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Im Jahr 2029 schreibt Johnny Haeusler Mikroclips für das SoNet

von Johnny Haeusler
Mit Hilfe einer Zeitmaschine konnte unser Kolumnist Johnny Haeusler eine Reise ins Jahr 2029 unternehmen und von dort über den Stand der digitalen Vernetzung berichten. Er ist ganz zufrieden. Aber auch sehr gelangweilt.

August 2029. Ich bin gerade 65 Jahre alt geworden. Für die Generation meiner Eltern betrat man mit Mitte Sechzig das „Rentenalter“, doch gerade für Selbstständige ist im Jahr 2029 an ein Ende aktiver Arbeit nicht zu denken. Nach dem Crash der privaten Rentenversicherungen vor zwei Jahren hatte die Regierung zwar ein Notfallprogramm gestartet, mehr als 20 Prozent der nachweisbaren ursprünglichen Versicherungssumme waren jedoch nicht drin. Also: Weitermachen.

Glücklicherweise gibt es genug zu tun, auch für ältere Herrschaften wie mich. Die re:publica läuft gut, seit sechs Jahren findet sie nur noch virtuell statt und gilt als größtes Mixed-Reality-Gathering (MRG)* der Alten Welt (AW), den letzten verbliebenen Ländern im Verbund der ehemaligen Europäischen Union. Im kommenden Jahr haben wir als Location den Mars gewählt, allerdings haben wir dessen Ödnis unterschätzt, die Gestaltung der Konferenzräume kommt uns teuer zu stehen. Naja. Wieder was gelernt.

Die Jahrzehnte der Online-Erfahrung kommen mir weiterhin zugute, ich schreibe auch immer noch. In erster Linie sind es Drehbücher für sogenannte Mikroclips, die 20 bis 30 Sekunden langen Serien-Episoden, die zwischen der Werbung auf OurTube eingeblendet werden, einem der letzten kostenfreien Video-Dienste. Mikroclips greifen tagesaktuelle Themen auf und verarbeiten sie in Stories, deren Ausrichtung wöchentlich auf Basis der Nutzerinnendaten angepasst werden. Im Moment ist „Comic Drama“ angesagt, „Steamy SciFi“ läuft aber natürlich auch immer gut. Der Job ist stressig, mehrere Episoden müssen täglich abgegeben werden und die Drehbuchautorinnen treten nach dem Upload ihrer Texte in einen sofortigen Wettbewerb, denn nur der auf Grundlage vorhandener Geschmacksdaten als bester Text automatisch ausgewertete wird freigeschaltet und honoriert. Bei erfolgreichen Serien kämpfen schon mal mehrere hundert Autorinnen um die Veröffentlichung. Immerhin landen die Credits im Fall einer solchen Veröffentlichung sofort im SP – im SozialProfil der jeweiligen Person.

Alles passiert sofort, denn wir sind alle online, immer. Und seit der Einführung von SoNet (kurz für „Social Net“) sprechen ohnehin nur noch sehr wenige Menschen von „Online“ und „Offline“. In erster Linie sind das Nerds, die auf ihre veraltete Hardware stolz sind, die noch ohne SP funktioniert und sich mit dem ursprünglichen Internet verbinden kann.

Mit der Einführung von SoNet im Jahr 2025 hatten Politik und Unternehmen weltweit, nach jahrelangen Verhandlungen und gegen massive Proteste von Aktivistinnen auf die Nichtverfolgbarkeit von Straftaten, Daten- und Persönlichkeitsraub, Stalking, Hate Speech, Wahlmanipulationen und andere Vorkommnisse im Internet reagiert. Im ausschließlich auf mobiler Datenübertragung basierenden SoNet gibt es keine Anonymität, im SP aller Nutzerinnen sind sämtliche Daten, Konten, Versicherungen, Verträge und Geldflüsse registriert, jede Aktivität wird aufgezeichnet, ausgewertet, analysiert. Von Nutzerinnen selbst erstellter Content von Texten bis zu Fotos wird mit einer eigenen Content-ID versehen und durch CopyProtect geschützt – bisher wurde das System, das den Datenhandel unter allen SoNet-Nutzerinnen zulässt, noch nicht gehackt. Hardware muss schon beim Kauf auf die nutzende Person zugelassen werden. Bis 2035 sind implantierbare PersoChips noch freiwillig, ab dann sollen sie bei Neugeborenen Pflicht werden.

Im SoNet passiert der Empfang und das Senden von Geld ohne Zeitverzögerung und ständig. Mieten werden nach Stunden abgerechnet, ein Wechsel des Wohnraums ist bei Verfügbarkeit und entsprechenden Sozialpunkten („Spoints“) jederzeit möglich. Fahrzeuge werden nach Bedarf gemietet, selbst E-Bikes für eine Person ohne Transportlizenz fahren autonom. SoNet ist relativ sicher, allein der Versuch einer möglicherweise strafbaren Handlung wird sofort erkannt. Kommt es im privaten Kontakt unter Personen zu Streit, wird dieser sofort von einer Justice-KI entschieden. Solche Streits gibt es aber kaum, denn sie bedeuten Abzüge bei den Spoints.

