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Kann VR die Rolle des Fernsehens als Lagerfeuer übernehmen?

von Karsten Lemm
Der Fernseher, lange Sammelpunkt für Freunde und Familie, wird zu einem Bildschirm unter vielen. Kann ihn der digitale Raum ersetzen?

Dieser Artikel erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im April 2017. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

Wenn Familie Kubischik sich um den Fernseher versammelt, spielt das Geschehen auf dem großen Bildschirm eher eine Nebenrolle. „Meine Kinder wollen oft einen zusätzlichen Flimmer, damit sie zufrieden sind“, erzählt Tom Kubischik. Schon die achtjährige Tochter Lotti „hat gern ein iPad in der Hand“, und Sohn Carlo, 15, „schaut eigentlich überhaupt kein fern: Der sieht Youtube.“ Nur Kubischik, Gründer des Berliner Medien-Startups I-mmersive, und seine Frau Julia folgen halbwegs aufmerksam dem TV-­Programm – wenn auch immer seltener: „Fernseh­abende gibt es bei uns praktisch nur am Wochenende.“

Schwierige Zeiten sind das für den Fernseher, den einstigen Allein-Unterhalter in deutschen Wohnstuben. Jahrzehntelang im Zentrum der Aufmerksamkeit, muss er nun erleben, wie sich Millionen von ihm abwenden. Dass die durchschnittliche Sehdauer überhaupt noch bei etwa dreieinhalb Stunden am Tag liegt, verdanken die Sender vor allem den über 50-Jährigen, die täglich mehr als fünf Stunden vor dem Fernseher verbringen. 

Die Jüngeren dagegen sind vorwiegend auf anderen Bildschirmen unterwegs. Von den 14- bis 29-Jährigen geben gerade noch 47 Prozent an, jeden Tag das klassische TV zu nutzen. Experten sprechen dabei vom „linearen Fernsehen“, weil es sich nicht anhalten, zurückspulen oder häppchenweise auf Facebook teilen lässt. Schrecklich altmodisch, wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, sein eigener Programmdirektor zu sein, wie es Strea­ming in all seiner Vielfalt erlaubt.

TV wird vor allem bei Live-Events seine Bedeutung behalten

Sebastian Weil

Jeder vierte Deutsche, der Videos per Internet anschaut, kann sich bereits vorstellen, auf traditionelles TV komplett zu verzichten, meldet der Digitalverband Bitkom. Die Umstellung des Antennenfernsehens auf DVB-T2, die bis 2019 abgeschlossen sein soll, dürfte die Entwicklung noch beschleunigen, denn sie bringt für die 3,4 Millionen betroffenen Haushalte eine Reihe von Nachteilen: Sie brauchen neue Empfänger oder zumindest einen Adap­ter, um ältere Fernseher aufzurüsten, und müssen für Privatsender wie RTL, Sat.1 und Pro7 plötzlich 69 Euro im Jahr zahlen, weil deren Programm künftig verschlüsselt wird. 

Warum dann nicht gleich auf Internet-TV umsteigen? Dienste wie Zattoo oder MagineTV speichern alle Sendungen in der Cloud und schicken sie als Datenstrom auf jedes Handy, jedes Laptop, jede X-Box-Konsole. Vernetzte Fernseher zeigen das Bild am Ende wieder in Heim­kino-Größe, ohne dass Abonnenten solcher Dienste einen herkömmlichen TV-­Anschluss brauchen. Wie viel das kostet, hängt vom gebuchten Programm-Paket ab. 

Mit der Freiheit, alle Inhalte auf jedem beliebigen Gerät zu sehen, ob unterwegs oder zu Hause, schwindet naturgemäß der Drang, sich gemeinsam vor demselben Bildschirm zu versammeln. Welche Rolle bleibt dann noch dem Fernsehen? „TV wird vor allem bei Live-Events seine Bedeutung behalten“, glaubt Sebastian Weil, Geschäftsführer des ProSieben-Sat.1-­Ablegers Studio71. „Alles, was große Unterhaltung ist, bei Sport, bei Veranstaltungen, die nach wie vor den Lager­feuer-Effekt erzeugen.“

Solche Programm-Highlights erlauben es dem Fernsehen, seinen letzten großen Vorteil auszuspielen: die enorme Reichweite. Das Finale des Eurovision-Song-Contests verfolgten 2016 mehr als 200 Millionen Menschen weltweit; Oscars und Super Bowl ziehen noch mehr Zuschauer an.

Auf ähnliche Weise, hofft Tom ­Kubischik, könnte es Veranstaltungen auch in Virtual Reality gelingen, Menschen wieder zusammen­zubringen – egal, ob sie gemeinsam im selben Raum sitzen oder nicht. Mit seiner Firma I-mmersive hat der 48-jährige Berliner eine 360-Grad-Kamera entwickelt, die Live-Übertragungen in höchster Qualität (4K-Video) ermöglicht. 

Er denkt an virtuelle Städtetouren oder auch Konzerte, bei denen Nutzer digital mit ihrer Lieblingsband auf der Bühne stehen könnten, dank mehrerer Kameras, die eine Rundsicht vermitteln. Dazu noch Gruppenchat, der es Teilnehmern erlauben würde, sich miteinander zu unterhalten – und schon entstünde ein Erlebnis, das Menschen digital vereint, auch wenn sie geografisch Tausende Kilometer voneinander entfernt sein mögen. 

Schließlich gibt es immer Fans, die nicht kommen können. „Da ist VR wirklich sinnvoll“, sagt Kubischik. „Und es ist cooler, wenn man sich umschauen kann, als immer nur von vorn berieselt zu werden – der Bildschirm zieht ja immer noch. Es ist bloß nicht unbedingt der Fernseher.“

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