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Laut, direkt, no bullshit – das ist Frank Thelen

von Nikolaus Röttger
Frank Thelen weiß, wie es sich anfühlt zu scheitern. Er hat es selbst erlebt. Als Investor will er heute Startups zum Erfolg führen - wenn es sein muss, auch mit unkonventionellen Mitteln. Und auf eigenes Risiko. WIRED hat ihn begleitet.

Dieser Artikel erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im September 2017. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

„Darf ich eure Kuh töten?“ Frank Thelen ist sehr direkt. Nein, das Logo des Startups Luicella’s Ice Cream, eine gezeichnete Kuh, gefällt ihm nicht. Und der Markt für veganes Eis sei auch wichtig, sagt er. Da kann so ein Tier irritieren. Also: „Darf ich eure Kuh töten?“, fragt der Investor die beiden Gründer, die an dem Tag in die Vox-Sendung Die Höhle der Löwen (DHDL) gekommen sind. Es ist der Satz, mit dem Thelen den Deal fast kaputt macht. Man sieht in den Gesichtern von Markus Deibler und Luisa Mentele: Die Kuh ist ihr Maskottchen!

Deibler ist Ex-Schwimmprofi, Mentele hat an der Gelato University in Bologna das Eismachen studiert, zusammen betreiben sie in Hamburg zwei Eisdielen mit Eigenkreationen. Ihre neue Idee heißt Luicella’s Eismix und soll in den Supermarkt: ein Pulver, das man zu Hause mit Milch, Sahne (oder veganen Alternativen) und Zutaten nach eigenem Geschmack anrührt und einfriert. Wie eine Kuchenbackmischung, nur für Eis. Die DHDL-Investoren kosten, ihr Urteil: Sensationell! Thelen macht den Gründern ein Angebot, zwei andere Löwen auch. Deibler und Mentele beraten sich. „Ich glaube, dass Frank mega was für uns machen kann“, sagt er. Sie: Der will die Kuh raus haben, „der ist so krass bestimmerisch“.

Währenddessen warten die Löwen. Thelen trommelt mit den Fingern auf die Eismix-Box, er wirkt ungeduldig.

DHDL ist längst das mediale Abziehbild der Start­up-Hype-Götzen

Als die Gründer zu den Löwen zurückkehren, legt Thelen seine Handflächen zusammen wie zum Gebet, führt sie vor die Stirn, senkt leicht den Kopf. Die typische Thelen-Nachdenk-Position. Man fragt sich, welchen heiligen Unternehmergeist er wohl anruft, hier in der Fernsehkathedrale der deutschen Gründerszene, in der die Löwen als Hohepriester junge Startups segnen oder verdammen.

Ein übertrieben religiöser Vergleich vielleicht, aber DHDL ist längst das mediale Abziehbild der Start­up-Hype-Götzen. Immer dienstagabends wird auf Vox das Versprechen abge­geben, jeder könne es schaffen – indem die Sendung paradoxerweise eben auch zeigt, dass es nicht jeder schafft. In Großbritannien läuft das Format unter dem Namen Dragons Den seit 2005, in den USA ist Shark Tank seit 2009 zu sehen, DHDL ist gerade in die vierte Staffel gestartet. Als Löwen sind dabei: Homeshopping-Unternehmerin Judith Williams, Finanz­investor Carsten Maschmeyer, Handelsexperte Ralf Dümmel, Familienunternehmerin Dagmar Wöhrl und eben Thelen.

120.000 Euro hat er den Eismix-Machern angeboten, Dümmel und Wöhrl ebenso. Aber die beiden wollen jeweils 25,1 Prozent des Unternehmens, Thelen will nur 20 Prozent. Und so sagt Deibler nach langer Bedenkzeit: „Herr Thelen, wir machen das sehr gerne mit Ihnen.“ Thelen steht auf, nimmt die Gründer in den Arm und sagt: „Danke.“ Er sieht ernst dabei aus.

