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Der Mann, der Microsoft veränderte

von Greg Williams
Satya Nadella will das Image von Microsoft nicht nur nach außen, sondern auch intern von dem des angestaubten PC-Softwareverkäufers befreien: 120.000 Mitarbeiter müssen da mitziehen. Jeder Einzelne solle „seine persönliche Leidenschaft finden, um alle gemeinsam stärker zu machen“, sagt Nadella. Genügt das, um weiter an der Spitze zu bleiben? WIRED hat den Chef eines der größten Softwareunternehmen der Welt besucht.

„Mixer ist einfach nur faszinierend“, sagt Satya Nadella. In einer Ecke seines Büros beugt sich der Microsoft-Chef über ein großes Terminal und studiert die Daten des neuen Live-Streaming-Diensts seiner Firma, die in Echtzeit visuell aufbereitet werden. „Irgendjemand sendet Informationen über seismische Aktivitäten in Japan, und 25 Leute schauen zu.“ Nadella lacht.

Besucher, die seinen Raum betreten, werden zunächst an einem Regal voller Bücher und Familienbilder vorbeigeführt. Mehr Bücher stapeln sich in einem weiteren Regal gegenüber – Yuval Harari, Tracy Kidder, Michael Lewis und andere Vordenker, die über Wirtschaft, Management und Technologie schreiben. Gleich darunter ein gerahmtes, handsigniertes Foto des australischen Cricketspielers David Warner, Captain von Nadellas Lieblingsteam Sunrisers Hyderabad in Indien; und auf einem Ehrenplatz steht das Objekt, das Nadella als seinen wichtigsten Besitz bezeichnet: ein hölzerner Cricketschläger, der die Unterschrift von Sachin Tendulkar trägt – Indiens wohl berühmtestem Spieler, einem Nationalidol.

Cricketspieler wollte er eigentlich werden

Man kann sich wohlfühlen hier, wie in der geselligen Studierstube eines College-Professors. Gemessen an den Ansprüchen anderer Vorstandchefs, ist Nadellas Büro geradezu bescheiden. Die Einrichtung spiegelt gleich mehrere der Themen wider, die Nadella in Hit Refresh anspricht, seinem gerade veröffentlichten Buch, das teils Ratgeber für Topmanager ist, teils philosophische Abhandlung über Menschenführung und zugleich ein Blick zurück auf Nadellas persönlichen Karriereweg.

Cricketspieler wollte er eigentlich werden, nicht Unternehmenslenker. Doch ein Testspiel, bei dem er in den 1970er-Jahren zuschaute, verlor Indien knapp gegen England – ein Drama, ein Trauma. Bis zum College spielte Nadella weiter, dann entdeckte er Computer als seine neue Leidenschaft. Die Basis dafür hatte sein Vater geschaffen, als er Anfang der 80er-Jahre von einer Reise aus Bangkok zurückkehrte und seinem damals 15-jährigen Sohn einen Computer-Baukasten mit dem Zilog-Z80-Chip als Geschenk mitbrachte.

Nadella umgibt die Aura eines Denkers mindestens so sehr wie die eines Machers. „Am meisten lese ich über Wirtschaft und Gesellschaft“, erzählt er, „dazu kommen künstliche Intelligenz und Management.“ Gern bezieht er sich im Gespräch auf Dichter und Philosophen. Da passt es, dass er, der Sohn eines marxistischen Ökonomen, gerade erst Wolfgang Streecks Buch Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus gelesen hat – eine Sammlung von Essays, in denen der Kölner Soziologe den Kollaps der neoliberalen Wirtschaftsordnung vorhersagt.

„Er schreibt, dass Kapitalismus ein seltsames System ist“, sagt Nadella, „weil es zweierlei Dinge voraussetzt: die Unsicherheit von Arbeitnehmern und zugleich die Zuversicht der Verbraucher.“ Er lacht in sich hinein. „Darauf stützen wir uns – das ist kein stabiles System! ,Mein Gott, vielleicht habe ich morgen keinen Job mehr. Aber ich muss weiter sorglos konsumieren.‘ Streeck sagt, dass das unser Grundproblem ist, also müssen wir eine Lösung finden.“

Vor dem Bürofenster sitzt eine Krähe, die jetzt vom Sims zum First des Fensters hüpft. Das Gespräch springt um: Wie Pakistan den Rivalen Indien abgebügelt hat, im Juni bei den Cricketmeisterschaften in London, der ICC Champions Trophy. „Ich kann es nicht fassen …“, sagt Nadella kopfschüttelnd und mit einem bedauernden Lächeln auf den Lippen.

