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Neutronenquelle in Grenoble: Ein Atomreaktor für die Wissenschaft

von Dominik Bardow
Radioaktivität hat ein mieses Image. Dabei gibt es Atomreaktoren, die nicht zur Stromerzeugung dienen – und von denen nicht die Gefahr der Meiler von Tschernobyl oder Fukushima ausgeht. Die europäische Neutronenquelle in Grenoble etwa ist ein Mekka für Physiker, Biologen, Geologen und andere Forscher. WIRED-Reporter Dominik Bardow konnte sich dort umsehen und berichtet in einer Serie über die Strahlung im Dienst der Wissenschaft.

Bevor ich gehen darf, muss ich auf die Waage. Zumindest sieht das Gerät aus wie eine dieser Wahrsagerwaagen auf Jahrmärkten, die einem Gewicht und Horoskop verraten. Hier handelt es sich allerdings um einen Strahlenmesser, der verrät, ob ich radioaktiv verseucht bin. Ich steige also auf die Plattform und halte meine Hände in zwei Löcher. Auf der Anzeige steht „kontaminiert/nicht kontaminiert“, ein Fortschrittsbalken kündigt das Ergebnis an: 20 Prozent… 40 Prozent… 60 Prozent… 80 Prozent…

Bevor wir auflösen, ob ich einen qualvollen Strahlentod sterben muss, sollten wir vielleicht klären, wo ich überhaupt bin: in einem Forschungsreaktor in den französischen Alpen. Das europäische Institut Laue-Langevin (ILL) in Grenoble hat WIRED die Möglichkeit gegeben, sich die stärksten Neutronenstrahlen der Welt anzuschauen. Wobei man einen Neutronenstrahl mit bloßem Auge nicht sehen kann. Er sorgt allerdings dafür, dass Forscher winzigste Strukturen auf molekularer Ebene erkennen. Und verhilft ihnen so zu bahnbrechenden Entdeckungen, die unser Leben jeden Tag erleichtern.

In einer Serie werden wir Forscher am ILL vorstellen, die etwa untersuchen, wie schädlich Diesel-Partikel wirklich für unsere Lungen sind. Wie die Batterien der Zukunft aussehen. Und wie das Leben auf der Erde entstehen konnte – und auf anderen Planeten. Ziemlich cooles Zeug also.

Die Neutronen funktionieren wie ein Super-Mikroskop

Die meisten Nicht-Wissenschaftler werden dennoch mit Begriffen wie „Neutronenstrahl“ oder „Neutronenquelle“ nichts anzufangen wissen. Wir anfangs auch nicht, ehrlich gesagt. Daher ein kurzer Physik-Grundkurs: Ein Atomkern besteht aus Protonen und Neutronen. Wenn im Kernkraftwerk Atome gespalten werden, gehen dabei die Neutronen verloren. In Forschungsreaktoren werden einige von ihnen gesammelt und zu Strahlen gebündelt. Denn Neutronen können selbst Materialien durchdringen, von denen Röntgenstrahlen abprallen würden. Sie funktionieren also wie ein Super-Mikroskop, das sogar Moleküle zeigt. Soweit zur Theorie.

Nun zur Praxis. Selbst in den französischen Alpen, die sich rund um Grenoble auftürmen, ist das ILL nicht zu übersehen. Eine riesige weiße Kuppel scheint laut zu rufen: Hallo, Atomkraftwerk! Ein Anblick, der seit Fukushima für ungute Gefühle sorgt. Für welche friedlichen Forschungszwecke Reaktoren dienen können, gerät in Zeiten des Atomausstiegs fast in Vergessenheit.

Das ILL stammt auch aus einer Zeit, als in der Kernkraft noch die Zukunft gesehen wurde: 1967 einigten sich Deutschland und Frankreich, knapp 20 Jahre nach dem Krieg, gemeinsam einen Hochflussreaktor zu bauen. Später kamen Großbritannien und elf weitere europäische Länder dazu. Heute führen hier jedes Jahr 1400 Gastforscher über 800 Experimente durch, sie betreiben Grundlagenforschung in Physik, Chemie, Biologie, Werkstoffkunde, Geo- und Ingenieurswissenschaften.

