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So könnte ein Satellit bald vielen Menschen beim Durchatmen helfen

von Martin Pieck
Wie kann ein Satellit für freie Bronchien sorgen? Ganz einfach, mit bessern Daten. Sentinel-5P ist der aktuellste Satellit aus dem Copernicus-Programm der Europäischen Union. Er liefert so detaillierte Messwerte über Luftverschmutzung wie nie zuvor. Die Daten sind offen zugänglich – und könnten in praktischen Apps für jedermann zum Einsatz kommen.

Daten über schlechte Luft werden schon lange gesammelt. Sonst hätte schließlich niemand bemerkt, dass in vielen deutschen Großstädten ständig die Grenzwerte für Stickoxid überschritten werden. Wir würden auch nicht seit Monaten über Fahrverbote für Diesel diskutieren. Aber: Die vorhandenen Messgeräte, die oft in Innenstädten montiert sind, können vieles nicht. Es kommen unterschiedliche Modelle von verschiedenen Herstellern zum Einsatz, was die Vergleichbarkeit der Werte nicht gerade einfacher macht. Und: Sie arbeiten nicht flächendeckend, bilden also nur die Werte ihrer direkten Umgebung ab. Mit Sentinel-5P kann das nicht passieren. Er hat das große Ganze im Blick.

Der neue Satellit untersucht seit einigen Monaten die Luft auf dem gesamten Planeten. Dafür umkreist er die Erde 14-mal täglich, in über 800 Kilometern Höhe. Im Vergleich zu bisherigen Atmosphären-Messungen aus dem Weltall liefert Sentinel-5P so detaillierte Werte wie nie zuvor. Zu verdanken ist das dem einzigen Instrument, das er an Bord hat: Tropomi, einem Spektrometer, entwickelt in den Niederlanden. Es ist das Herz der gesamten Mission.

Mit Tropomi können ziemlich kleine Gebiete der Erde unter die Lupe genommen werden: Flächen von sieben mal dreieinhalb Kilometer. Das sei ein riesiger Fortschritt, sagt Pascal Hedelt vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, kurz DLR: „Künftig können wir noch genauer schauen, welches Verhalten auf der Erde, welche Verschmutzungen zur Folge hat. In Extremfällen können wir sogar einzelne Stadtviertel ins Auge fassen.“

Bis zu 100-mal schärfer als bisherige Daten

Was zunächst klingt, wie ein simpler, weiterer Baustein zur Verbesserung von Wetterprognosen, ist für die beteiligten Forscher ein Meilenstein. Denn die Daten von Trompomi seien zehn- bis 100-mal genauer als bei vorherigen Satelliten, sagt Diego Loyola, wissenschaftlicher Leiter des Projekts am DLR. Tropomi kartiert die Belastung mit Stickstoffdioxid, Ozon, Formaldehyd, Schwefeldioxid, Methan, Kohlenmonoxid und Aerosolen. All diese Stoffe können Auswirkungen auf unser Klima, unsere Atemluft und somit unsere Gesundheit haben. Bereits jetzt sind Werte zur Ozonlage, optischer Wolkendicke und Wolkenoberdruck im Netz für jeden abrufbar. Jeder Punkt auf der Erdoberfläche wird mindestens einmal täglich erfasst. Die aufbereiteten Daten sollen spätestens drei Stunden nach der Messung online gehen.

In wenigen Monaten sollen dann auch die Daten zum Problem-Schadstoff Stickstoffdioxid öffentlich verfügbar sein – und das könnte spannend werden. In internen Testläufen konnten beispielsweise die NO2-Emissionen einzelner Kraftwerke in Indien genau beobachtet werden. Die Daten lieferten dabei Belege dafür, wie sehr sich Technik zur Luftreinhaltung auszahlt. So konnte man allein an Hand der Messergebnisse aus dem All erkennen, dass Filteranlagen in Kraftwerken zu besserer Umgebungsluft führen.

Noch sind die Daten nicht für Laien aufbereitet

Kommen wir nun allerdings zum kleinen Haken an der Sache: Wer kein Profi ist, wird mit den rohen Daten von Sentinel-5P nicht allzu viel anfangen können, obwohl sie im Netz ziemlich hübsch aufbereitet sind. Auch wir von WIRED haben uns die Sache etwas einfacher vorgestellt. Doch egal ob wir uns die Lage im Waldbrandgebiet im Westen der USA oder in der Kölner Innenstadt nach dem Silvester-Feuerwerk angeschaut haben, die Ozon-Werte erschienen unspektakulär. Abweichungen von der Norm? Fehlanzeige.

Warum das so ist, haben uns die Experten vom DLR erklärt: Zum einen vermisst Tropomi jeden Fleck auf der Erde täglich nur einmal – und in der Kölner Innenstadt passiert das am frühen Nachmittag, wenn der Rauch der Böller und Raketen sich schon wieder verzogen hat. Außerdem untersucht der Satellit laut DLR vertikale Säulen von seinem Sensor bis zur Erdoberfläche. Denn Schadstoffe treten in unterschiedlichen Höhen besonders konzentriert auf. Ozon, zum Beispiel, sammelt sich hauptsächlich auf Höhe der Stratosphäre an, also mehrere Kilometer über dem Erdboden.