Ich habe Startups zu oft scheitern sehen. Ich habe das ja selbst erlebt

„So eine Entscheidung zu treffen, ist wirklich schwierig“, sagt Thelen später. Er hat einen Spickzettel dabei in der Sendung, auf dem die Punkte stehen, die er abklären muss. Nach einem Deal sei er zwar euphorisch. „Aber es ist eine große Last. Ich habe plötzlich ein neues Startup, doch ob das geil wird? Eigentlich schreibe ich das Geld gedanklich gleich ab. Ich glaube in dem Moment nicht an den wirtschaftlichen Erfolg.“ Wer Thelen öfter trifft, lernt: Diesen Pessimismus hat er sich zum Prinzip gemacht. Frank Thelen ist jemand, der zuerst eher das Verlieren als das Gewinnen sieht und aus einem Underdog-Gefühl den Antrieb zieht, es genau deswegen trotzdem zu schaffen. „Ich habe Startups zu oft scheitern sehen. Ich habe das ja selbst erlebt.“

Der 42-Jährige hat seit 1994 insgesamt sieben Firmen gegründet, meist erfolgreich. Zweimal ging’s daneben. Mittlerweile investiert Thelen in andere, statt selbst zu gründen. Das heißt, er unterstützt junge Unternehmen mit Geld, dafür bekommt er Anteile. Wenn alles nach Plan läuft, wird das Startup ein paar Jahre später zu einem höheren Wert weiterverkauft – und Thelen hat sein Geld vermehrt. Das hat er zum Beispiel bei dem To-do-Tool Wunderlist geschafft (an Microsoft verkauft), bei myTaxi (an Daimler verkauft) und kaufda (an Axel Springer verkauft). Mit diesen Deals hat sich Thelen in der Tech-Szene einen Namen gemacht. Und jetzt hat er plötzlich – dank der Fernsehsendung – eine Reihe Food-Startups an der Backe.

„Du kannst nicht nur in Apps inves­tieren“, hatten die Macher von DHDL ganz am Anfang zu Thelen gesagt. Und so kam er eines Tages in sein Büro in Bonn und verkündete: „Ich habe gerade eine Suppe gekauft.“ Das Augsburger Startup Little Lunch aus Staffel zwei war sein erstes Food-Investment. Es folgten die Gewürzmanufaktur Ankerkraut, die Pizzateig-Macher von Lizza und jetzt, zu Beginn von Staffel vier, Anfang September: Luicella’s Ice Cream. „Mit Food schaffen wir schnell Umsätze im zweistelligen Millionenbereich“, sagt Thelen, „es ist lächerlich, wie wenig ein Food-Startup aus Berlin im Vergleich dazu macht. Aber wir haben natürlich den unfairen Vorteil des Primetime-Fernsehens mit sehr vielen Zuschauern.“ Über drei Millionen erreichte die vergangene Staffel pro Sendung. Und ein Teil der Zuschauer geht nach Ausstrahlung in den Supermarkt. „Das habe ich am Anfang total unterschätzt“, sagt Thelen.

Darf ich eure Kuh töten?

Seit vier Jahren macht er nun bei der Sendung mit. Er wird mittlerweile eingeladen zum Deutschen Fernsehpreis (den DHDL gewonnen hat) und zur Echo-Verleihung, er nimmt seine Frau mit, postet Videos und Selfies. Thelen ist das Fernsehgesicht unter Deutschlands Tech-Gründern. Er wird auf der Straße sofort erkannt.

Im Gegensatz zu Rocket-Internet-Macher Oliver Samwer, dem eigentlichen deutschen Tech-Investorenschwergewicht. Mit dem verbindet Deutschlands Gründer eine Hassliebe zwischen „Bäh, der kopiert ja nur Geschäftsideen“ und „Wow, ist der erfolgreich“. Samwer ist der Unnahbare, der sich selten in der Öffentlichkeit zeigt. Thelen ist überall, auf Plakaten, im Fernsehen, in der Bundesversammlung, um den Bundespräsidenten zu wählen.