Dennoch dürfte der Teilchenbeschleuniger CERN im benachbarten Genf deutlich bekannter sein. Anders als zum CERN haben Besuchergruppen aber keinen Zutritt mehr zum ILL in Grenoble. Sicherheit hat in Zeiten der Terrorangst in Frankreich oberste Priorität. Die Führung durch die Forschungsanlage ist also eine große Ausnahme. Dabei hat mir Mark Johnson, Direktor der Wissenschaftsabteilung des ILL, vorher noch erklärt: „Die Chance eines Unfalls beträgt eins zu einer Million. Wir produzieren hier zwar die stärksten Neutronenstrahlen der Welt, aber nur fünf Prozent der Energie eines Atomkraftwerks.“ Man könnte den Strom abschalten, der Reaktor würde noch ewig weiter laufen und nicht überhitzen. Die Anlage sei so gebaut, dass keine signifikante Strahlung austreten würde. „Das ist hier nicht wie bei Fukushima oder Tschernobyl.“

Es ist ein Strahlenmesser, der piepen würde, falls ich kontaminiert bin.

Dominik Bardow

Ich darf auch nicht den Reaktorkern selbst beobachten: Das ist ein blau schimmernder Schacht, an dessen Grund hoch angereichertes Uran in einem Wasserbecken gekühlt wird. Besuchen darf ich nur die angrenzende Forschungshalle und ihre über 40 Instrumente. Dennoch wird mir mulmig, als mir am Eingang eine Art Chipkarte ausgehändigt wird, die ich am Gürtel befestigen soll. Es ist ein Strahlenmesser, der piepen würde, falls ich kontaminiert bin. Ich hoffe, er piept nicht.

Neutronen haben zwar keine elektrische Ladung, aber sie erzeugen Gammastrahlen, wenn sie auf gewisse Materialien treffen, den Menschen zum Beispiel. Würde ich mich einige Minuten in einen Neutronenstrahl stellen, würde er schon genetische Schäden bei mir anrichten. Eine Strahlenkrankheit, wie sie auch nach Atomwaffenexplosionen auftritt, kann zu Hautschäden, inneren Blutungen und zum Tod führen. Also lieber nicht piepen.

Arbeit an der Grenze zur Radioaktivität

Die Forschungshalle ist ein riesiges Durcheinander aus Rohren, Kabeln und Containerhäuschen, Trennwänden, Gittern und Treppen. Über allem dröhnt das Brummen einer Kühlungsanlage. Ein bisschen sieht es aus wie im Möbellager bei Ikea, weil viele der Röhren blau und gelb sind. Überall hängen rot leuchtende Symbole, die vor Radioaktivität warnen, und „Zutritt verboten“-Schilder.

Einer, der sich im diesem Gewimmel zurechtfindet, ist Matthew Blakeley. Der Engländer ist einer der Forschungswissenschaftler, die die Instrumente betreuen. Er zeigt mir ein Gerät namens „Neutronen-Diffraktometer“. Von außen sieht es aus wie ein schwarzes Fass, in das ein Rohr führt. Damit werden Neutronen hineingeleitet, die eine Protein-Probe bestrahlen. Was aussieht wie ein Fass, kann tatsächlich den Ausbruch von AIDS verhindern.

„Wir arbeiten daran, die Wirkung von HIV-Medikamenten im Körper zu verbessern“, erklärt Blakeley. „Dafür müssen wir Wasserstoff-Verbindungen in Proteinen untersuchen. Und die können wir nur mit Neutronenstrahlen erkennen.“ Er führt in den Container, in dem das schwarze Fass steht. Länger als einige Minuten sollten wir uns hier nicht aufhalten. Blakeley führt vor, wieso: Er nimmt einen Holzstock, an den er einen Strahlenmesser gebunden hat. Er hält den Stock über das Absperrgitter, neben das schwarze Fass. Der Strahlenmesser an der Spitze leuchtet grün: Hier fließen Neutronen durch die Luft. „Das ist die einzige Art, wie man sie sehen kann“, sagt Blakeley und lacht.

