „In Chicago haben wir eine von Rassismus und Gewalt geprägte Geschichte der Polizei, die einfach Leute festnimmt – ohne Anklage. Sie halten sie tagelang fest – ohne Anwälte – und schlagen oder foltern sie“, beklagt Martinez. Jugendliche würden auch ohne speziellen Anlass immer wieder angehalten und durchsucht. „Das ganze Kriminal- und Justizsystem ist gegen dich, egal ob es die Polizei auf der Straße oder eben die SSL ist.“ Er glaubt, dass die Liste ausgeweitet werden wird, obwohl sie nicht effektiv ist – und „obwohl es nur Junk Science ist“.

Sozialarbeit wird an die Polizei ausgelagert

Theoretisch sollten soziale Präventionsmaßnahmen verhindern, dass die Menschen auf der Liste tatsächlich zum Opfer oder Täter werden. Theoretisch sollten Risikopersonen Besuch von der Polizei bekommen: Zusammen mit einem Sozialarbeiter würde ein Polizeibeamter die Person an ihrem Wohnsitz aufsuchen und mit ihr oder Familienangehörigen sprechen. Gemeinsam könnten sie Lösungsmöglichkeiten für Probleme aufzeigen und soziale Unterstützung anbieten. So soll ein Netz geknüpft werden, das gefährdete Bürger auffängt. Allerdings: wie die Unterstützung konkret funktioniert, ist unklar. „Die Stadt sagt, dass sie versucht die Leute zu überzeugen, der Kriminalität den Rücken zu kehren, aber es ist unklar, was genau sie anbietet“, sagt Martinez. „Sie warnen dich aber auch: Wenn du trotzdem verhaftet wirst, dann wird die Stadt versuchen, die höchstmögliche Strafe für dich zu finden.“

Der Softwareexperte hält es für problematisch, dass die Sozialarbeit so teils an die Polizei ausgelagert wird. „Es ist vollkommen unklar, was der Fokus des Programms ist“, kritisiert er. „Die SSL ist eher eine Form zu rationalisieren, wie man mit jungen schwarzen Männern umgeht.“ Auch eine Studie des militärnahen Think Tanks Rand Corporation kam zu dem Ergebnis, dass vor allem Verhaftungen zunehmen: „Bei Personen auf der SSL ist es nicht mehr oder weniger wahrscheinlich, dass sie Opfer eines Mordes oder einer Schießerei werden als bei der Vergleichsgruppe. Die Zielpersonen werden aber mit höherer Wahrscheinlichkeit wegen einer Schießerei festgenommen", so die Rand-Studie. Die Kriminalitätsrate in der Stadt wurde dagegen nicht positiv beeinflusst.

Auch der Rapper Young Pappy hatte mehrfach Besuch von der Polizei, er wurde bei jedem kleineren Vergehen festgenommen und Polizisten kontaktierten ihn und seine Mutter immer wieder persönlich, um ihn zu beeinflussen. Geholfen hat das nicht.

In Chicago wird die digitale Polizeiarbeit unterdessen weiter ausgebaut. Im vergangenen Jahr hat das Chicago Police Department sogenannte Strategic Decision Support Centers eingerichtet, die als Knotenpunkte für die High-Tech-Polizeiarbeit dienen sollen. Zukünftig soll ihre Zahl verdoppelt werden. In den Zentren laufen laut Jonathan Lewin, dem Digitalchef der Polizei, alle Fäden zusammen: Mit der Vernetzung von Tools wie Predictive-Mapping- und Predictive-Policing-Software, Systemen zur Echtzeit-Analyse von Schüssen, Überwachungskameras und Hinweisen von Bürgern könne die Polizei Risikogebiete identifizieren und „all diese Tools in einer einfach nutzbaren und leicht verständlichen Plattform zusammenführen“, erklärte Lewin laut dem Portal Government Technology Anfang des Jahres auf einer Diskussionsrunde im Rahmen der CES in Las Vegas.

Im Fall von Rapper Young Pappy war das hohe Risiko auch ohne Risiko-Liste vorhersehbar. „Jeder sah es kommen: die Polizei, Nachbarn und Reporter wie ich“, sagt der Journalist Ben Woodard, der den Aufstieg des Gangster-Rappers verfolgt hat. „Es war einfach nur die Frage, wann.“

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