Im vergangenen Jahr waren beide Redner beim Ideas Lab von Samwers alter Uni, der WHU in Vallendar. Die Karriere Samwers, des Milliarden-Einsammlers, der unter anderem Rocket und Zalando an die Börse gebracht hat, können die BWL-Studenten dort nachvollziehen: Eliteuni, gründen, Geld. Thelen hat kein Studium; sein Lebenslauf ist ein Zickzack; er investiert nicht fremdes, sondern eigenes Geld; darum geht es bei Thelen auch nicht um Milliarden, sondern meist nur um ein paar Hunderttausend. Thelen ist so was wie der Familienunternehmer unter Deutschlands Tech-Investoren.

Vor allem aber ist er der lauteste, direkt, no bullshit, harte Sprache („kein Bock“, „Idioten“, „fuck it“), Meinung raus. Er mischt mit in der Debatte um die Zukunft Deutschlands, liest den Konzernen regelmäßig die Leviten. Die hätten die Digitalisierung „null verstanden“. Die Manager „haben alle den Krieg noch nicht gesehen. Aber der Krieg kommt. Und zwar in jeder einzelnen Industrie“, sagte er in Vallendar.

Es ist Pause in Studio 38 auf dem MMC-Gelände in Köln-Ossendorf, wo die Löwen-Staffel aufgezeichnet wird. Im Erdgeschoss wird die Kulisse für das nächste Startup aufgebaut. Im zweiten Stock sitzt Thelen in seinem Rückzugsraum. Rund zehn Paar Snea­ker liegen in der einen Ecke, ein paar Hemden zum Wechseln hängen an einer Garderobenstange, ein Sofa, zwei Stühle, ein Tisch, kein Firlefanz.

Ich habe plötzlich ein neues Startup, doch ob das geil wird? Eigentlich schreibe ich das Geld gedanklich gleich ab.

Es klopft an der Tür, ein Crew-Mitglied bittet Thelen, in fünf Minuten wieder unten im Studio zu sein. Thelen weiß wie alle anderen Jury-Mitglieder nicht, welche Idee als Nächstes präsentiert wird. Rund 150 Leute arbeiten bei der TV-Produktion, an den Kameras, im Catering, in der Maske. „Unvorstellbar, der Aufwand hier“, sagt Thelen. „Das ist schon eine andere Flughöhe hier, die wir als Startups nicht haben und auch nicht haben sollten. Bei uns muss alles schlank aufgestellt sein. Ich überlege bei jedem Mitarbeiter zehnmal, ob ich ihn einstelle. Ich weiß noch genau, wie ich das erste Mal hier am Set war und Panik geschoben habe: Wer soll das alles bezahlen?“

Man muss in Thelens Vergangenheit schauen, um das zu verstehen. Seine persönliche Erfahrung mit Geld hat ihn geprägt. So sehr, dass er oft betont, er stecke in die Startups ja sein eigenes. Damit da nur kein Missverständnis aufkommt. DHDL, das ist keine Show, in der ein Sender Preisgelder für Quizkandidaten zur Verfügung stellt. „Die Leute müssen begreifen, dass das unser Geld ist“, sagt Thelen und meint damit sich und seine Partner bei seiner Investmentfirma Freigeist Capital. „Ich muss mit meinen Deals meine Familie ernähren.“ Auch wenn er heute genug auf dem Konto hat, un­kontrolliert rausballern ist nicht. Rausballern ist gefährlich. Und Kontrollverlust noch gefährlicher. Das hat er schmerzlich erfahren.

Aufgewachsen ist Thelen keine 50 Kilometer vom Kölner DHDL-­Studio entfernt in Bonn. Der Vater arbeitete bei einem Mittelständler, der in Thelens Erinnerung ständig ums Überleben kämpfte, die Mutter im Reformhaus. Der Sohn ging auf die Realschule, erster Infor­matikunterricht, dann Fachabitur. Tagsüber fuhr er Skateboard, abends hackte er Spiele. Thelen fing an, selber Games zu entwickeln, dann programmierte er CD-ROMs, gründete mit 18 Jahren sein erstes Unternehmen.

