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Die EU-Kommissarin, vor der sich das Silicon Valley fürchtet

von Rowland Manthorpe
Margrethe Vestager besitzt die Macht, die Tech-Welt für immer zu verändern. Apple hat bereits zu spüren bekommen, dass die EU-Kommissarin sich vor großen Namen nicht fürchtet. Jetzt hat die Dänin eine Entscheidung gefällt im kompliziertesten Fall ihrer Amtszeit. Es geht um Google.

Dieser Artikel erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im Juni 2017. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

Update, 27. Juni 2017: Die EU-Wettbewerbshüter haben eine Rekordstrafe gegen Google verhängt. Es geht um den Vorwurf, Google habe seinen eigenen Shopping-Dienst bei der Internetsuche unzulässig bevorzugt. 2,4 Milliarden Euro soll Google zahlen. Dahinter steht Margrethe Vestager, die EU-Wettbewerbskommissarin. Wir haben sie kürzlich porträtiert:

Margrethe Vestager lässt sich nicht gern sagen, was sie zu tun hat. Sie ist liberal im klassischen Sinne. Freie Rede, Versammlungsfreiheit, der freie Markt – es sind für sie unverhandelbare Prinzipien. Und Entscheidungen, die frei sind von den Einflüssen Dritter. „Das ist für mich nicht nur Ausdruck liberaler Werte“, sagt sie, „sondern auch davon, ein freier Mensch zu sein.“ Als EU-Wettbewerbskommissarin ist Vestager verantwortlich für alle Handelsfragen. Das macht sie zu einer der einflussreichsten Politikerinnen Europas. Ihre Durchsetzungskraft legt gerade die Basis für eine Auseinandersetzung, die den Umgang mit Tech­nologien weltweit verändern könnte. 

Die größten Technologiekonzerne der Welt haben sich die Zähne an ihr ausgebissen. Am 21. Januar des vergangenen Jahres saß Apple-CEO Tim Cook in ihrem Büro. Anlass waren die Steuer-Erleichterungen des Konzerns in Irland, gegen die die Europäische Kommission seit 2013 ermittelt hatte. Die Dänin Vestager (ihr Name spricht sich West-ayer) steht im Ruf, freundlich, aber unnachgiebig zu sein. Cook soll aus dem Treffen einen Vortrag über die korrekte Besteuerung von Unternehmen gemacht haben. Er unterbrach sie, er schrie. Und was tat Vestager?

Sieben Monate später verkündete sie ihre Entscheidung im Pressesaal der Kommission, einem dunklen, hörsaalartigen Raum im Inneren eines Betonklotzes namens Berlaymont. Apples steuerliche Vergünstigungen hätten zu einem effektiven Körperschaftsteuersatz von 0,005 Prozent geführt, sie seien illegal. Der Konzern schulde Irland Steuern in Höhe von 13 Milliarden Euro, plus Zinsen. „Das ist politischer Mist!“, schimpfte Cook.

Vestager, 49, ist die eine Person in Brüssel, vor der das Silicon Valley Angst haben muss. Niemand sonst hat so viel Macht, Steuervermeider zu belangen, Strafen in Milliardenhöhe zu verhängen oder Konzerne zu grundlegenden Änderungen ihrer Unternehmenspolitik zu zwingen. Doch sollte sie das Gefühl haben, dass sie deshalb politischem Druck ausgesetzt sei, lässt sie sich davon nichts anmerken. „Ich setze nur geltendes Recht durch“, sagt sie. Ihr Rat an Tim Cook: „Halten Sie sich an die europäischen Regeln.“

Ich möchte nicht, dass mir andere Leute sagen, was ich brauche

„In vielerlei Hinsicht macht Technologie eine offene und transparente Gesellschaft möglich“, erklärt sie. „Gleichzeitig aber führt sie zu Überwachung und einer Kommerzialisierung privater Daten in einem nicht gekannten Ausmaß.“ Die unsichtbare Hand des Silicon Valley – das heißt: die Masse an algorithmisch aufbereiteten Daten, die auf alles Einfluss haben, von Reiseplanung bis Nachrichtenquellen – hält sie für zu aufdringlich. „Ich möchte nicht, dass mir andere Leute sagen, was ich brauche.“

Apple ist nicht das einzige Unternehmen, das sich ihrer 900-Mitar­beiter-Behörde ausgesetzt sieht. Sie ermittelt gegen Amazon (wegen Steuervermeidung), den Halbleiter-Hersteller Qualcomm (wegen des Verkaufs seiner Chips unter Wert) und Facebook (wegen des Zukaufs von WhatsApp). Der große Testfall aber ist das Kartellrechtsverfahren gegen Google: Im Raum steht der Vorwurf, dass der Konzern seine Marktmacht missbrauche, um Konkurrenz auf anderen Feldern auszuschalten.