Was wäre, wenn es Microsoft plötzlich nicht mehr gäbe?

Dies sind nicht unbedingt Themen, die man normalerweise mit Microsofts Geschäftsführung in Verbindung bringen würde – genauso wenig wie die Sprache, die Nadella nutzt, um zu beschreiben, wie er es geschafft hat, die Kultur, die Finanzen und das Ansehen seines Unternehmens zu verändern. Sein Ziel ist es, auch Microsofts Bestimmung von Grund auf zu verwandeln: Statt Produkte anzubieten, die Menschen zwingend brauchen, soll die Firma etwas herstellen, das Menschen unbedingt haben wollen.

Sollte Nadella dieser nächste Schritt gelingen – Kunden dazu zu bringen, dass sie seine Firma lieben –, dann wäre das ein Triumph, der den größten Erfolgen seiner Vorgänger gleichkäme. Den Anstoß zu diesem Prozess gab eine Frage, die Nadella seinen 120.000 Mitarbeitern stellte, als er 2014 den Posten des Vorstandsvorsitzenden übernahm: Was wäre, wenn es Microsoft plötzlich nicht mehr gäbe?

Es ist ein lauer Juli-Tag im wohlhabenden Vorort Bellevue, 15 Kilometer östlich von Seattle. Nach Süden hin steckt Mount Rainier seinen Kopf aus den Nadelwäldern, deren Wipfel sich sanft im Wind wiegen. Als geisterhaft-sphärische Erscheinung am Horizont ist der Berg ein fester Bestandteil der natürlichen Kulisse dieser Stadt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA.

Microsoft als Blaupause für alle Tech-Giganten

Seattle ist für seinen hohen Lebensstandard bekannt, und viele Unterhaltungen drehen sich derzeit um die Häuserpreise, die ebenso unerbittlich wie dramatisch steigen. Angetrieben wird der Immobilienboom vom Erfolg der IT-Firmen in der Region. Das ist kein neues Phänomen, schon Mitte der 90er-Jahre schossen die Wohnungspreise in den Himmel. Eine wesentliche Konstante in dieser Rechnung heißt Microsoft – der drittgrößte Arbeitgeber in der Gegend, gleich nach Boeing und dem Militär.

In mancher Hinsicht könnte man das 42 Jahre alte Unternehmen als Blaupause sehen für die Technologie-Giganten, die wir heute kennen: Firmen, deren Produkte innovativ sind und für unseren Alltag so selbstverständlich werden, dass wir sie kaum noch bewusst wahrnehmen. Bis sie mächtig genug sind, um die Aufmerksamkeit der Kartellwächter auf sich zu ziehen. Als Microsoft vor US-Gerichten um seine Vormachtstellung im PC-Markt kämpfte, war das Unternehmen der erste IT-Riese, der es abendlich in die Fernsehnachrichten schaffte.

Zum Symbol für die erste Welle der Computerrevolution mag IBM geworden sein; Microsoft gelang es dafür, mit dem Firmennamen auch gleich noch den CEO im öffentlichen Bewusstsein zu verankern: Bill Gates, der das Softwarehaus 1975 mit Paul Allen gegründet hatte, verkörperte die Früh- und Expansionsphase – den wackligen Start; die Entwicklung bahnbrechender Produkte; das Geschäftsgebaren mit spitzen Ellenbogen; bis hin zum börsenfreundlichen Eroberungsfeldzug quer durch die Softwareindustrie in den 90er-Jahren und am Beginn des neuen Jahrtausends.

Gates war der Geek, der verdrießlich durch seine Brillengläser blinzelte, wenn er in Senatsanhörungen aussagen musste oder in Prozessen, die das amerikanische Justizministerium angestrengt hatte – während es ihm zugleich gelang, das Geschäft immer weiter auszubauen. Er war der Boss, der die Einsicht verkörperte, dass Computercode zur wertvollsten Ware des Digitalzeitalters geworden war.