Mir war das scheißegal, ich wollte einfach diesen geilen Kram bauen

Im Jahr 1997 hatte er eine neue Idee: Er bekam 1,4 Millionen D-Mark Wagniskapital, um einen Linux-basierten Router zu entwickeln und zu vertreiben. Das Problem war nur: „Ich habe nie Vertrieb gemacht, wir haben die 1,4 Millionen durchgebrannt, alles in Technik investiert, wir hatten ein megageiles Produkt.“ Er brauchte neues Geld, ging zur Bank, bekam einen Kredit über eine Million. Alle waren damals schön geblendet vom gigantischen New-Economy-Hype, die Bank fragte nicht nach Umsatz, schaltete die Kreditlinie frei, Thelen unterschrieb später den Vertrag, ohne einen Anwalt zu fragen. „Mir war das scheißegal, ich wollte einfach diesen geilen Kram bauen.“

Im Vertrag stand, dass Thelen persönlich haftet. Kurz darauf musste seine Firma Insolvenz anmelden, die Dotcom-Blase war geplatzt, die Bank schickte einen Brief: Bitte eine Million. Plus Zinsen. Thelen konnte nicht mal die Zinsen bedienen, seine Mutter bekam einen Nervenzusammenbruch.

Thelen sagt heute: „Ich habe mich gefühlt wie ein ganz schlechter Mensch. Ich hatte das Gefühl, ich habe meine Eltern betrogen. Sie haben mich doch aufgebaut, und ich komme mit einer Million Schulden. Die Familie war kaputt. Mein Körper hat nicht mehr mitgemacht, er hatte keine Kraft mehr. Ich habe Stoßnasenbluten bekommen, ich hatte das noch viele Jahre nachher. Ich war völlig neben mir. Es sollte doch die beste Zeit des Lebens sein mit Mitte 20, aber ich hatte kein geiles Auto, keine eigene Wohnung. Ich war der komplette Loser. Ich war am Arsch.“

Thelen drohte die Privatinsolvenz. Sieben Jahre lang kein Geld mehr über der Pfändungs-Freigrenze, vor allem aber keine Selbstbestimmtheit mehr, kein Geschäftsführer eines Unternehmens mehr. „Du bist gebrandmarkt, du kannst keine Familie gründen. Chaos in meinem Gehirn, der Körper hat verrückt gespielt.“

Es sollte die beste Zeit des Lebens sein mit Mitte 20, aber ich hatte kein geiles Auto, keine eigene Wohnung. Ich war der komplette Loser. Ich war am Arsch.

Und dann die nächste Idee. Er sprach mit seinem Anwalt und seinem Co-Gründer, ging zur Bank und verlangte einen Deal. Ansonsten, so drohte der junge Thelen, werde er die ganzen sieben Jahre Privatinsolvenz lang einfach studieren. Dann sehe die Bank nichts mehr von der Million. Es wurde verhandelt, für Thelen und seinen Co-Gründer tickte die Uhr, gegen sie. Denn je später sie in die Privat­insolvenz gehen würden, desto weiter zögerte sich das Ende hinaus. Irgendwann schaffte er den irren Vergleich: Statt einer Million musste er nur noch 60 000 zurückzahlen, die er bis vor wenigen Jahren noch abgestottert hat. „Das war ein Superdeal, aber ich hatte ja nichts. Ich meinte das sehr ernst, dass ich ansons­ten studiert hätte. Ich hätte die Million und die Zinsen niemals zurückzahlen können.“

Thelen schrieb seiner Mutter damals einen Brief, dass er alles wieder in Ordnung bringe. Er werde wieder aufstehen und vielleicht sogar ein Haus auf Mallorca kaufen.

Wer sich noch fragt, warum Thelen in DHDL hart verhandelt: Das ist die Antwort. Ein Produkt kann gut sein, doch wenn es sich nicht verkauft, hast du Pech gehabt. Darum zog Thelen bei seiner zweiten Gründung, die scheiterte, den Stecker. Doo, die Dokumenten-App, war eine Zehn-Millionen-Euro-Wette. Mit so viel Geld unterstützten Investoren 2011 Thelens Idee, ein Dokumentenablage-System in der Cloud zu bauen. Das Programm wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem als App des Jahres bei iTunes. Nur benutzt hat es fast niemand. Also war nach zwei Jahren Schluss. Heute baut das Unternehmen mit Scanbot eine Scanning-App. Die Geschäftsführung hat Thelen abgegeben.

