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Longread: Dr. Watson – Mensch und Maschine im Kampf gegen die Tuberkulose-Epidemie

von Christian Putsch
Die Geschichte wäre schlimm genug, würde sie in Mailand, Tokio oder Toronto spielen. Aber in Kwamakutha, Südafrika, 30 Kilometer südwestlich von der Küstenmetropole Durban, ist das nächste Krankenhaus nun mal eine Stunde mit dem Bus entfernt. Sofern das Geld für die Fahrkarte reicht. Hier haben die Häuser nicht genug Zimmer, damit die Kranken die Gesunden nicht ständig in Ansteckungsgefahr zu bringen. „Was soll ich machen?“, sagt Sanele Mkhize, es klingt genervt, fatalistisch: „Wir sind eben zu viele.“ Sanele, 20, wohnt mit seinen fünf Brüdern und zwei Schwestern zusammen, in drei winzigen Räumen. Sanele hat Tuberkulose.

Nachts teilt er sich die Couch mit seinem Bruder Mbongeni. Sie breiten die zerfransten Polster auf dem Boden aus, Hauptsache, es gibt irgendeinen Platz zum Schlafen. In die verfallene Steinhütte in Kwamakutha, ursprünglich das Zuhause der Großmutter, zogen die Geschwister vor zehn Jahren, nachdem die Eltern an Aids gestorben waren. Und jetzt, Sanele weiß das, ist sein Leben in Gefahr.

Tuberkulose, kurz TB, kann hier ein Todesurteil sein. Im Jahr 2010 gab es 400.000 Infizierte in Südafrika, über 62.000 von ihnen starben, das waren fast 12 Prozent aller Todesfälle. Zwei von Saneles Brüdern haben die Krankheit knapp überlebt, doch sie könnten sich jederzeit wieder anstecken, zum Beispiel bei ihm.

Kwazulu-Natal, die Region um Durban, ist weltweit das Epizentrum der Tuberkulose-Epidemie. Knapp ein Drittel der TB-Infizierten Südafrikas stammt laut einer aktuellen Statistik aus der Küstengegend, in der Sanele wohnt. Und rund 60 Prozent aller Patienten sind zusätzlich mit dem HIV-Virus infiziert, die Krankheiten verstärken sich gegenseitig. „Wir können nichts gegen Aids tun, wenn wir nicht viel entschiedener gegen TB kämpfen“, hat der einstige, mittlerweile verstorbene Präsident Nelson Mandela gesagt, das war schon im Jahr 2004.

Man darf sich Watson nicht als fetten Guru vorstellen, der im Serverraum sitzt und die Fragen der Menschheit beantwortet.

Dieser Kampf wird nun mit neuer Technologie geführt, und dass derzeit ein Fortschritt stattfindet, der mehr bedeutet als irgendein neues Medikament oder eine optimierte Behandlungsmethode – das hat mit Big Data zu tun. Und mit dem mittlerweile weltbekannten Rechnerverbund, der aus 90 Power-750-Servern der Firma IBM besteht, jeder mit einem 3,5-GHz-Power7-8-Kern-Prozessor. Watson, benannt nach dem Firmengründer Thomas J. Watson, die derzeit leistungsstärkste künstliche Intelligenz der Welt, steht in Manhattan, über 13.000 Kilometer von Saneles Hütte entfernt. In einem Business-Center in der sogenannten Silicon Alley, das IBM im September 2014 neu eröffnet hat.

Man sollte sich Watson aber nicht als einen Supercomputer vorstellen, der wie ein fetter Guru im Serverraum sitzt und die Fragen der Menschheit beantwortet. IBM vermarktet seine Entwicklung wie ein eigenes, gigantisches Betriebssystem und hat Anfang 2014 noch einmal eine Milliarde Dollar in den neuen Geschäftszweig investiert. Es siedelt um Watson herum Startups an, die eigene Apps und Anwendungen für das Riesengehirn bauen, es dafür mit zusätzlichem Spezialwissen füttern. Die Anwendungen reichen vom Profan-Kommerziellen wie der perfekten Reiseempfehlung (dafür wird Watsons Power von der Firma Travelocity genutzt), der Ausbildung von Verkaufspersonal (durch das britische Unternehmen Red Ant) oder Finanzmarktanalysen (eine Kooperation zwischen IBM und der asiatischen Bank DBS) – bis zu existenziellen Gebieten. Zum Beispiel der Weltgesundheit.

Das Prinzip ist klar: Wenn ein auf Watson basierendes System Zugriff auf die größtmögliche Menge von Patientendaten, Genomsequenzen, Krankheitsverläufen und medizinischen Studien hat, kann es die höchstwahrscheinlich optimale Behandlung für einen Kranken ermitteln. In der Krebsklinik Memorial Sloan-Kettering in New York zum Beispiel, die jährlich rund 30.000 Patienten aufnimmt, wird seit 2012 ein solches Tool entwickelt. Onkologen trainieren die künstliche Intelligenz darin, die Datensätze aus dem Krankenhausarchiv zu lesen, zu interpretieren und zu vergleichen, miteinander und mit in Echtzeit eintreffenden neuen Studien. Ziel ist eine Anwendung, die für jeden neuen Patienten nach der Erstdiagnose die beste Chemotherapie empfehlen kann, die richtige Dosis und Frequenz. Und den Arzt darauf aufmerksam macht, wenn wichtige Informationen fehlen oder Nebenwirkungen drohen.