Um dennoch Abweichungen direkt in der Kölner Innenstadt zu erfassen, sei die Empfindlichkeit der Messungen im bodennahen Bereich wohl noch zu gering, sagt das DLR. Das ließe sich zwar in den Griff bekommen, etwa mit Datensimulationen. Die gibt es zurzeit aber noch nicht – Sentinel-5P ist ja noch nicht allzu lang im All unterwegs. Und: Sentinel-5P liefert für einen Atmosphärensatelliten zwar eine sensationell gute Auflösung. Das bedeutet aber immer noch ein Mischergebnis aus 24 Quadratkilometern Erdoberfläche.

Mit den richtigen Apps kann es für Normalsterbliche interessant werden

Auch wenn also der leichte Zugang zu den Daten ein Stöbern im Weltklima geradezu provoziert, Nicht-Atmosphären-Experten sind damit schnell überfordert. Aber das ist halb so wild. Thilo Erbertseder vom DLR erklärt WIRED, dass Privatnutzer zwar nicht die Zielgruppe des Online-Tools seien, aber in Zukunft trotzdem davon profitieren können. Sie „profitieren massiv von der besseren Datengrundlage“, sagt er. Profitieren könnten Astmatiker, Menschen mit Atemwegserkrankungen oder Herz-Kreislauf-Problemen, aber auch Allergiker, ältere Menschen und Kleinkinder.

In Bayern entsteht derzeit auf Basis der Sentinel-Daten ein „Bioklimatisches Info-System“, das tagesaktuell über mögliche Gesundheitsrisiken in verschiedenen Regionen informieren soll – und zwar nicht nur abstrakt, sondern mit konkreten Empfehlungen, wie man auf die aktuellen Belastungen reagieren kann. Konkret denkbar wären also Apps, die Menschen mit Atemproblemen für einen Tagesausflug bestimmte Stadtteile der nächsten Metropole ans Herz legen. Solche Produkte würden nicht nur den betroffenen Nutzern das Leben erleichtern. Sie würden ein globales Problem angehen: Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass allein die Reduktion von Krankheiten durch Feinstaub jährlich weltweit 26 Milliarden Euro einsparen könnten. Regionen und Gemeinden könnten künftig aber auch politische Entscheidungen für den Klimaschutz sofort auf ihren Nutzen hin überprüfen und im Zweifel korrigieren und gegensteuern – vorausgesetzt ist natürlich das fachkundige Auslesen der Daten.

Bis es soweit ist, sind noch ein paar Zwischenschritte zu gehen, denn das minutiös geplante Projekt ist noch lange nicht abgeschlossen. Die Technik ist über Jahre erprobt und ausgereift. Jetzt muss die Flut an Daten gebändigt werden. Dieser Prozess hat gerade erst begonnen.

Vulkanausbrüche hat Sentinel-5P schon beobachtet

Die Ergebnisse der neuen Messungen dürften später auch abseits von Gesundheitsthemen einsetzbar sein. Bei einem zufälligen Überflug des Sierra Negra-Vulkans auf den Galapagosinseln, wurde laut DLR in der Minute des Ausbruchs eine „extrem hohe“ Schwefeldioxid-Konzentration gemessen. Auch die Ausbreitung der Wolke konnte im Anschluss gut nachvollzogen werden. Ähnliche Beobachtungen machte Sentinel-5P bei einer Eruption des Vulkans Agung auf Bali. Mit Auswertung solcher Daten könnte künftig die Genauigkeit von Ausbruchsprognosen erhöht werden, was nicht nur den Anwohnern, sondern auch dem Flugverkehr zu Gute käme, der frühzeitig reagieren könnte. Mit Sentinel-5P ließe sich auch das Ozonloch vermessen. Man könnte die Daten außerdem in Wetterprognosen einfließen lassen.

Ganz Europa steht hinter Sentinel-5P

Den Forschern des DLR und der ESA ist aber bewusst, dass es sicher auch Anwendungen geben könnte, an die sie bisher nicht gedacht haben – etwas völlig Unerwartetes. So werden die Daten der älteren Brüder von Sentinel-5P, der Sentinel 2-Satelliten, mittlerweile auch genutzt, um Tauchern Informationen über die Sicht in Gewässern bereitzustellen. Weltweit sind Forscher und Entwickler also aufgerufen, kreativ zu sein – und das meiste aus dem neuen Satelliten herauszuholen.

Sentinel-5P ist das jüngste Mitglied der Flotte von „Wächter“-Satelliten, die seit vier Jahren aufgebaut wird und 2030 immerhin 20 Einheiten umfassen soll. Der neue Satellit Sentinel-5P ist das Ergebnis einer Kollaboration der ESA, der Europäischen Kommission, dem niederländischen Raumfahrtbüro, der Industrie und der Wissenschaft. Ganz Europa steht also hinter Sentinel-5P. Vielleicht dankt er es dem Kontinent und dem Rest der Welt ja mit sauberer Luft.

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