An einem sonnigen Tag Ende August sitzt er in Bonn am Rhein beim Mittagessen. Mit dabei im Restaurant sind seine beiden Partner Alex Koch, das Technik-Brain, und Finanzchef Marc Sieberger, mit denen er eine Investmentfirma namens E42 gegründet hat. Die drei gehören zum Kernteam, das entscheidet, ob der Deal aus dem Fernsehen wirklich umgesetzt wird. Denn die Löwen wissen erst mal nur, was ihnen die Gründer bei der Aufzeichnung erzählt haben. „Und das hätte ja auch Quatsch sein können“, sagt Anne Lemcke vom DHDL-Startup Ankerkraut. „Natürlich wurden unsere Unterlagen genau geprüft.“

Sie und ihr Mann Stefan hatten nach der Aufzeichnung letztes Jahr einen Conference Call mit Thelens Leuten. Am Ende bekamen sie die 300.000 Euro, die Thelen ihnen für 20 Prozent des Unternehmens versprochen hatte.
Seinen beiden Partnern Sieberger und Koch vertraut Thelen, das merkt man allein daran, dass er sie beim Mittagessen einfach erzählen lässt. Von damals, Ende der 90er-Jahre, als Sieberger und Thelen zusammen in einer WG gewohnt haben. Und davon, wie die beiden und Alex Koch sich Jahre später zusammengefunden haben. „Ich habe wieder gegründet, total bescheuert eigentlich“, sagt Thelen, der damals noch faktisch pleite war.

Die haben mich zugeschissen mit Geld

Im Jahr 2004 baute er eine Plattform für Online-Foto-Services. Die Software bot er Fotoentwicklern und Drogeriemärkten an, über deren Websites Kunden dann Fotos entwickeln lassen konnten. „Es war ein ganz heißer Ritt“, erinnert sich Thelen. „Niemand hat mir Geld gegeben, also haben wir Klick-Dummies gebaut, um einen Auftrag zu bekommen.“

Irgendwann kam der erste Kunde, inklusive Anzahlung, das Team programmierte, lieferte viel zu spät. Aber plötzlich ging die digitale Foto-Welle los. Alle wollten Fotos online hochladen und bestellen. Thelens Unternehmen ip.labs hatte die Software dafür, da kamen die Aufträge. „Die haben mich zugeschissen mit Geld“, sagt Thelen. 2008 kaufte Fujifilm die Firma für einen zweistelligen Millionenbetrag, Thelen gehörten damals 75 Prozent. Seine Mutter weinte, als sie das erste Mal auf der Terrasse des neuen Hauses ihres Sohnes auf Mallorca stand.

Im Gebäude über dem Mittagessens-Restaurant liegt Thelens Büro. Jeder der Partner hat ein Zimmer, dazu ein Empfangsraum. Alles erstaunlich klein. Zu klein, sagt Thelen. Bald wird umgezogen. Und expandiert: E42 heißt nun Freigeist Capital, der Wunderlist-Gründer Christian Reber ist unter anderem neu als Partner dabei. Bei Freigeist sollen das erste Mal mehr Leute angestellt werden, „das haben wir uns bisher nicht getraut“.

Der Unterschied zu großen Venture-Capital-Fonds ist: Die sammeln Millionen von anderen ein, Thelen und seine Partner aber arbeiten mit eigenem Vermögen und wissen oft erst nach ein paar Jahren – wenn sie ein Unternehmen verkauft haben –, ob sie Geld verdient haben. Doch jetzt gibt es Erfolge wie den Wunderlist-Exit. Und dazu die Food-Startups. „Die sind nicht so mega sexy, weil man keinen Milliardenkonzern daraus aufbauen kann. Aber sie sind stabil und berechenbar. Wir finanzieren die einmal an und dann machen die Umsatz.“ Little Lunch verkauft inzwischen eine Million Suppen pro Monat, Ankerkraut peilt 12 Millionen Euro Jahresumsatz an und hat gerade ein Übernahmeangebot ausgeschlagen, so gut läuft es offenbar.