Vestager, seit 2014 Kommissarin, hat den Fall zielstrebig vorangetrieben. Ihre Entscheidung fiel im Juni. Es hatte nie den Anschein, dass sie sich zurückhalten werde – und das tat sie auch nicht: Rund 2,4 Milliarden Euro soll Google zahlen, weil das Unternehmen bei der Suche die eigenen Shopping-Angebote bevorzugt.

Es ist Januar 2017. Warteraum, zehnter Stock des Berlaymont. Neonbirnen strahlen einen großen Farn an, daneben stehen cremefarbene Ledersessel und eine leere Kleiderstange. Vestager nimmt jeden Besucher persönlich in Empfang. „Ich habe noch nie jemanden getroffen, der in Meetings so souverän agiert“, sagt Jens Thomsen, Autor eines Buches über ihre ersten 100 Tage als Kommissarin. „Sie versucht, in jedem Gespräch den Eindruck zu er­wecken, dass sie einem nicht nur als politische Repräsentantin gegenübertritt, sondern auch als normaler Mensch.“ Vestager kommt mit flotten Schritten in den Raum, streckt die Hand aus und sagt: „Willkommen!“

Sie ist groß und hat kurze schwarze, grau durchsetzte Haare. Bei offiziellen Anlässen sticht sie oft heraus als Farbklecks in einem Meer aus Grau. An diesem Tag trägt sie ein Kleid in gedecktem Kastanienbraun. Ihr Büro wirkt, als sei ein Eimer Farbe ausgekippt. Es gibt eine Collage im Stile Jackson Pollocks, darauf die Begriffe „Love, revolution, the people“, eine Stehleiter mit dem Satz „If a woman wants to go places she should bring her own ladder“ und eine Vitrine, vollgestellt mit Familienfotos. Das Erste, was sie wissen möchte: Haben Sie Kinder? Später sagt sie: „Sie sollten wirklich Kinder haben. Darum geht’s im Leben.“

Vestager ist 1968 geboren und wuchs in der Kleinstadt Ølgod an der stürmischen Westküste Dänemarks auf. Beide Eltern waren Pastoren. In dem offenen Haus ihrer Kindheit erlebte sie Geburten, Hochzeiten und Beerdigungen. „Sie hat sich früh daran gewöhnt, dass die ganze Gemeinde bei ihnen zu Hause zu Gast war und sie ein öffentliches Leben führte“, erklärt ihre Biografin Elisabet Svane.

Dieses Leben war für sie eine Ausbildung in der Kunst von Konflikt und Kompromiss. Als Kind war sie oft wütend, wenn sie ihren Vater – nebenbei Lokalpolitiker der sozial-liberalen Partei – mit Wählern streiten hörte. Allmählich begriff sie, dass Streit ein wesentlicher Bestandteil von Politik ist. Mit 21 trat sie der Partei ihres Vaters bei und bewarb sich für einen Sitz im Parlament. Sie scheiterte zunächst, hatte ein paar Jahre später mehr Erfolg und wurde Ministerin. 2007 wurde sie zur Parteichefin gewählt. „Zunächst war sie ein Desaster“, erzählt Svane. „Dann aber lernte sie, Konflikt auszuhalten. Diese Phase war ihr eine Lehre: Du musst für Überzeugungen einstehen, auch wenn jeder um dich herum dich für einen Idioten hält.“

Schritt für Schritt arbeitete sich Vestager an die Macht, auch wenn ihre Partei wenig Einfluss hatte. Bei den Parlamentswahlen 2011 holten die Sozialliberalen nur 17 von 179 Sitzen. Wer sich die Fernsehserie Borgen ansieht, bekommt eine Ahnung von den Koalitionsverhandlungen. Vestager war für die Drehbuch-Autoren eine der Inspirationsquellen. Oft sagte sie: „Ich bin nicht sicher, ob ich diesen Deal wirklich will“ – so lange, bis sie bekam, was sie wollte. Als sie abtrat, war sie die stellvertretende Ministerpräsidentin und in den Augen vieler die eigentliche Regierungschefin.