Natürlich gibt es das „alte“ Internet trotzdem noch, und der Zugang dazu ist kein Geheimnis. Allerdings gibt es keinerlei kommerzielle Angebote, denn Banken und Unternehmen sind Aktivitäten im Internet verboten. Handel ist in jeder Form untersagt – und findet natürlich zwischen den Nutzerinnen trotzdem statt. Denn schnell hatte sich mit SplitCoins eine eigene, anonym nutzbare Währung im Internet etabliert, die technisch auch recht gut funktioniert, in der Handhabung aber ziemlich kompliziert ist. (Fanatische Internet-Nutzerinnen kürzen die SplitCoins mit „Sploins“ ab, um sich über Spoints lustig zu machen.) Außerdem gilt der private Handel im Internet als unsicher, selbst virtuelle, mit SplitCoins bezahlte Waren ohne CopyProtect – nur solche lassen sich im Internet überhaupt noch vervielfältigen – kommen selten bei Käuferinnen an, und das Internet ist jetzt so dermaßen vollgepackt mit Spam, dass man vertrauenswürdige private Händler von Bots, die sich gegenseitig durch positive Bewertungen in die Toplisten manövrieren, einfach nicht mehr unterscheiden kann.

Die meistgesuchte Ware im Internet war im letzten Jahr wohl echtes Fleisch, denn seit 2027 ist die Herstellung und der Verzehr von tierischen Lebensmittelprodukten untersagt. Doch das Thema und vor allem der Vertrieb ist heikel, komplex und höchst illegal. Nur in wenigen Ländern gibt es noch Kriminelle, die sich damit befassen. Mehrere Menschen sind in den letzten Monaten an illegal besorgtem, vergammeltem Fleisch gestorben, da ihnen medizinische Hilfe versagt wurde.

Denn seit die Regierungen der Welt nach der Einführung von SoNet das Internet in seiner bisherigen Form für völlig rechtsfrei erklärt hatten, gibt es keinerlei Schutz oder Rechte für Nutzerinnen, für Folgen der Internet-Nutzung kommt niemand auf. Wer das Internet nutzt, ist allein auf sich gestellt und handelt völlig auf eigene Gefahr. Anfangs gab es großen Jubel darüber, der aber relativ schnell verebbte, hauptsächlich, weil der Kram ob der vielen Bots und zu vieler Betrügerinnen einfach keinen Spaß mehr machte. Mit den Jahren hat sich das Internet daher zu einer reinen Diskussionsumgebung für Hardcore-Aktivistinnen verschiedener politischer Lager entwickelt, abgesehen von den eben erwähnten negativen Eigenschaften gibt es auch nur wenige Provider, die überhaupt noch einen Zugang anbieten. Und sie schaffen nur sehr langsame Geschwindigkeiten, selbst ein Foto braucht mehrere Sekunden, bis es geladen ist. Für Text ist es aber okay, ich nutze es selbst ab und zu, um für meine Drehbücher zu recherchieren. Nirgends gibt es so tolle Verschwörungstheorien wie im Internet, und die SoNet-Zuschauerinnen stehen drauf. Man muss halt nur aufpassen, dass man nicht versehentlich einen Bot anschaut.

Ja, dieser ganze Digitalkram hat sich in den letzten Jahrzehnten schon ziemlich irre entwickelt. Das Internet, wie ich es noch kennengelernt habe, ist leider ziemlich unbrauchbar geworden, aber rückblickend glaube ich, der Niedergang hatte schon mit Facebook angefangen. Klar, die aktuelle Hardware ist der Hammer (wenn ich mit dem rechten Auge dreimal blinzle, machen meine iLense ein Foto, beim linken startet eine Videoaufnahme) und viele SoNet-Funktionen sind wirklich praktisch, außerdem ist das Ganze ziemlich sicher.

Aber es ist auch langweilig, denn niemand benimmt sich im SoNet wirklich individuell. Lustig ist außerhalb von Mikroclips eigentlich niemand mehr, weil andere Menschen dauernd mit Anzeigen reagieren, wenn sie einen Witz nicht verstanden haben. Auch die aktuelle Musik ist furchtbar, im Moment ist „AlgoDance“ der neueste Hype, von Rechnern komponierte Songs, die einen zehnsekündigen Pop-Refrain 30 Minuten lang im Loop wiederholen. Und in den sozialen Diskussionskanälen ist die Sprache aus Furcht vor Missverständnissen quasi auf Zwei-Wort-Sätze beschränkt. Die meisten Menschen benutzen das SoNet nur für offiziellen Behördenkram, Mainstream-Unterhaltung und Einkäufe. Für viel mehr taugt es auch nicht.

Doch es tut sich was. Ein paar junge Menschen, die sich selbst „Webster“ nennen, haben angeblich ein eigenes Netzwerkprotokoll entwickelt, das bisher unerkannt auf die überall vorhandene Hardware aufsetzt und nur auf Einladung und Empfehlung nutzbar ist.

Es bleibt also spannend.

Haltet durch!

Alle Artikel des WIRED2029-Specials, die vom 12. bis 19.12.2018 erscheinen werden, findet ihr hier.

Johnny Haeusler

Johnny Haeusler

von GQ

*Anmerkung: Alle Marken- oder Produktnamen und Abkürzungen sind frei erfunden und haben nichts mit möglicherweise gleich lautenden und bestehenden Namen oder Abkürzungen zu tun, bei dem vorliegenden Text handelt es sich um Fiktion.

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