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„Solve For X“: Google feiert in Berlin Ideen zwischen Sci-Fi und Alltag von übermorgen

von Karsten Lemm
Forscher und Entwickler, die sich nicht mit kleinen Zielen zufrieden geben, finden Unterstützung bei Googles „Solve For X“-Programm. Nun kam die die Veranstaltung zum ersten Mal nach Europa, WIRED war in Berlin exklusiv dabei.

Warum eigentlich kann man Wasserflaschen nicht essen? „Es dauert 700 Jahre, bis so etwas zerfällt“, sagt Rodrigo García González und hält eine typische Plastikflasche in die Luft. „Der Verbrauch steigt, und ihr hier in Deutschland liegt sogar noch vor den Amerikanern.“ Der Spanier steht im Atrium des Humboldt Carrés im Herzen von Berlin und zeigt, wie seine Lösung für das Problem aussieht: eine kleine Kugel, die in seiner Hand herumschwabbelt — ein paar Zentiliter Wasser, gefangen in einer durchsichtigen, verformbaren Hülle, die aus Kalziumchlorid und Seetang besteht. „Es lässt sich extrem billig herstellen“, sagt García, Mitgründer des Startups Ooho, steckt sich den Blubb Wasser in den Mund und schluckt ihn herunter. „Das war's!“

Nein, marktreif ist diese Erfindung noch nicht. Genau deshalb passt sie perfekt zur Veranstaltung: Google hat am Donnerstag zum ersten „Solve For X“-Event Europas nach Berlin geladen, um ehrgeizige Projekte zu feiern, die nach Ansicht der Kalifornier Aufmerksamkeit verdienen, weil sie auf der Schnittstelle zwischen Science-Fiction und Alltag von übermorgen liegen — genau wie bei der hauseigenen Ideenfabrik Google X, die unter anderem mit selbstfahrenden Autos experimentiert und die Google-Glass-Brille entwickelt hat.

Nanopartikel als winzige Bausteine, flexibel und widerstandsfähig zugleich

„Wir versuchen, mithilfe von Technik fundamentale Probleme zu lösen, die die ganze Welt betreffen“, erklärt Google-X-Direktorin Obi Felten zur Begrüßung der rund 200 Teilnehmer aus ganz Europa. Manche sind aus London angereist, andere aus Italien, Spanien oder Frankreich. Forscher sind darunter, aber auch Designer, Investoren und Manager. Alle hier können, alle sollen mithelfen, aus den sieben Projekten, die im Laufe des Tages vorgestellt werden, mehr zu machen als bloße Ideen, die am Rande des Unmöglichen zu liegen scheinen. „Moonshots“ nennt Google solche Projekte gern, bei denen die Erfinder nach den Sternen greifen, ohne sich vom reflexhaften „Das kann doch nie was werden“ der Bedenkenträger irritieren zu lassen.

Dreimal schon gab es ähnliche Veranstaltungen in den USA. Jedes Mal bot Google Projekten ein Podium, die hausintern nicht recht ins Konzept passten, aber auch nicht untergehen sollten. Nun ist Europa dran. „Es geht darum, Moonshot-Pioniere zu feiern“, ruft Felten in den Raum, „aber sie sind noch nicht ganz am Ziel, und deshalb brauchen sie eure Hilfe.“ Brainstorming, Netzwerken, Querdenken stehen für die nächsten Stunden auf dem Programm, um abseits vom Offensichtlichen kreative Lösungen zu finden.

Insekten-Protein als perfektes Health-Food vermarkten

Da ist zum Beispiel der Deutsche Jens Bauer vom Karlsruher Institut für Technologie, der daran arbeitet, Nanopartikel mit 3D-Druckern herzustellen — winzige Bausteine, die flexibel und zugleich extrem widerstandsfähig sein sollen. Doch wie ließen sich aus den mikroskopisch kleinen Teilen große Geräte konstruieren? Der Franzose Antoine Hubert hingegen träumt davon, Insektenfarmen zu bauen, um die Krabbeltiere an andere Tiere zu verfüttern: Das Protein der Insekten tauge etwa perfekt dazu, Fische zu ernähren, argumentiert er — eine weit bessere Lösung, als Ozeane auszuräubern, um kleine Fische an große Fische zu verfüttern. Aber wie steht es um die Akzeptanz? Möchten Menschen Tiere essen, die Fliegen und Käfer futtern? Die Italienerin Vittoria Colizza versucht derweil, ihr Frühwarn-System für Epidemien alltagstauglich zu machen. Um effizient vorhersagen zu können, wie, wann, wo eine neue Ebola- oder Polio-Welle drohen könnte, muss sie Behörden und Öffentlichkeit dazu kriegen, mit ihrem Gleamviz-Projekt zusammenarbeiten. Nicht leicht für ein Startup im Entwicklungsstadium.