Atomkraftwerke produzieren Energie, wir produzieren Wissen.

Thomas Saerbeck

Wird ihm nicht mulmig, so nahe an der Grenze zur Radioaktivität zu arbeiten? Er schüttelt seinen Kopf. „Auf einem Langstreckenflug von Europa nach Amerika oder einer Radtour in den Bergen bekommen Sie mehr Hintergrundstrahlung ab, als wenn Sie ein Jahr hier arbeiten“, sagt er.

Es ist also vielleicht nur eines der vielen Vorurteile, die an Reaktoren haften: dass jede Art von Strahlung gleich schädlich ist. Dabei arbeiten an atombetriebenen Einrichtungen wie dem ILL Forscher und Doktoranden aus aller Welt auch daran, die Abhängigkeit von Atomstrom zu verringern: Sie verbessern Batterien, die dann mehr Solar- und Windenergie speichern können.

„Atomkraftwerke produzieren Energie, wir produzieren Wissen“, sagt Thomas Saerbeck, ein deutscher Instrumentenwissenschaftler, der am „Reflektometer D17“ arbeitet. Im Prinzip ein riesiges, 40 Meter langes Rohr, vor dem Proben in einem kleinen Kasten bestrahlt werden. Zum Beispiel Batterien. Er zeigt einen runden Klotz, der aussieht wie die große Schwester einer Knopfbatterie. „Im Prinzip das Gleiche, was in einem Handy verbaut ist, nur größer“, sagt er. Er legt den Klotz wieder weg und fährt sich mit einem Geigerzähler über die Hand. Reine Vorsichtsmaßnahme. Schließlich war die Batterie vorhin noch einem Neutronenstrahl ausgesetzt.

Das mit der Sicherheit vergleicht der oberste ILL-Direktor Helmut Schober mit einem Hausbesitzer, der schon sehr gute Türen hat. Dessen Frau höre dann von Einbrüchen in der Nachbarschaft. Also müssten noch bessere Türen her. „Im Atombereich fordert die Gesellschaft extrem hohe Sicherheit“, sagt Schober, „aber es herrscht schon das Bewusstsein, trotz des Atomausstiegs kein Know-How für Wissenschaft und Medizin zu verlieren.“ Zum Trend weg vom Atom passt, dass immer mehr Länder sogenannte Spallationsquellen bauen. Dort werden Neutronen ohne Kernspaltung im engeren Sinne gewonnen. 2023 soll in schwedischen Lund die Europäische Spallationsquelle (ESS) eröffnen, die leistungsfähiger als das ILL sein wird. „Beide Verfahren ergänzen sich“, betont Schober.

In der Wissenschaft arbeitet Europa noch zusammen

Wird der Forschungsreaktor in Grenoble nach 50 Jahren dennoch irgendwann zum Auslaufmodell? Schober will keine Prognose über das Jahr 2040 hinaus wagen. Die Verträge zum Betrieb des ILL werden von den Geberländern demnächst wieder um zehn Jahre verlängert. Ein Ende ist also erst einmal nicht in Sicht. „In der Wissenschaft arbeitet Europa trotz aller politischen Spannungen noch zusammen“, sagt Schobers Direktorenkollege Johnson.

Obwohl mich in der Instrumentenhalle 30 Meter Betonwand vom Reaktorkern trennen, bin ich froh, die Neutronenstrahlen wieder den Wissenschaftlern zu überlassen. An welchen spannenden Zukunftsprojekten die ILL-Forscher im Detail arbeiten, wird in den nächsten Serienteilen verraten.

Ach ja, und wir wollten noch aufklären, ob ich sterben muss. Der Fortschrittsbalken auf der Wahrsaagerwaage erreicht: 60… 80… 100 Prozent. Die Anzeige sagt: „Nicht kontaminiert“. Ich strahle vor Glück.

Am 27.10. erscheint der nächste Teil der WIRED-Serie zur Neutronenquelle in Grenoble. Darin geht es um die Schäden, die Luftverschmutzung in unserer Lunge erzeugt.

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