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Everything im Test: Ein Spiel als philosophische Erlebnismaschine

von Michael Förtsch
Der Künstler David O'Reilly hat mit Everything ein Game erschaffen, in dem jeder alles sein kann. Es lässt den Spieler zum Esel, Eisberg, Kontinent oder Sauerstoffatom werden. Eine besondere Erfahrung, die zeigt, wozu das Medium Videospiel so alles taugt.

Im Douglas-Adams-Roman Das Leben, das Universum und der ganze Rest erzählt der interstellare Anhalter Ford Prefect seinem Freund Arthur Dent, wie er das Leben auf der prähistorischen Erde überstanden hat. Er sei einfach verrückt geworden, sagt Prefect, und habe beschlossen, „für eine Weile eine Zitrone zu sein“. Er habe viel Spaß dabei gehabt, in einen Gin Tonic rein und wieder raus zuspringen. Diese Erfahrungen habe ihm wirklich „wahnsinnig gut getan“. Ich hingegen empfand es als ziemlich erheiternd, einige Minuten als Zigarettenstummel einen Gehweg entlang zu kullern und von einem verlorenen Ehering zu erfahren, wie er seine Position im großen Geflecht des Universums einschätzt.


Verrückt werden musste ich dazu nicht, sondern nur das neueste Werk des Künstlers, Filme- und Spielemachers David O'Reilly herunterladen. Der erschuf 2014 mit Mountain ein Videospiel, in dem es darum geht, die Existenz eines Berges nachzufühlen. Die Antwort: verblüffend, aber nicht sonderlich ereignisreich ist. Auch seine neuestes Werk Everything ist kein klassisches Videospiel, sonder vielmehr eine Art Erfahrungssimulator und Philosophiemaschine. Es gibt keine Geschichte und keine Charaktere. Stattdessen geht es darum, in der Gestalt verschiedenster Lebewesen und Dinge auf eine ganz persönliche Reise zu gehen.


Meine beginnt als Esel. Ich stehe auf einer grünen Koppel und kann mich purzelbaumartig durch die Spielwelt rollen, denn aufwändige Bewegungsanimationen spart sich Everything. Bald schon lerne ich, dass ich mich in andere sichtbare Objekte in meiner Umgebung hineinschalten kann – egal ob Baum, Stein, Grashalm oder Raupe. Auch in ihrer Gestalt lässt sich die Kulisse erkunden, immer auf der Suche nach neuen Wesen und Dingen, in die man hineinfahren kann. Kleine Wolkensymbole über Pferden oder Büschen verraten mir deren Gedanken. Mal sind es vollkommen profane Sätze, dann wieder intelligente Aphorismen oder spinnerte Ideenfetzen.


Ungekannte Perspektiven und verzückende Schönheit

Mit der Zeit öffnet sich Everything immer weiter. Ich lerne, per Knopfdruck mit „Artgleichen“ zu kommunizieren und zu tanzen sowie mit ihnen Gruppen zu bilden. Irgendwann erkenne ich, dass die anfängliche Wiesenlandschaft nur eine Welt innerhalb etlicher prozedural genierter Welten darstellt, die nach ihrer Größendimension gestaffelt sind. Kurzerhand werde ich zum Kontinent und krieche über die Ozeane eines Planeten. Dann werde ich zum Planeten selbst. Später mutiere ich zur Galaxie und dann zum galaktischen Nebel und rausche durch das Universum. Weitere Gestalten, die ich im Verlauf von Everything annehmen: ein Haar, ein Antikörper, ein Lichtpartikel, das durch den subatomaren Raum driftet, ein Frachtschiff, ein Bürogebäude und ebenjener Zigarettenstummel auf dem Gehweg.

Allein die Dimensionen, die Everything auffährt und das reibungslose Gleiten vom Mikro- bis zum Makrokosmos und darüber hinaus, verzaubern mich. Das Spiel eröffnet ungekannte Perspektiven und zeigt in vielen Momenten eine geradezu verzückende Schönheit. Zwar ist die Grafik minimalistisch und reduziert, aber trotzdem sieht es hinreißend aus, wenn Galaxien einander zu sphärischen Klängen wirbelnd umkreisen, wenn Vogelschwärme durch Stadtschluchten gleiten oder wenn ein Planck-Partikel durch den verzerrten Kosmos surrt.


Die Zahl der Lebewesen und Gegenstände in Everything erscheint nahezu unendlich groß. Jeder Körper und jede Form, die man entdeckt, wird in einer Enzyklopädie gespeichert und kann danach auf Wunsch aktiviert werden. Nachdem ich eine gewisse Menge der Welten freigespielt habe, finde ich mich in einer Leere wieder, in der neben Gehirnen, Klavieren und Straßenlaternen aller mögliche Unrat frei umherschwebt. Ich bin gefangen und muss einen Weg finden, mich zu befreien, werde aber erst einmal zur Teekanne. Derartige Rätsel und Hindernisse gibt es an vielen Stellen im Spiel, sie sind aber auch ohne Denkarbeit und mit meditativem Sich-treiben-Lassen lösbar. Wer mag, kann den Controller sogar ganz beiseitelegen. Dann spielt sich das Game ganz von selbst.


Everything ist ebenso faszinierend wie konfus. Es spannt einen gigantischen Sandkasten voller Spielzeugen auf und regt zum Nachdenken über die Verbundenheit des Kleinsten mit dem Größten an. Kein Ding kann ohne das andere existieren, so die Message – egal, was dieses Ding auch ist. Das Spiel ist an die Lehren des vom Mystizismus und Buddhismus inspirierten Philosophen Alan Watts angelehnt, dessen Worte auch an manchen Stellen erschallen. Doch Everything ist keinesfalls als todernste philosophische Lehrstunde gedacht. O'Reilly lässt viel Ironie und dadaistischen Humor einfließen, überspitzt und spielt mit Erwartungshaltungen.

Ob er damit nun ein Videospiel oder eher ein Kunstwerk geschaffen hat? Das ist keine Frage, die hier beantwortet werden kann oder soll. Zweifelsohne hat O'Reilly aber das Medium Videospiel als Vehikel genutzt, um eine außergewöhnliche Erfahrung zu erschaffen, die von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich ausfallen dürfte. Was ich als amüsant und spannend empfunden habe, könnten andere als prätentiösen Unfug abtun oder aber als transzendenten Augenöffner feiern. Doch egal wie das Urteil ausfällt, Everything ist in jedem Fall ein Spiel, das bewegt und einen so manches anschließend anders sehen lässt – in welcher Weise auch immer.


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Everything ist bereits für PlayStation 4 erhältlich und soll am 21. Mai für PC erscheinen.


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