​Komplexe technologische Fragen verpackt Vestager in einfache Alltagssprache. Mal gibt sie die Mutter, die den Anschluss verloren hat, mal die Vorreiterin für einen überlegten Umgang mit den Verführungen der Digitalisierung. Auf ihren beiden Telefonen – sie besitzt ein Diensttelefon und ein privates – hat sie die Ortungsfunktionen deaktiviert. Auf dem einen sucht sie mit Google. Auf dem anderen mit DuckDuckGo, einer Suchmaschine, die ihre Nutzer nicht trackt. Außerdem verwendet sie Bing. „Bing?“ Wenn man das fragt, streckt sie die Hand aus, als wollte sie sagen: „Doch, es gibt uns Bing-Nutzer wirklich. Sie können mich berühren.“ 

Die Frage, was Google seinen Nutzern zu sehen gibt, führt zu Vestagers härtester Auseinandersetzung. Sie reicht zurück ins Jahr 2005, als ein britisches Ehepaar seine Jobs kündigt und von seinem Zuhause aus, dem Dorf Crowthorne in der Grafschaft Berkshire westlich von London, eine Preisvergleichsseite ins Netz stellt. Shivaun und Adam Raff haben sich im Studium kennengelernt. Ihr ganzes Berufsleben hatte mit Technologie zu tun. Shivaun, 49, managte Software-Projekte für große Unternehmen wie General Motors. Adam, ein Jahr älter, kümmerte sich um den europäischen Supercomputer für Wettervorhersagen. Ihre Seite soll es Nutzern ermöglichen, die Preise von Online-Händlern zu vergleichen. Eine vertikale Suche, wenn man so will, anders als die horizontale von Google.

Die Raffs starten Foundem am 20. Juni 2006. Nach ein paar Wochen ist offensichtlich, dass etwas nicht stimmt. Niemand kommt über Google auf ihre Seite. Mehr noch: Die Seite ist so schlecht bewertet, dass sie wie Spam behandelt wird. „Effektiv war Foundem im Netz nicht vorhanden“, sagt Shivaun. Sie schreibt Google eine E-Mail – keine Antwort. Je mehr Zeit ohne Erklärung vergeht, umso mehr beschleicht die Raffs das Gefühl, dass sie vorsätzlich aus dem Geschäft gekegelt werden sollen.

Google dagegen, überzeugt von der Rechtmäßigkeit des eigenen Vorgehens, vermutet hinter Raffs Vorgehen eine vom Rivalen Microsoft angezettelte Verschwörung. Tatsächlich hat Shivaun Raff einige von Microsoft finanzierte Lobbygruppen beraten. Aber welche Motive zu jener Zeit auch immer im Spiel sein mögen – der Fall legt bloß, dass Google seine Nutzer zu eigenen Angeboten lenkt.

Im besonders aufmerksamkeits­trächtigen Feld über und neben den obersten Suchergebnissen erscheinen Inhalte von Google. Für die Nutzer einerseits eine sinnvolle Ergänzung – andererseits ein kräftiger Schubs in die Geschäftswelten von Google. Wer nach Postleitzahlen sucht, bekommt den entsprechenden Ausschnitt in Google Maps angezeigt. Wer sich für Schuhe interessiert, sieht Angebote von Google Shopping.

Am 3. November 2009 erhoben die Raffs offiziell Beschwerde bei der Europäischen Kommission. Umgehend ließ Google seine Lobbyisten los. Im Januar 2014 schien es, als hätten sich die Mühen ausgezahlt. Beim World Economic Forum in Davos besiegelte der Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia per Handschlag eine Verabredung mit dem damaligen Google-CEO Eric Schmidt. Doch Almunia konnte die Kommission zu keiner Zustimmung bewegen. Zu Googles Missfallen landete der Fall auf dem Schreibtisch von Vestager.