Zehn Minuten bekommt jeder der Moonshot-Pioniere, um das eigene Projekt vorzustellen. Dann stecken die Zuhörer in kleinen Gruppen die Köpfe zusammen, um die Herausforderungen zu diskutieren. Berliner Künstler stehen daneben, hören zu und skizzieren die Vorschläge auf Leinwänden. Konstruktiv soll vor destruktiv gehen, haben die Organisatoren den Teilnehmern mit auf den Weg gegeben, damit am Ende nicht das „Ja, aber…“ überwiegt, sondern: „Ja, und zwar am besten so…“ In wenigen Minuten mit gekonnten Filzstift-Strichen entstehen Poster, die zeigen, wo die Gruppen Herausforderungen und mögliche Lösungswege sehen.

Zeigen, dass 3D-Druck auch mit Mondstaub möglich ist

Antoine Hubert und seinem Startup Ynsect empfehlen gleich mehrere Gruppen, Insekten-Protein als perfektes Health-Food zu vermarkten. Vittoria Colizza bekommt die Anregung, sich Prominente als Botschafter zu suchen, die den Warnungen ihres Systems mehr Gewicht verleihen. Und für die essbaren Wassercontainer von Rodrigo García González überschlagen sich die ehrenamtlichen Ratgeber förmlich mit Ideen: Die einen denken an „Blubb-Halter“, die es leichter machen könnten, die Wassertropfen zu zu lagern. Andere überlegen, ob die Hülle nicht aus einem „programmierbaren Biofilm“ bestehen könnte, um Essen zu konservieren und sofort festzustellen, ob es womöglich verdorben ist. Eine dritte Gruppe kassiert Gelächter für den Vorschlag: „Könnten wir das im Doppelpack herstellen und einen Gin Tonic draus machen?“

Selbst wenn nicht alle Ideen ernst gemeint sind: Das Feedback sei hilfreich, erzählen anschließend die Moonshot-Pioniere, die oft monatelang in ihren Entwicklerstuben arbeiten und sich vorwiegend mit Kollegen austauschen. „Was mir sehr gefällt“, sagt Jérôme Bonnet, „ist, dass wir Leuten Fragen stellen können, die aus ganz anderen Gebieten kommen.“ Der Biologe forscht in seinem Labor in Südfrankreich daran, menschliche Zellen programmierbar zu machen wie Computerchips. Eines Tages soll es damit etwa möglich werden, Krebserkankungen durch einen simplen, schnellen Speicheltest zu entdecken. „Es liegt noch viel Arbeit vor uns“, sagt Bonnet. Aber als Inspiration aus Berlin nimmt er schon mal mit, dass es helfen kann, ganz ungezwungen über Dinge zu sprechen, die noch nicht klappen, um gemeinsam bessere Lösungen zu finden. „Das Diskussionsformat ist sehr konstruktiv“, sagt er. „Ich werde die Meetings in meiner Arbeitsgruppe ähnlich organisieren.“

Dass viele der Projekte erst ganz am Anfang stehen, ist gewollt: „Wir sind nicht interessiert an Dingen, die schon funktionieren oder auf gutem Wege sind“, erklärt Google-X-Managerin Felten in einer Pause (und denkt laut darüber nach, ob Google X überhaupt seinen Namen behalten kann, da Google ja eigentlich in Alphabet umgetauft wurde). Andererseits sollten die Ideen auch nicht zu weit her geholt sein, sondern in jedem Fall realisierbar: „Der Sweet Spot für uns sind fünf bis zehn Jahre“, sagt Felten. Ging es anfangs noch darum, mit den Veranstaltungen hier und da Gründern zu helfen, die im Google-Umkreis an ihren Moonshots werkelten, entwickelt sich „Solve For X“ gerade zu einer eigenständigen Marke: Weltweit organisieren Freiwillige nun ähnliche Brainstorming-Veranstaltungen für Querdenker wie hier in Berlin, nur in kleinerem Rahmen und ohne direkte Google-Beteiligung. „Das Wachstum wird aus der Community kommen“, sagt Felten. Bis zu 50 Events im Jahr sind geplant.

Im letzten Projekt des Tages geht es dann um einen echten Moonshot: Mitglieder der Berliner „Part-Time Scientists“-Gruppe rollen ihren Moon Rover in den Saal, mit dem sie es bereits unter die ersten Fünf beim Google-eigenen Lunar XPrize geschafft haben (und in die WIRED-Auswahl der „15 Ideen für eine bessere Welt“). Robert Böhme, Leiter des Teams, stellt die große Idee vor: 2017 soll das Nachfolgemodell des Rovers fertig sein, es bis zum Mond schaffen und dort nach erfolgreicher Landung zeigen, dass 3D-Druck auch mit Mondstaub möglich ist. „Das ist höllisch kompliziert“, gibt Böhme im Anschluss an die Präsentation zu. Aber zum Glück mangelt es nicht an Unterstützung. Da sind zum einen die Poster voller Vorschläge, die Böhme und sein Team mit nach Hause nehmen können; zum anderen schlägt den Möchtegern-Raumfahrern überall nur Wohlwollen entgegen. Teilnehmer drängeln sich um den Rover, knipsen Selfies, bedienen Twitter, Facebook, Instagram. „Bei euch sehe ich kein ,Ja, aber…‘“, sagt Christopher Sier, Investor aus London. „Das ist alles nur cool.“ 

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