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Großbritannien, die USA und Deutschland spülen die Netzfreiheit runter

von Max Biederbeck
Das neue britische Überwachungsgesetz, genannt „Snoopers Charter“, schockiert Datenschützer. Ihr Blick richtet sich jedoch auch auf die USA und Deutschland, denn beide verabschieden gerade neue Regelungen, die gar nicht so weit entfernt von denen Großbritanniens sind.

Es geschieht immer dann, wenn die Toilettengänger ihre Hose herunterziehen wollen. Eigentlich ist eine neue öffentliche Toilette eine saubere Wohltat, vor allem wenn es einmal richtig nötig ist. Umso erschrockener wirken die Besucher dieses speziellen Klos. In dem Moment, in dem sie sich entspannt hinsetzen wollen, wird das milchige Glas hinter ihnen plötzlich durchsichtig. Die ganze Fußgängerzone guckt jetzt zu und eine Frauenstimme aus dem Off kommentiert mit klaren Worten: „Privacy Down“ – Privatsphäre heruntergefahren.


Großbritannien spült seine Privatsphäre gerade die Toilette hinunter, das ist die Botschaft der entblößenden Toilette. Sie war eine Aktion von Kritikern eines neuen Gesetzes, das gerade durch das britische Unterhaus gegangen ist, dem Investigatory Powers Bill. Am Dienstag hat die Queen dieses Gesetz zur Daten-Überwachung unterschrieben – damit ist das Gesetz, das auf der Insel auch gerne Snoopers Charter, also Schnüffelgesetz genannt wird, rechtsgültig.

Während Unterstützer von einem weltweit vorbildlichen Gesetz zur Wahrung von Sicherheit und Privatsphäre sprechen, befürchten Datenschützer ganz im Gegenteil ein weltweites Vorbild für Autokraten, die Zensur jetzt mit Großbritanniens Gesetzen rechtfertigen können. Die Toilette in der Fußgängerzone war ein rabiater Versuch, öffentliche Aufmerksamkeit auf die neue Überwachungslage in UK zu lenken. Das neue Gesetz liest sich wie ein Albtraum für Datenschützer.

Die sogenannte Snoopers Charter zwingt Internet-Provider, besuchte Websites und Apps ihrer Kunden für ein Jahr zu speichern. Polizei und andere Behörden dürfen nach Belieben darauf zugreifen, einen richterlichen Beschluss brauchen sie nicht. Der britische Nachrichtendienst GCHQ kann außerdem den gesamten Internetverkehr über die Datenknotenpunkte auf der Insel für mehrere Tage speichern. Der Staat darf in Zukunft Telefone und Computer nach Gusto hacken, selbst wenn eine betroffene Person gar nicht beschuldigt wird.

Harter Tobak, doch nicht nur in England müssen Bürger um ihre Rechte bangen. Der US-amerikanische Senat hat bereits im Juni ein Gesetz vorgestellt, dass dem FBI mehr Befugnisse zur Bespitzelung einräumt. Die Bundesbehörde kann in Zukunft wesentlich einfacher sogenannte Security Letters beantragen, geheime Aufforderungen an Technologie-, Telekommunikation- und Finanzunternehmen, Kundendaten herauszurücken. Wie das in der Praxis aussehen darf oder wie die Beamten überprüft werden sollen, sagt das Gesetz nicht.


In Deutschland gibt die neue BND-Reform Grund zur Sorge. Mit der Gefahr vor internationalem Terrorismus rechtfertigt die Regierung eine Ausweitung der Arbeit des Bundesnachrichtendienstes auch im Inneren. Das neue Gesetz legalisiert den Zugriff des Geheimdiensts auf Internetknotenpunkte etwa in Frankfurt und gibt ihm so einen Freibrief zur Datenerhebung. Der BND darf demnach ganze „Telekommunikationsnetze“ abhören, also „die Gesamtheit von Übertragungssystemen“ von Telekommunikationsanbietern. Den Kollegen von Netzpolitik.org sagte ein hochrangiger Verfassungsrechtler: „Dadurch dürfte das Ausmaß der Überwachung erheblich steigen.“ Ende Oktober hat der Bundesrat das umstrittene Gesetz im Eilverfahren durchgewinkt.

Und dabei bleibt es nicht. Der BND investiert 150 Millionen Euro in die Entschlüsselung von Messengern wie WhatsApp und ab Anfang 2017 soll zusätzlich eine eigene Behörde verschlüsselte Nachrichten knacken. Die Zentrale Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich, kurz Zitis, wird zunächst 60 Mitarbeiter haben. Grund für die Maßnahme ist der Trend hin zur Ende-zu-Ende-Verschlüsselung von Kommunikationsdiensten. Anbieter wie WhatsApp sind darum bemüht, die Nachrichten ihrer Nutzer vor dem Zugriff Dritter zu schützen. Geheimdienste fürchten das „Going Dark“ – das sprichwörtliche Tappen im Dunkeln.

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Schließlich will auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière die Kontrollrechte der Datenschutzbehörden stark einschränken. Das macht seine geplante Umsetzung der Europäischen Datenschutzverordnung deutlich. Ärzte und Geheimnisträger sollen nicht mehr darauf geprüft werden können, ob sie etwa Patientendaten weitergegeben haben – auch nicht private Firmen, sobald Informationen ihre „Geschäftszwecke erheblich gefährden“. Verbraucherschützer in Bund und Ländern kritisieren den Entwurf: Die EU-Verordnung solle Datenhandel bremsen, genau das aber passiere nicht.

Dazu kommt das neue Trade in Services Agreement (TiSA), das Greenpeace zugespielt wurde. Die Regelung soll den internationalen Handel mit Dienstleistungen vereinfachen, alle 28 EU-Staaten sitzen mit am Verhandlungstisch. Die veröffentlichen Dokumente zeigen aber, wie das Abkommen den Datenschutz in Europa zugunsten guter Handelsbeziehungen aushebelt. Es erlaubt Staaten zwar eigene Bestimmungen zum Datenschutz, diese dürfen aber keine „nicht zu rechtfertigende Diskriminierung“ gegenüber anderen Staaten darstellen. So dürften Daten, die eigentlich in der EU gespeichert werden müssen, in Zukunft wieder auf ungeschützten Servern weltweit liegen. Weiterhin befürchten Kritiker das Ende der Netzneutralität durch das Abkommen.

Die britischen Verhältnisse sind also nicht so weit weg. Das Vereinigte Königreich ist nicht das einzige Land, dass seine Rechte angesichts der Unsicherheit, die Terrorismus verursacht, im übertragenen Sinne die Toilette runterspült.

Eine erste Version dieses Artikels erschien am 8. Juni 2016, sie wurde aktualisiert und um zusätzliche Informationen ergänzt.


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