Unternehmen dürfen ihre markt­beherrschende Stellung nicht missbrauchen, um sich einen Vorteil auf anderen Feldern zu verschaffen

Margrethe Vestager

Die Raffs trafen Almunias Nachfolgerin Anfang 2015. So wie später der Reihe nach etwa 20 weitere Seiten­betreiber aus den unterschiedlichsten Bereichen. Alle fühlten sich von Google betrogen – von Büchern über Reise­angebote bis zu Mapping-Diensten. „Eine ziemlich große Gruppe“, erinnert sich Vestager. Und alle waren beeindruckt von Vestagers Interesse. „Im Gegensatz zu Almunia hat sie wirklich zugehört“, erzählt Michael Weber, Geschäftsführer des deutschen Mapping-Anbieters Hot Map.

Als sie am 15. April 2015 ihre Entscheidung verkündete, wischte sie damit alle Hinterzimmer-Verhandlungen der vorangegangenen Jahre beiseite. „Unternehmen dürfen ihre markt­beherrschende Stellung nicht missbrauchen, um sich einen Vorteil auf anderen Feldern zu verschaffen“, sagte sie. Google Shopping verstoße nach vorläufigen Ergebnissen gegen EU-­Kartellrecht, es behindere den Wettbewerb und schade Konsumenten. Formal übersandte sie Google ihren Katalog mit Kritikpunkten, das Brüsseler Pendant zu einer gerichtlichen Anklage. „Ein solches Papier besagt: Wir sind überzeugt, dass wir dich erwischt haben“, erklärt Vestager.

Das war aber nicht alles. Vestager leitete eine kartellrechtliche Untersuchung zum Mobilfunk-Betriebssystem Android ein. Später kam noch ein drittes Kartellrechtsverfahren zu Googles Anzeigengeschäft dazu. Und sie deutete an, dass auch eine Untersuchung zur Google-Suche möglich sei. Google Shopping könnte zum Präzedenzfall werden. „Die ersten fünf Jahre waren frustrierend“, erinnert sich Michael Weber. „Aber mit Vestager hat sich der Wind gedreht. Jetzt sieht es so aus, als könnten wir gewinnen.“

Vestager hat kein eigenes Facebook-Profil. „Was ich habe, nennt man, glaube ich, eine Fan-Seite.“ Im Januar las sie die Nutzungsbedingungen. „Schon der erste Absatz ist eine Herausforderung für unsere Vorstellung von Urheberrecht und Datenhoheit.“ Was auf den nächsten vier Seiten folgte, erschien ihr nicht minder unbehaglich.

„Ist Ihnen klar, dass Sie Facebook gestatten, alles zu verwenden, was Sie posten – alle Fotos, alle Videos –, und an Dritte weiterzuverkaufen? Wenn man sein Profil löscht, erhält man die Hoheit über alles zurück, was man nicht geteilt hat. Aber die Inhalte, die Sie mit anderen geteilt haben, bleiben im Netz. Und Facebook kann sie immer noch weiterverkaufen.“

Gegen Facebook ermittelt Vestager ebenfalls in einem offiziellen Verfahren. Darin geht es um die 22 Milliarden Dollar schwere Übernahme von WhatsApp im Jahr 2014. Zunächst hatte Facebook versichert, keine Daten zwischen den beiden Plattformen auszutauschen. Ein Software-Update im August 2016 erlaubte plötzlich genau das – um mehr personalisierte Werbung möglich zu machen.

Vestager beschuldigte Facebook, die Kommission hinters Licht geführt zu haben. Der Vorwurf könnte zu einer Strafe in Höhe von einem Prozent des Jahresumsatzes führen – das wären  etwa 270 Millionen Dollar. Vestager sucht außerdem nach einer Möglichkeit, das Wettbewerbsrecht so zu erweitern, dass die Kommission bei Firmenfusionen auch den Austausch von Daten überprüfen kann. Die deutsche Kartellrechtsbehörde ermittelt gerade gegen Facebook. Hat dessen Funktion als Pinnwand des Internets dazu geführt, dass der Konzern das Recht auf Privatsphäre aushöhlt? „Das ist die Hypothese der Behörde. Wenn sie der nicht nachgehen würde, müssten wir alle das tun“, sagt Vestager.