Oh ja, holy fucking moly. Schon als wir in dieses Flugzeug investiert haben, haben uns alle für bescheuert erklärt, das war richtig riskant.“

Die Food-Einnahmen sollen dem Freigeist-Team Luft verschaffen, um in „Hardcore Tech“ zu gehen, wie Thelen sagt. „Wir schauen uns Raketen- und Batterietechnologie an.“ Deutlich riskanter als Food. „Oh ja, holy fucking moly. Schon als wir in dieses Flugzeug investiert haben, haben uns alle für bescheuert erklärt, das war richtig riskant.“

Dieses Flugzeug heißt Lilium, fliegt elektrisch und kann vertikal starten und landen. Es wird in der Nähe von München gebaut und soll bald als Flugtaxi Passagiere transportieren. An Ostern hat das Team das erste lebensgroße Modell im Flug präsentiert. Eine Sensation.

„Was uns unterscheidet von anderen Geldgebern: Wir bilden uns ein, dass wir den Scheiß verstehen“, sagt Thelen. „Mein Partner Alex Koch hat die Idee des Flugzeugs durchgerechnet, um zu sehen, ob es wirklich fliegen kann.“ Und so war das Team um Thelen der erste Investor bei Lilium und unterstützte Gründer Daniel Wiegand. Im Gegenzug übernahm Thelen 15 Prozent am Unternehmen. Anschließend holte er einen Bekann­ten, Skype-Gründer Niklas Zennström, als Geldgeber dazu.

Anfang September folgte dann die Knallernachricht: eine neue Finanzierungsrunde, bei der Lilium weitere 90 Millionen Dollar eingesammelt hat. Unter anderem vom chinesischen App-Giganten Tencent (WeChat), LGT (das dem Fürstenhaus von Liechtenstein gehört), von der Investment­firma Obvious Ventures des ehemaligen Twit­ter-Chefs und Medium-Gründers Ev Williams sowie erneut von Zennströms Investmentfirma Atomico. Die großen Fische haben angebissen. Thelen, der kleinere, vielleicht wendigere, war zuerst da.

Lilium ist ein gutes Beispiel, wie Thelen arbeiten will: als Brückenbauer. Startups anschubsen und mit seinem Netzwerk verbinden. Mit der Politik, um über Batterietechnologie zu sprechen. Mit Händlern, um Eiscreme zu platzieren. Oder mit Investoren, die Millionen zu seinen Hunderttausenden packen. Seitdem er im Fernsehen ist, gehen die Leute ans Telefon, wenn er anruft. Das Showbusiness hilft Thelen beim Geschäft, auch darum setzt er sich weiter bei Vox ins Fernsehen.

Obwohl er sich ja auch auf eine Insel zurückziehen könnte, aber: „Ich habe dieses Virus, Produkte zu bauen, Dinge zu machen, die Welt zu verändern. Wenn du weißt, dass dieses Schiff zwar Öl verbrennt“ (er zeigt durch sein Bürofenster auf den Rhein, auf dem ein Frachter vorbeifährt), „aber du das ändern kannst – dann willst du das auch ändern.“

Ich hatte als Kind kein geiles Fahrrad. Ich habe kein abgeschlossenes Studium, bei Allgemeinbildung bin ich blank, Englisch habe ich mir irgendwie selbst beigebracht. Als meine Freunde erfolgreich waren, war ich pleite

Dann wird Thelen nachdenklich. „Der zweite Grund, warum ich all das mache, und das ist eigentlich eine tiefenpsychologische Session, lautet: Ich glaube, ich habe mich immer als Verlierer gefühlt. Ich war immer unteres Drittel. Ich hatte als Kind kein geiles Fahrrad. Ich habe kein abgeschlossenes Studium, bei Allgemeinbildung bin ich blank, Englisch habe ich mir irgendwie selbst beigebracht. Als meine Freunde erfolgreich waren, war ich pleite. Ich hatte kein Netzwerk, konnte niemanden fragen. Ich habe zwar sehr viele Managementbücher gelesen. Aber ich werde das Stigma innerlich nicht los, dass ich aus einfachen Verhältnissen komme. Deswegen kann ich nicht loslassen.“

