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Gig-Economy und Plattform-Boom: Droht ein neuer Räuberkapitalismus?

von Karsten Lemm
Die Gig-Economy erlaubt es Millionen Menschen, selbstbestimmt zu arbeiten. Sie konzentriert aber auch mehr Macht in den Händen der Plattformbetreiber. Das Soziale bleibt dabei auf der Strecke.

Dieser Artikel erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im Juni 2017 und ist Teil unseres Zukunft-der-Arbeit-Spezials. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

Endlich Wochenende! Aber wie bescheuert: jetzt Zeit opfern für Putzen, Feudeln, Fegen? Wer es sich leisten kann, lässt lieber andere für sich schrubben. Schließlich wimmelt es auf einmal von Diensten wie Helpling, Book A Tiger oder Haushelden, die sich darum reißen, für ein paar Euro extra fleißige Saubermacher zu vermitteln – mühelos per App, Fotos und Profilen, die signalisieren sollen: Hier kommt ein Freund zu dir nach Hause, nicht irgendein Fremder. 

„Wenn wir eine neue Reinigungskraft auf die Plattform stellen, ist der Kalender innerhalb von zwei Tagen gefüllt“, sagt Claude Ritter, Mitgründer von Book A Tiger. So schnell wachse die Nachfrage, erzählt der Jungunternehmer, dass seine Firma Monat für Monat mehr als 50 weitere Putzhelfer beschäftige – zusätzlich zu den über tausend, die jetzt schon für das Berliner Startup im Einsatz sind.

Der Boom solcher Dienste illustriert die steile Karriere der Gig Economy: Ein Modell, das mit Freizeit-Taxifah­rern und Feierabend-­Pizza­kurieren begann, erobert immer neue Branchen. Angereichert mit Social-Media-Elementen, die Vertrauen schaffen, vergeben Plattformen wie Twago, Upwork oder Projektwerk inzwischen auch Aufträge für Ingenieure, Grafikdesigner oder Software-Entwickler.

Zwar betätigen sich bisher erst acht Prozent der Deutschen als Crowdworker, und das Konzept taugt längst nicht für alle Wirtschaftszweige. Doch im Service-Sektor gewinnt es schnell neue Anhänger. „Die Stärke von Plattformen ist es, Transaktionskosten zu senken und Transparenz zu schaffen“, erklärt Stefan Heumann, Arbeitsmarktexperte beim Think-Tank Stiftung neue Verantwortung. „In vielen Dienst­leis­tungs­sektoren hatte man das früher nicht.“ Nun ersetzt der Griff zum Smartphone das Herumfragen im Bekanntenkreis, mitmachen kann jeder, und die Qualitätskontrolle übernimmt die Community: Versager werden mit schlechten Bewertungen bestraft. 

Die Offenheit der Plattformen gibt Millionen Menschen eine Chance, Arbeit zu finden, ohne sich zu binden. Wer feste Bürostunden scheut oder nebenher noch etwas Zeit hat, kann leicht Geld dazuverdienen, immer so, wie es am besten in den Tagesablauf passt. 

Die gleiche Offenheit führt aber auch zu einem schonungslosen Digital-Darwinismus: Während die Ausgezeichneten profitieren, riskieren die Mittelmäßigen, abgehängt zu werden – und selbst Fünf-Sterne-Träger können es sich nie erlauben nachzulassen, weil ständig neue Chauffeure, Kuriere oder Putzkräfte auf den Markt drängen. „Plattformen senken die Eintrittshürde, Arbeitskraft anzubieten“, erklärt Heumann, „und machen alles radikal effizient.“

Gewinner sind Kunden, die vom Wettbewerb profitieren, und die Plattformbetreiber selbst: Solange sie nur als Vermittler auftreten, können sie Kommissionen kassieren, ohne Sozial­abgaben zu zahlen, und müssen sich wenig Sorgen machen, dass ihre Beschäftigten aufbegehren. „Für einen einzelnen Fahrer ist es extrem schwer, Druck auf eine Plattform auszuüben“, erklärt der Lieferando-Mitgründer Christoph Gerber, inzwischen mit seiner neuen Firma Talon One auf Online-­Marketing umgestiegen. „Du kannst sagen: ,Jetzt bin ich weg!‘ Aber dann gibt es fünfzig andere, die schon darauf warten, deinen Job zu machen.“

Gefahr droht Plattformen allenfalls, wenn Gesetzgeber beschließen, sie wie traditionelle Arbeitgeber zu behandeln, die soziale Verantwortung übernehmen müssen – selbst wenn ihre Mitarbeiter nominell Freelancer sein mögen. In Großbritannien urteilte ein Gericht bereits, Uber-Fahrer seien als Angestellte zu sehen, nicht als selbstständige Kleinunternehmer. Auch die EU-Kommission überlegt, Plattformen stärker sozial in die Pflicht zu nehmen.

Manche Anbieter zeigen sich lieber freiwillig kooperativ und geben ihren Hilfskräften von vornherein feste Verträge – wie etwa Foodora und Book A Tiger. „Für uns ist ganz klar: Wir können so ein besseres Business aufbauen“, sagt Claude Ritter. 

In seiner Branche zumindest zählt Verlässlichkeit: Kunden, die Putzkräfte buchen, wollen nicht jede Woche neu erklären, wo der Staubsauger steht. Diese Erwartungshaltung verträgt sich schlecht mit der hohen Fluktua­tion auf Plattformen, die ausschließlich Freelancer vermitteln. „Die Unterschiede sind drastisch“, sagt Ritter. „Nach einem Monat hat man bei festen Mitarbeitern noch etwa 80 Prozent auf der Plattform – bei Free­lancern eher die Hälfte.“ 

Solche Geschäftsinteressen vermischen sich mit dem Wunsch, kein Ausbeuter zu sein. „Ich bin kein Weltverbesserer“, erzählt Ritter, „aber ich sage meinen Freunden immer: ,Wenn du fünf Euro für einen Latte Macchiato übrig hast, kannst du doch auch zwei Euro mehr pro Stunde zahlen, damit du weißt, dass deine Reinigungshilfe ordentlich bezahlt wird und auch mal Urlaub nehmen kann.‘“

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