In der digitalen Ökonomie sind Daten das neue Öl. Es sieht aus, als versuche Vestager Tech-Konzerne auf die europäischen Standards für Datenschutz festzunageln, auch dann, wenn die Konzerne außerhalb Europas sitzen. Für die einen ist das der Beginn eines neuen Kartellrechts-Zeitalters. Für andere reiner Protektionismus.

„Es gibt politische Interessen, die auf mehr Raum für europäische Firmen hinarbeiten“, sagt Andrea Renda, Senior Research Fellow am European Centre for European Policy Studies in Brüssel. „Vestager ist die Einzige, die genug Macht hat, Druck auf amerikanische Unternehmen auszuüben.“
Einen solchen Vorwurf weist Vestager zwar zurück. Amerikanische Wirtschaftsvertreter sehen in ihrer „edel gesinnten Haltung“ aber eine zynische Strategie, „ersonnen, um eigene wirtschaftliche Interessen zu verfolgen“ – so formulierte es Barack Obama 2015. Jetzt ist mit Donald Trump jemand im Amt, dessen Slogan „America first“ lautet und der Deutschland attackiert, sich gegenüber den USA unfair zu verhalten. Für Vestager ist das Verhalten Donald Trumps „das Gegenteil von allem, wofür ich stehe“. Aber womöglich forciert sie gerade einen trans­atlantischen Bruch (und nach dem Brexit auch einen zwischen der EU und Großbritannien). Einer, der in einem pessimistischen Szenario zu einem Ende des offenen, globalen Internets führen könnte.

„Dem europäischen Wettbewerbsrecht wird eine entscheidende Rolle bei der Fragmentierung des Netzes zukommen“, argumentiert Katja Bego, Datenanalystin beim Think-Tank Nesta. „Insbesondere, wenn amerikanische Firmen, einigermaßen unberechtigt, die Ermittlungen gegen Google, Facebook und Apple als einen aggressiven Akt des Protektionismus begreifen.“ Bego befürchtet eine Balkanisierung des Internets – eine zersplittertes Universum mit Grenzen wie Chinas Great Firewall. Nach dieser Sicht würden sich die USA und Großbritannien in einem überwachungsfreundlichen Netz der Tech-Konzerne verbünden. Und die EU würde zwar die Daten ihrer Bürger schützen, aber den Anschluss verlieren. Der Horizont würde kleiner. Wachstumspotenziale blieben ungenutzt. Und der Populismus gewönne gegen die offene Gesellschaft.

Wie Vestagers Entscheidung im Fall Google ausfällt, war lange nicht abzusehen. Die harten Gespräche der vergangenen Jahre hätten immer noch in eine laue Einigung münden können. Es gab allerdings nicht viele, die das glaubten. „Sie hat ihre Entscheidung längst getroffen“, glaubt Thomas Vinje Wochen vor der tatsächlichen Entscheidung. Er leitet die Antikorruptions-Einheit der Kanzlei Clifford Chance und ist einer der Anwälte der Beschwerdeführer. „Für sie ist das auch eine Frage der Moral und ich glaube nicht, dass sie ihre Haltung in dieser Sache ändern wird.“ Eine EU-Wettbewerbskommissarin ist Richterin, Geschworene und Vollstreckerin in einem. Beklagte können Rechtsmittel einlegen. Aber das Urteil tritt sofort in Kraft und der Europäische Gerichtshof folgt in der Regel der Entscheidung der Kommissarin.

In den Fluren Brüssels wie in den Konferenzräumen von Google geht es deshalb fast nur noch um das, was in dem Urteil stehen wird. Dass es eine schlagzeilenträchtige Strafe geben werde – darin waren sich jene mit dem Blick in die Glaskugel einig. Wie auch darüber, dass jede Strafe, egal wie hoch, zu gering ausfallen dürfte, um wirklich etwas zu bewirken. Als der italienische Wettbewerbskommissar Mario Monti 2004 gegen Microsoft eine Strafe über 497 Millionen Euro verhängte, stieg der Kurs des Unternehmens sanft an. Die Summe lag bei nur etwa einem Prozent der damaligen Barreserven von 50 Milliarden Dollar. Googles Mutterkonzern Alphabet sitzt auf einem Berg an Cash von knapp 90 Milliarden.