Thelen, der seine Vergangenheit als Underdog sieht, will jetzt andere Underdogs groß machen. Vielleicht weil er selbst mit deren Erfolg auch größer wird. Darum drängelt er. „Frank ist sehr motiviert, man muss manchmal etwas von seinem Enthusiasmus abziehen“, sagt Denis Gibisch von Little Lunch. „Frank kann penetrant sein. Wenn er etwas will, will er es sofort“, sagt Ankerkraut-Gründerin Lemcke. Kann schon passieren, dass er am Sonntagabend noch anruft, weil ihm etwas eingefallen ist. „Dafür kann ich ihn auch am Sonntagabend anrufen, er ist da und hilft.“ Letztes Jahr ist das Startup umgezogen, die Ware holte ein neues Logistik-Sub-Unternehmen ab, Rollcontainer gingen verloren. „Frank rief einfach den Chef des Logistikers an, dann hat es wieder funktioniert“, berichtet die Gründerin weiter.

Dazu unterstützt das Team aus Sieberger, der die Businesspläne prüft, und Koch, der bei der Technik hilft. Zum Beispiel bei der neuen Website von Luicella’s Ice Cream, die am Freitag vor Ausstrahlung der Sendung getestet wird. Die Kuh ist verschwunden, aber tot ist sie nicht: „Wir haben uns darauf geeinigt, dass sie in den Ruhestand geht“, scherzt Gründer Markus Deibler. Sein Eismix steht nun in Filialen von Kaufland, Real, Edeka, Rewe. Thelen hat die Verbindungen hergestellt. „Die Unterstützung ist super.“

„Es ist schon geil, was man mit Frank und Team bekommt“, sagen die Gründer von Little Lunch. „Die haben schon so viele Gründungen gemacht, dass wir jedes Mal sehr erfahrene Kurzzeitmitarbeiter bekommen, wenn uns einer hilft“, so Daniel Wiegand von Lilium Aviation. „Frank generiert eine unglaubliche Loyalität“, meint Christoph Wagner, der heute Thelens Startup Scanbot leitet. „Mein Mann sagt immer, Frank sei wie eine etwas anstrengende Schwiegermutter“, sagt Anne Lemcke von Ankerkraut.

Und vielleicht ist das ein passendes Bild. Thelen, der Familien-Investor, der seine Gründer aufnimmt, sie machen lässt, aber zwischendurch auch mal nervt. Das kann dann so aussehen, dass er alle Food-Startups zum Netzwerken nach Bonn in ein Sushi-Restaurant einlädt und vor die Facebook-Kamera zerrt. Inklusive Sterne-Koch Christian Sturm-Willms, der aus den Zutaten von Thelens Firmen kleine Amuse-Gueule gemacht hat: der Teig vom Pizzaboden-Startup Lizza, die Soße aus den Little-Lunch-Suppen, gewürzt mit Ankerkraut. „Ich nenne die Startups auch unsere Food-Family“, sagt Thelen. „Und in der Familie hilft man sich, das erwarte ich auch von denen.“ Ein guter Gründer zu sein, heißt für Thelen: fulltime, rund um die Uhr. Als die beiden Little-Lunch-Gründer während ihres DHDL-Pitches sagten: „Wir zwei sind die einzigen vier Mitarbeiter bei uns“, musste Thelen lachen: „Sehr gut!“

Man kann mich nicht ansprechen. Ich bin schon überbucht und habe meinen Startups ein Commitment gegeben.