Überhaupt gab es bisher nur drei CEOs in der Geschichte des Unternehmens: Gates’ Nachfolger war Steve Ballmer, ein stämmiger Hansdampf aus dem Marketing, den Gates und Allen als ersten Business-Manager einstellten, nachdem Ballmer sein Studium an der Stanford Business School hatte sausen lassen. Ballmers Jahre als Firmenchef waren gezeichnet vom Niedergang des Unternehmens sowohl im Ansehen als auch dem Börsenwert. Immer neue Herausforderer attackierten den Platzhirsch auf Geschäftsfeldern, bei denen Microsoft sich zu träge zeigte, um rasch zu reagieren.

2014 erfuhr Nadella von seiner Berufung zum Vorstandsvorsitzenden

Bei Ballmers Antritt im Jahr 2000 stammte der Großteil des Umsatzes von Office und Windows. Als er 13 Jahre später ging, hatte sich daran wenig geändert, obwohl die Welt eine ganz andere war: Menschen nutzten öfter Mobilgeräte als PCs, und Firmen zunehmend Internetdienste statt eigener Server.

Am 24. Januar 2014 erhielt Satya Nadella , zu jener Zeit Leiter der Abteilung für Cloud-Computing, eine E-Mail von John Thompson, einem der einflussreichsten Aufsichtsräte des Unternehmens. Thompson wollte mit Nadella sprechen. Zu später Stunde, noch am selben Tag, stand Nadella, damals 46, in seinem Büro, hielt einen Cricket-Ball in Händen und erfuhr am Telefon von seiner Berufung zum neuen Vorstandsvorsitzenden.

Nadella ist ein drahtiger, schlanker Mann, der Wörter genau betont und in rhythmischen Sätzen spricht. Der Tonfall steigert sich oft bis zum Crescendo. Gern lächelt er seine Zuhörer an, als wolle er seine Aufrichtigkeit unterstreichen. Es kommt vor, dass er Friedrich Nietzsche oder Buddha zitiert, aber er wirkt dabei nicht wie ein Angeber, sondern einfach nur wie ein begeisterter Leser, der sich auf Smalltalk versteht und zugleich große Gedanken zu wälzen vermag. Der häufige Perspektivenwechsel begann schon in Nadellas Kindheit.

Als Angestellter der indischen Regierung wurde sein Vater oft versetzt, und Nadella erinnert sich an „alte, koloniale Gebäude, die mitten im Nichts standen, in einem Land, das sich über die 60er- und 70er-Jahre hinweg komplett verwandelte“. Als er sechs Jahre alt war, starb seine jüngere Schwester, nur fünf Monate nach der Geburt. Die Mutter, eine Sanskrit-Lehrerin, hängte im Zimmer ihres Sohnes ein Poster von Lakshmi auf, der Göttin des Glücks, der Schönheit und des Wohlstands.

Nadella bekam keinen Studienplatz an den renommierten Indian Institutes of Technology, dem Zusammenschluss der indischen Akademien für Wissenschaft und Technik. Er ging stattdessen an das Manipal Institute of Technology im Südwesten des Landes. Nach dem Abschluss bewarb er sich um einen College-Platz in den USA, ohne viel Hoffnung auf ein Visum zu setzen. Zu seiner Überraschung akzeptierte ihn die University of Wisconsin-Milwaukee für ein Diplomstudium in Computerwissenschaften. Im August 1988, an seinem 21. Geburtstag, stieg Nadella in den Flieger von Neu-Delhi nach Chicago.

Die Winter im Mittleren Westen der USA können brutal sein, besonders für einen jungen Mann aus Südindien. Doch Nadella hielt durch. Zwei Jahre später fand der Nachwuchsprogrammierer zunächst eine Stelle bei Sun Microsystems in Kalifornien, ehe er an einem regnerischen Novembertag 1992 ein Büro in Gebäude 22 bei Microsoft in Redmond bezog. Einmal hörte er Ballmer in der Nähe mit Kollegen sprechen. „Sie diskutierten lebhaft“, erinnert sich Nadella. Und er dachte sich im Stillen: „Lieber Gott, wer ist dieser Typ?!“

Unbezwingbar schien das Unternehmen damals, ehe es unter Ballmer, der sich zu sehr an Vertrautes klammerte, Gefahr lief, in eine Todesspirale zu geraten. Nadella stemmte sich mit aller Macht dagegen, bemühte sich vom ersten Tag als CEO um dringend nötigen Wandel, auch wenn er selbst nun schon seit 15 Jahren für das Unternehmen arbeitete.