Sie ist entschlossen, ihren Willen durchzusetzen. Und sie weiß, was das bedeutet: dass man kämpfen muss

Wichtiger als eine mögliche Geldstrafe ist, zu welchen Änderungen Vestager Google zwingen wird. Um zu illustrieren, was sie antreibt, zieht sie einen Vergleich aus einer Zeit heran, die lang vergangen scheint: als Vergleichsportale für Flugpreise entstanden. Sie mag es, wie Momondo, Kayak und Skyscanner uns erlauben, „zu unserem eigenen Reisebüros zu werden“. Sie hätte gern die gleichen Möglichkeiten auf dem Boden. „Ich will nicht auf die App von Uber oder einem Taxiunternehmen angewiesen sein. Ich wünsche mir eine umfassende Übersicht, wie ich von A nach B komme.“

Bei einer Produktsuche könnte das bedeuten, künftig einen Preisvergleich zu sehen – nicht den „Shopping“-Link, der zu Googles eigener Produktsuche führt. Und wer nach einer Postleitzahl sucht, erhält eine Auswahl von Straßenkarten. Bei Videos werden Vimeo- genau wie You­tube-Links angezeigt.
Eine solche Änderung würde Google fundamental anders aussehen lassen. Die zähen Ermittlungen könnten das Verhalten des Konzerns aber auch von innen heraus ändern, sagt Vinje. Er hat das bei Microsoft beobachtet. „Als die Kommission mit dem Konzern fertig war, hat er bestimmte Dinge nicht mehr wiederholt.“

Die Auswirkungen einer Kommissionsentscheidung lassen sich gut am Jahr 2009 ablesen. 55 Prozent des weltweiten Internetverkehrs liefen zu der Zeit über den Internet Explorer. Im Dezember desselben Jahres entschied die Kommission, dass Microsoft seine marktbeherrschende Stellung beim Betriebssystem Windows missbrauche, um seinen Browser in den Markt zu drücken. Die Kommission verlangte, die Nutzer via Browser Choice selbst entscheiden zu lassen. Das Ergebnis? Heute hat der Internet Explorer einen Marktanteil von 21 Prozent.

Für Google ist Microsoft ein warnendes Beispiel, was auf dem Spiel steht. Für die Kommission ist der Fall allerdings auch ein Beleg dafür, wie ein Vorgehen hier Probleme dort hervorrufen kann. Denn vom Niedergang des Explorers hat am stärksten profitiert: Google Chrome. Im Jahr 2010 lag der Marktanteil bei sechs Prozent. Heute sind es 54. Von Vestagers Entscheidung könnten nicht innovative Unternehmen aus Europa profitieren, sondern Googles unmittelbare Konkurrenten. Amazon im Bereich Shopping. Oder Yandex, Googles russischer Suchmaschinenrivale. „Wenn wir einen fairen Zugang bekommen, legen wir los“, sagt CEO Arkady Volozh.

Ihre Entschlussfreude beendete Vestagers Zeit in der dänischen Regierung auf unangenehme Weise. Sie wollte Arbeitslosen die Unterstützung kürzen, obwohl ihr Koalitionspartner dagegen war. „Sie hatte die Mehrheit und sie wollte nichts an ihrer Politik ändern“, erinnert sich ihre Biografin Svane. „Das kos­tete nicht nur sie den Kopf, sondern die gesamte Regierung.“

Sich selbst entscheiden zu können und zu den Folgen zu stehen – das ist der Schlüssel zu Vestagers Philosophie. Nutzern die Möglichkeit zu geben, unter verschiedenen Shopping-­Angeboten zu wählen, ist das eine. Für sie steckt darin aber auch der moralische Imperativ, fundamentale Werte unserer Verfassung zu verteidigen. „Lassen wir dagegen einfach alles laufen, lassen wir zu, dass unsere liberale Welt langsam, aber sicher untergeht.“

Auf dem Kaffeetisch in ihrem Büro steht der Gipsabdruck einer Hand. Er ist das sarkastische Geschenk einer dänischen Gewerkschaft aus der Zeit, in der sie für die Kürzung der Arbeitslosenhilfe stritt. Der Mittelfinger ist ausgestreckt. „Mein Ehemann sagt immer, es verstoße gegen das Protokoll, so etwas auf dem Tisch stehen zu haben.“ Vestager lacht. Sie ist fest entschlossen, ihren Willen durchzusetzen. Und sie weiß, was das manchmal bedeutet: dass man kämpfen muss.

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