Thelen selbst macht es bis heute nicht anders. Er hat keine Hobbys, die seltenen Treffen mit Freunden sind im Kalender geplant. Im April spricht er auf einer Startup-Veranstaltung in der Berliner Factory, als ihn jemand fragt: „Wie kann man dich am besten ansprechen, wenn man eine Idee hat?“ Seine Antwort: „Man kann mich nicht ansprechen. Ich bin schon überbucht und habe meinen Startups ein Commitment gegeben. Ich habe keine Zeit.“

Am nächsten Tag sitzt Thelen in einem Berliner Café und sagt, er sei nur für den Factory-Abend angereist. Warum macht er das, wenn er keine Zeit hat? „Auch, weil ich nicht überall das Arschloch sein will.“ Letzteres ist tatsächlich eine Sorge. Immer wieder nein sagen: Nein, man kann mich nicht ansprechen. Nein, ich halte keine Keynote. Immer fordern, mach dies, mach das. Stets erreichbar, immer No-bull­shit-Sätze. „Ich versuche mein Bestes, aber es tut mir leid, ich bin nicht mehr Lass-mal-ein-Bier-trinken“, sagt Thelen. Er vermisse aber nichts. „Weil das, was ich tue, viel zu geil ist. Ich bin dankbar dafür. Ich habe halt nur wenig Zeit, ich hoffe nicht, dass ich mich sonst verändert habe. Aber das müsste man meine Frau fragen.“

Die Thelens sind im Sommerurlaub, als Nathalie Thelen, die als Kieferorthopädin in Bonn arbeitet, ans Telefon geht: „Natürlich hat ihn das Fernsehen verändert, so wie alles Neue einen verändert. Aber hat es seine Persönlichkeit verändert? Nein. Er macht den VIP-Zirkus mit, weil es dazugehört. Aber oft geht er nicht hin. Es treibt ihn nicht an. Frank ist, glaube ich, sehr bodenständig.“ Bodenständig – ein Wort, das auch Thelens Gründer wie Daniel Wiegand von Lilium und Anne Lemcke von Ankerkraut benutzen: „Manche Löwen kommen mit vielen Angestellten, Frank kommt mit seinem Rucksack“, sagt Lemcke.

Laut, direkt, no bullshit. Das ist Frank Thelen

Natürlich telefoniert Frank Thelen parallel, während seine Frau am Handy spricht. Thelen ist immer online, und ja, das sei manchmal schwierig, sagt seine Frau, weil er zwar physisch da sei, gedanklich jedoch woanders. „Aber es macht ihn eben unglücklich, wenn er nicht arbeitet. Er braucht das einfach, das ist sein Hobby, er fängt bei einer guten Idee sofort Feuer.“ Seine Prominenz sei manchmal etwas anstrengend, weil am Flughafen plötzlich Leute Selfies machen möchten. Aber eigentlich gehe es. Nur neulich seien sie in ein italienisches Restaurant gegangen, als plötzlich fünf Frauen zu kreischen angefangen hätten. „Ich habe mich umgedreht, um wen es wohl geht, bis ich kapiert habe, dass sie Frank meinen“, sagt Nathalie Thelen.

Er mache die Show auch für die jungen Nachwuchs-Gründerinnen und -Gründer, sagt Frank Thelen. Damit die ein Vorbild haben. „Und das funktioniert übrigens“, sagt er. „Für manche bin ich ein Idol. Ich kriege so viele E-Mails, in denen jemand schreibt: ,Deinetwegen habe ich gegründet.‘“ Thelen ist der festen Überzeugung, dass es mehr Vorbilder braucht. So wie für ihn Tesla- und SpaceX-Chef Elon Musk eines ist. „Ich wäre weniger unzufrieden, wenn es Musk nicht gäbe. Du siehst diesen Typen, und der ist so fucking smart, daneben fühle ich mich immer wie ein Stück Scheiße.“ Laut, direkt, no bullshit. Das ist Frank Thelen. Der gegenüber Musk nun ein Ass im Ärmel hat, jedenfalls für sich selbst: „Seitdem ich in Lilium Aviation investiert bin, ist es etwas besser.“ Lilium, das elektrische Flugzeug, vielleicht bringt es Frank Thelen eines Tages zu seinem Idol, zu Elon Musk.

Der erste Termin hatte nicht geklappt. Alles war eingetütet, eine Stunde Gespräch, aber dann ist Musk eine Rakete abgestürzt. „Und er ist nicht gekommen.“ Vorbilder – das weiß Thelen ja nur zu gut – sagen eben oft auch mal: Nein.

Die aktuelle Staffel von Der Höhle der Löwen läuft noch bis 24. November.

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