Ist Nadella dabei, dem Unternehmen seinen früheren Elan zurückzugeben?

Tatsächlich ist es ihm nicht nur gelungen, Microsoft wieder zu einem Liebling der Anleger zu machen (in den ersten acht Monaten dieses Jahres stieg die Aktie um gut 20 Prozent); sondern vor allem auch, interne Strukturen aufzubrechen und sogar – ein Wunder für sich – das Image nach außen hin so weit zu verbessern, dass ehrgeizige Entwickler und Forscher wieder bereit sind, lieber zu Microsoft als zur Konkurrenz zu gehen.

Zwar stammt noch immer der Großteil der Profite aus dem Verkauf von PC-Software, während das Geschäft mit Cloud-Diensten wesentlich weniger Gewinn abwirft. Es bleibt also viel zu tun. Und doch darf man vielleicht – ganz leise – fragen: Ist Nadella dabei, dem Unternehmen seinen früheren Elan zurückzugeben?

„Die größte Herausforderung besteht darin, den Umstieg zu schaffen von einer Welt, in der sich alles um Windows drehte und Software-Lizenzen verkauft wurden, hin zu einer Welt aus Service-Angeboten, Cloud-, -Mobil- und KI-Diensten, bei denen die Kunden für Abonnements zahlen“, sagt Brad Silverberg, Risikoinvestor bei Ignition Partners, der früher das Windows-Geschäft verantwortet hat. „In diesem Wandel steckt eine enorme zerstörerische Kraft, er muss behutsam gemeistert werden. Agiert man zu hastig, könnte das gesamte Geschäft kaputtgehen; ist man zu langsam, wird man zum Dinosaurier. Satya hat diesen Umstieg bisher fantastisch hinbekommen.“

Wir haben zu lange an Erfolgen aus der Vergangenheit festgehalten

Vor Gebäude 34, in dem die Topmanager ihre Büros haben, weht eine Brise über den Microsoft-Campus mit seinen 84 Bauten, Football-Feldern und Kantinen. Junge Leute, vorwiegend Männer, die Bänder mit Firmenausweisen um den Hals tragen, laufen umher, während sie auf Mobilgeräte starren. Sollte es der Welt jemals an Cargo-Shorts mangeln, ließe sich hier leicht Nachschub finden.

Als er die CEO-Rolle übernahm, wusste Nadella, wie heikel seine neue Aufgabe sein würde. Schließlich ging es nicht nur um Strategie und Geschäftsmodelle, sondern auch darum, die Firmenkultur von Grund auf zu erneuern. „Wir haben zu lange an Erfolgen aus der Vergangenheit festgehalten“, räumt er ein. „Und Erfolge aus der Vergangenheit kümmern in unserem Sektor niemanden. Nur die Zukunft zählt, und das gilt mittlerweile in fast allen Branchen: Was man früher mal erreicht hat, bedeutet heute nicht mehr viel.“

Es gab eine Zeit, erzählt Nadella, in der Produktentscheidungen mit Blick darauf gefallen seien, was die Konkurrenz gerade machte. Heute sei die Vision, sich auf Dinge zu konzentrieren, mit denen Microsoft sich von anderen abheben kann. „Diese Frage nach der Sinnhaftigkeit muss hinter jeder Entscheidung stehen, die wir treffen.“

Scott Guthrie, Leiter von Microsofts Cloud and Enterprise Group, erklärt, die Firma sei stolz auf ihre Ingenieurskultur. Das war nicht immer hilfreich. „Als wir mehr und mehr Erfolg hatten, konnte es passieren, dass wir in den Automatismus verfallen sind: ,Wenn du’s baust, werden es die Leute schon kaufen.‘ Und dann entfernt man sich ein Stückchen weiter von den Kunden, je mehr man wächst.“

Es ist ein Ausdruck des Kulturwandels, den Nadella angestoßen hat, dass der Erfolg von Guthries Team nicht mehr am Umsatz gemessen wird, sondern an Nutzerzahlen. Damit hat sich der Fokus auf das Wachstum verschoben.

Gleich bei seinem ersten Meeting mit Führungskräften, so erinnert sich ein hochrangiger Microsoft-Manager, habe Nadella die Änderung der Firmenkultur in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt. „Schon ehe ich als CEO anfing, hatte ich mir überlegt, was passieren müsste“, sagt Nadella. „Der Gedanke, dass alles eine übergeordnete Bestimmung haben sollte, war mir schon lange durch den Kopf gegangen. Selbst Steve [Ballmer] hat mir mal gesagt: ,Sei einfach du selbst.‘“

So ermuntert, gab Nadella im Juli 2015 bekannt, dass Microsoft die 7,2 Milliarden Dollar, die Ballmer kaum zwei Jahre zuvor für den Kauf von Nokia ausgegeben hatte, als Verlust abschreiben würde. Microsofts Mission definierte er mit der Formulierung, seine Organisation müsse „denken wie ein Herausforderer“. Andernfalls drohe eine Situation, in der „alles Verteidigung ist“. Nadellas Wille zur Veränderung zeigte sich auch am Jahrestreffen der Topmanager: Plötzlich wurden Gründer von Startups eingeladen, die Microsoft gekauft hatte. Und – schlimmer noch – selbst Kunden durften dabeisein. Das gefiel nicht allen, Nadella stieß auf Widerstand. Doch er bestand darauf, Neues auszuprobieren.

„Sein Führungsstil ist ausgereift“, sagt Brad Silverberg über Nadella. „Er gibt Unterstützung und ist sehr auf Partnerschaft bedacht. Dabei geht er mit gutem Beispiel voran. Viele Unternehmen definieren sich über die Wesenszüge ihrer Führungskräfte. Die Wahrscheinlichkeit, dass Teams innerhalb von Microsoft heute die gleiche Vision verfolgen und aktiv zusammenarbeiten, ist größer geworden. Er meint es ernst, und er strahlt Vertrauenswürdigkeit aus – das zeigt sich im gesamten Unternehmen.“

Kunden, die sich für einen Rivalen entschieden haben, werden von den meisten Firmen ignoriert. Nadella tut das Gegenteil: Er trifft sich mit ihnen, um herauszufinden, was ihnen an Microsoft fehlt. Diese Suche nach der Außenperspektive führte zu einer neuen Offenheit – selbst Mitbewerbern gegenüber.


Den Gaming-Hit Minecraft, den Microsoft 2014 kaufte, gibt es für die hauseigene Xbox, aber auch für die Sony PlayStation. Das Office-Paket läuft auf Apple- und Android-Handys. Linux, lange als Feind von Windows gesehen, wird von Microsofts Cloud-Plattform Azure unterstützt. Und der Sprachassistent Cortana soll künftig mit Amazons Alexa Informationen austauschen.

„Hier geht es um etwas Grundsätzliches“, erklärt Nadella. Er zählt die Namen von Konkurrenten auf, darunter Apple-CEO Tim Cook, Google-Chef Sundar Pichai und Amazon-Gründer Jeff Bezos. „Wir stehen auf vielen Gebieten hart im Wettbewerb. Aber wir sollten das nicht als Nullsummenspiel sehen, sondern lieber fragen: ,Hey, was versuchen wir eigentlich zu erreichen? Und was versuchen die anderen zu erreichen? Wenn wir irgendwo zusammenarbeiten können, dann lasst uns zusammenarbeiten.‘ Und wo wir konkurrieren, da konkurrieren wir eben.“

Es ist schwer, ein Unternehmen mit 120.000 Mitarbeitern zu verändern

Ed Anderson, Analyst beim Marktforscher Gartner, arbeitete sechs Jahre lang in der Microsoft-Abteilung für Datencenter und Cloud-Dienste. Er kennt Nadella, aber auch seinen Vorgänger Ballmer. „Bei Steve Ballmer ging es viel mehr darum: ,Zeigt uns die Fakten, wir prüfen alles, fordern euch heraus und sehen mal, wie viel Mühe ihr euch gegeben habt, alles richtig zu machen“, erzählt er. „Mit Satya lief es anders. Egal, wer mit ihm im Raum war, ob Vizepräsident oder Produktmanager, er hat immer sehr konzentriert zugehört. Ich fand es verblüffend, wie wichtig ihm jede Meinung und jede Sichtweise ist. Mein Eindruck ist, er hat das Gefühl, dass jeder Mitarbeiter etwas zum Erfolg beisteuern kann. Das war für mich ein Riesenunterschied. Er legt wirklich Wert auf unterschiedliche Meinungen. Man sieht das auch in der Art, wie er mit Partnern und Kunden umgeht. Er ist aufrichtig an dem interessiert, was sie zu sagen haben.“

Wenn Satya Nadella über den Wandel der Firmenkultur spricht, kann es passieren, dass das Gespräch einen existenziellen Unterton bekommt. Bei seinem Ansatz gehe es „nicht so sehr um eine bestimmte Strategie, sondern um eine übergeordnete Struktur für den Prozess der ständigen Erneuerung“. Um relevant zu bleiben, „muss ein Unternehmen sich ständig auf andere Bedingungen einlassen. Technologien kommen und gehen, aber die Sinnhaftigkeit – das Wissen, welches Ziel wir verfolgen – zeigt uns zumindest die Richtung und definiert, wie wir unsere Identität ausdrücken.“

Der Microsoft-Chef weiß, wie schwer es ist, ein Unternehmen zu verändern, das 120.000 Menschen beschäftigt. Er kennt das ja aus eigener Erfahrung: „Wann immer wir in der Vergangenheit versucht haben, die kulturellen Werte zu bestimmen, indem wir Poster an die Wand gehängt haben und was weiß ich noch alles – ich konnte mich nie erinnern, was zum Teufel diese Sprüche bedeuten sollten. Es war alles nur leeres Gerede.“ Um wirklich etwas zu bewegen, müsse der Kulturwandel „auf natürliche Weise Wurzeln schlagen“, erklärt Nadella. „Das ist die eigentliche Herausforderung, und dafür gibt es keine Erfolgsformel.“

Ein Beispiel für das so genannte innovator's dilemma

Als Nadella seine neue Aufgabe übernahm, war Microsoft ein Musterbeispiel für das sogenannte innovator’s dilemma: Der frisch ernannte CEO musste zunächst seine Topmanager und den Aufsichtsrat davon überzeugen, dass es wichtiger war, weitere Geschäftszweige aufzubauen, als sich auf die traditionellen Geldbringer zu konzentrieren – selbst, wenn das Neue anfangs wenig messbaren Nutzen bringen mochte.

Zuhilfe kam Nadella immerhin, dass er in kleinerem Rahmen, als Leiter der Geschäftskundenabteilung Server and Tools, bereits einen ähnlichen Prozess gemeistert hatte. Ihm wurde eines Tages bewusst, dass Microsoft bei der Entwicklung eigener Internetangebote – ob Bing-Suche, MSN oder Xbox Live – ganz andere Dienste einsetzte als jene, die seine Abteilung an die Firmenkunden verkaufte.

Es war wichtig, dass der Wandel von innen kam

Im Grunde war Microsoft dabei, für interne Zwecke eine Infrastruktur an Cloud-Diensten aufzubauen. Damit daraus ein neuer Geschäftszweig werden konnte, musste Nadella sein Team davon überzeugen, den Schwerpunkt der Arbeit zu verlegen: weg von Angeboten, mit -denen Kunden ihre eigenen Server betreiben konnten, hin zu Software-Lösungen aus dem Internet. In Hit Refresh bewertet Nadella die Kursänderung als „Microsofts größte Veränderung der letzten Jahrzehnte“. Um sein Ziel zu erreichen, verzichtete er darauf, Mitarbeiter aus dem Bing-Team in die Server-Abteilung zu verlegen. „Es war wichtig“, schreibt Nadella, „dass der Wandel von innen kam.“

In einem frühen Kapitel seines Buches schildert Nadella die schwierige Schwangerschaft seiner Frau Anu mit dem Sohn Zain. An einem Abend im August 1996 fiel Anu auf, dass das Baby sich nicht so bewegte, wie sie es kannte. In der Notaufnahme des Krankenhauses in Bellevue entschieden die Ärzte sich für einen vorzeitigen Kaiserschnitt. Der Junge wurde um 23:29 Uhr geboren, wog knapp 1,5 Kilogramm und gab keine Geräusche von sich.„Wie wenig konnte ich damals ahnen, wie tiefgreifend unser Leben sich ändern würde“, schreibt Nadella. Zain hatte ein Geburtstrauma namens „neonatale Asphyxie“ erlitten und sich dabei eine Gehirnlähmung zugezogen.

Er würde sein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein und im Rollstuhl sitzen müssen. „Wir brauchten mehrere Jahre, um zu akzeptieren, was geschehen war“, erzählt Nadella. Anfangs hätten sich seine Gedanken vor allem um die Frage gedreht: „Was ist mit mir passiert?“ Doch der Prozess der Verarbeitung und die Reaktion der Umwelt auf den kranken Sohn hätten schließlich alles verändert – „bis ich schließlich zu der Erkenntnis gelangt bin, dass nicht mir selbst etwas zugestoßen war. Es war meinem Sohn zugestoßen. Und die Fähigkeit, das zu begreifen, war vermutlich einer meiner größten Erweckungsmomente.“

Die Anekdote einer Frau, die zu Buddha geht, kommt ihm in den Sinn. „Sie sagt: ,Mein Sohn ist gestorben. Kannst du ihn wieder zum Leben erwecken?‘ Und er sagt: ,Gehe los und finde eine Familie, in der noch niemand gestorben ist, und bring mir ein Reiskorn von dieser Familie. Dann wird dein Sohn wiedergeboren werden.‘ Die Wahrheit ist natürlich, dass jeder von uns Mitgefühl entwickeln kann. Wir müssen nur den Weg dazu finden.“

Nadella, der auch zwei Töchter hat, argumentiert, dass diese sehr persönliche Erfahrung den Kern seiner Vision für Microsoft bildet. „Es geht mir mit Leidenschaft darum, Mitgefühl ins Zentrum von allem zu stellen, mit dem ich mich beschäftige – egal ob es sich dabei um Produkte handelt, die wir entwickeln, oder neue Märkte, die wir erschließen, oder ob es um die Zusammenarbeit mit Kollegen, Kunden oder Partnern geht.“ Schon auf den ersten elf Seiten seines Buches macht Nadella seine Botschaft klar: Microsoft – und seine Mitarbeiter – müssen nach Höherem streben. Jeder Einzelne muss seine persönliche Leidenschaft finden, um alle gemeinsam stärker zu machen.

Es geht mir mit Leidenschaft darum, Mitgefühl ins Zentrum von allem zu stellen.

Satya Nadella

Der Alltag beim drittgrößten börsennotierten Unternehmen der USA aber bringt harte Entscheidungen mit sich. Kurz vor dem Treffen mit WIRED gibt Microsoft bekannt, für den Umbau seines Vertriebs mehrere Tausend Mitarbeiter zu entlassen. Wichtig sei, erklärt Nadella, „für sie das Richtige zu tun und auch die richtigen Entscheidungen für den Unternehmenswandel zu fällen“.

Ein weiterer Balance-Akt ist die Aufgabe, die langfristige Vision in Einklang zu bringen mit der Not, in jedem Quartal gute Umsatzzahlen vorzuweisen. Microsofts Erfolg ist aus Nadellas Sicht entscheidend mit künstlicher Intelligenz verknüpft. Zwei kürzlich gestartete Initiativen illustrieren, wie sehr sein Unternehmen auf smarte Algorithmen setzt. Im Juli gab Microsoft bekannt, sein KI-Labor zu öffnen, um gemeinsam mit Partnern an Themen wie Spracherkennung und logischem Denken zu arbeiten – ein klarer Schritt zur Entwicklung einer generellen KI, die anders als bisherige Anwendungen nicht mehr auf einzelne Aufgaben beschränkt sein soll.

Man braucht Ehrgeiz, aber auch Forschung und Entwicklung mit langfristigen Zielen

Ebenfalls im Juli enthüllte Microsoft einen speziellen Chip für seine Mixed-Reality-Plattform HoloLens: Optimiert für mitlernende Software, soll der Prozessor Dinge wie Bild- und Spracherkennung verbessern. Wenige Wochen zuvor hatte Google ein ähnliches Projekt angekündigt.

Soll Microsoft eine sichere Zukunft haben, so glaubt Nadella, muss sein Unternehmen auf mehreren Gebieten zugleich zu den Marktführern gehören: beim Cloud-Computing und dem Internet der Dinge, bei künstlicher Intelligenz und selbst bei Quantencomputern. Millionen steckt Microsoft in die Entwicklung der neuartigen Rechenmaschinen, um schneller ans Ziel zu kommen als alle anderen.

„Man braucht Ehrgeiz, aber auch Forschung und Entwicklung mit langfristigen Zielen“, erklärt Nadella. Jahrzehntelang habe Microsoft für Kinect in Mixed Reality investiert. „Ähnlich machen wir es bei Quantencomputern. Es gibt Durchbrüche in der Mathematik, der Physik, der Computerwissenschaft, und alles muss zusammenkommen, damit Quantencomputer Realität werden können.“

Bei der HoloLens sieht Microsoft das Besondere in den flexiblen Anwendungsmöglichkeiten der Brille. Sie kann komplett künstliche Welten zeigen (Virtual Reality) oder das Kamerabild mit Daten anreichern (Augmented Reality). „Wir sehen das Blickfeld als eine Art natürliches Interface“, sagt Nadella – etwa in der Medizin, Logistik, dem Einzelhandel oder Gaming.

Gigantische Datenmengen kommen bei solchen Anwendungen zusammen, und Nutzer müssten das Recht haben, über ihre Daten selbst zu bestimmen, räumt Nadella ein. Sie sollten auch einen Gegenwert von den Firmen erhalten, die mit ihren Informationen Geld verdienen. „Es sollte klar erkennbar sein, warum wir bestimmte Daten sammeln. Nutzer sollten die Kontrolle darüber haben, welche Informationen gesammelt werden und welche nicht.“

Zum Politikum wurde Datenschutz im Februar 2016, als ein US-Bundesgericht von Apple verlangte, das iPhone eines Attentäters, der 14 Menschen getötet hatte, den Behörden zugänglich zu machen. Apple-CEO Tim Cook nannte die Forderung „beängstigend“ und weigerte sich, ihr Folge zu leisten.

Nadella hält Cooks Entscheidung für richtig: „Wir haben immer klargemacht, dass jede Form von Hintertür in der Software eine schlechte Idee wäre. Aber wir haben auch immer gesagt, dass der Staat eine Verantwortung für seine Bürger trägt. Deshalb sollte es gesetzlich und juristisch geregelt sein, wie der Staat dieser Verantwortung nachkommt. Es kann nicht uns Vorstandsvorsitzenden überlassen sein, eine Schiedsrichterrolle für politische Entscheidungen in aller Welt zu übernehmen. Es ist eine seltsame Situation, in die man vier oder fünf von uns hineinversetzt, dass wir bestimmen sollen, wo das Gleichgewicht liegt. Niemand hat uns gewählt. Wenn wir an Demokratie glauben, sollten Gesetzgeber wieder die Kontrolle darüber übernehmen, welche Regeln gelten sollen.“

Ich bin das Produkt zweier einzigartiger amerikanischer Einflüsse

Präsident Trumps Versuche, die -Grenzen der USA abzuschotten, stoßen in der IT-Welt auf viel Widerstand. Nadella beschreibt das Thema vorsichtig vor allem unter wirtschaftlichen Aspekten: Nachschub an Talenten, Ideen, neuen Technologien – all das bilde die Basis für Innovation und Fortschritt. Als Immigrant besitzt er auf das Thema eine besondere Perspektive, zumal er als Einwanderer unter Vorstandsvorsitzender immer noch eine Ausnahme darstellt.

„Ich bin das Produkt zweier einzigartiger amerikanischer Einflüsse“, erklärt er. „Es war amerikanische Technologie, die mich ansprach, als ich aufwuchs, und mir erlaubte, davon zu träumen, eines Tages selbst in die USA zu kommen. Und es war die Einwanderungspolitik, die es mir ermöglichte, hierzubleiben und diesen Traum tatsächlich zu leben. Diese beiden Chancen, die ich erhalten habe, sehe ich als etwas an, für das Amerika immer stehen sollte.“

Kurz nach seinem Start als Microsoft-Chef traf Nadella sich noch einmal mit Steve Ballmer. Er fragte seinen Vorgänger, ob er Pläne habe, ein Buch über seine Zeit bei dem Unternehmen zu schreiben. Ballmer gab zu, dass er darüber nachgedacht hatte, aber es schien ihm nicht besonders interessant, über die Vergangenheit zu schreiben. Weit mehr begeisterten ihn neue Projekte – so wie die Möglichkeit, im Mai 2014 das Basketball-Team der L.A. Clippers zu kaufen.

Das Gespräch mit Ballmer ließ Nadella nicht los, und als er dabei war, sein Buch zu schreiben, fiel ihm auf, dass das Ergebnis auf eine Art gedankliche Reise hinauslaufen würde – „die Meditationen von jemandem, der im Sessel sitzt und den Prozess gerade erst durchlebt“. Einen Moment hält er inne, um dann fortzufahren: „… in der Gewissheit, dass die Geschichte noch längst nicht zu Ende ist.“

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