Die Menge an verfügbarem medizinischen Wissen verdoppelt sich alle fünf Jahre. Und die Beratungsfirma Arthur D. Little schätzt, dass sich das Geschäft mit digitaler Medizin bis zum Jahr 2020 von derzeit 60 Milliarden auf 233 Milliarden Dollar fast vervierfachen wird.

Mutiert nur eines der 4,4 Millionen Basenpaare des TB-Genoms, kann es sein, dass ein bewährtes Medikament plötzlich nicht mehr wirkt.

TB-Patient Sanele Mkhize könnte davon profitieren, denn auch in Durban läuft derzeit ein ambitioniertes Big-Data-Health-Projekt. Und Südafrika kann als Land mit einer der höchsten HIV- und Tuberkulose-Infektionsraten besonders viel zum weltweiten Kampf gegen die Krankheiten beitragen – weil es so viele Daten produziert. Das K-RITH-Forschungsinstitut, kurz für Kwazulu-Natal Research Institute for Tuberculosis and HIV, sitzt seit 2012 in einem achtstöckigen Glasturm auf dem Campus der Universität von Durban. Im dritten Stockwerk hat Dr. Alexander Pym sein Labor, ein gebürtiger Londoner, zwei Meter groß, die Standard-Laborkittel sind ihm zu klein. In den frühen 90er-Jahren, direkt nach der Dissertation, zog es ihn nach Südafrika, an ein Krankenhaus in Kwazulu-Natal. Seit damals ist TB sein Thema, vor allem die Frage, wie die Bakterien mutieren und resistent gegen die wichtigsten Antibiotika werden. Was der Arzt in der Regel erst dann bemerkt, wenn der Patient nicht auf die Behandlung anspricht.

Big Data und Computer wie Watson, sagt Pym, können hier den entscheidenden Fortschritt bringen. Das Genom des TB-Bakteriums hat etwa 4,4 Millionen Basenpaare – schon die Mutation eines einzigen davon kann dafür sorgen, dass ein bewährtes Medikament dem Krankheitserreger nicht mehr schadet. In Pyms Labor in Durban werden Tausende von Proben analysiert und gemäß ihrer Reaktion auf die vorhandenen Medikamente miteinander verglichen. „Für diese Erbgutanalyse reicht kein Desktop-Computer“, sagt Pym. Man braucht multiple Algorithmen dazu. Und einen Superrechner, der mit ihnen hantieren kann.

Im März 2014 ging das K-RITH offiziell die Kooperation mit IBM ein, genauer: IBM gab bekannt, es werde in Zusammenarbeit mit Pym und seinem Team der TB-Epidemie in Südafrika auf den Grund gehen. Watson bleibt hier vorerst noch aus dem Spiel: Die Zahl der weltweit für die Wissenschaft verfügbaren Genomsequenzen von TB-Bakterien ist mit rund 3000 noch so überschaubar, dass weniger leistungsfähige Systeme damit klarkommen. 500 Proben sollen nun aus Kwazulu kommen, es werden wöchentlich mehr.

Der genaue Ablauf: Aus den Speichelproben der Erkrankten werden bis zu drei Wochen lang die Bakterien herangezüchtet. Dann extrahiert Pym die DNA, entschlüsselt das Genom – wohlgemerkt das der Erreger, nicht der Patienten. Schon dabei bekommt das K-RITH Hilfe aus den USA, vom Broad Institute of MIT and Harvard in Cambridge. Dann beginnt die Rechenarbeit: Jedes Bakterium haben die Forscher vorher auf Resistenz getestet, nun müssen die DNA-Stränge der immunen mit den nicht-immunen Erregern verglichen werden. 4,4 Millionen Basenpaare pro Probe. Und ein einziger Unterschied kann bedeuten, dass ein Bakterium gegen das bewährte Medikament resistent ist.

Wenn wir Erfolg haben, brauchen wir nur noch eine halbe Stunde, um herauszufinden, auf welches Medikament ein Patient reagiert.

Alexander Pym

Zehn Gigabyte hat ein einzelner Datensatz, die komplette Bank des K-RITH damit fünf Terrabyte. Die Rechenleistung dafür bekommt Pyms Abteilung derzeit vom IBM-Institut in Haifa. Watson selbst wird erst gebraucht, wenn die weltweite Datensatzmenge auf 10.000 angestiegen ist. Dann wird aus dem derzeit noch regionalen Projekt ein globales werden.

„Die Bakterienproben kommen ohne irgendwelche personenbezogenen Daten in unser Labor“, sagt Pym. „Wir kennen nur den klinischen Kontext: Sind die Patienten HIV-positiv, aus welchem Teil der Provinz stammen sie, wie schwer waren die Symptome, wie gut haben sie auf die Behandlung angesprochen?“ Mit der Pharmaindustrie kooperiert das Institut nicht – es geht beim K-RITH-Projekt darum, bis spätestens 2020 einen massenmarkttauglichen TB-Schnelltest zu entwickeln.

Derzeit dauert es noch bis zu zwei Monate, um in einem Fall wie dem von Sanele herauszufinden, auf welches Medikament ein Patient reagiert und auf welches nicht. „Wenn das Projekt Erfolg hat, schaffen wir das in einer halben Stunde“, sagt Pym. „Das verbessert die Überlebenschancen immens – und sorgt dafür, dass der Patient für eine viel kürzere Zeit ein Ansteckungsrisiko für die anderen darstellt.“

Sollte die Datenmenge so groß werden, dass Watson zum Einsatz kommt, steigen auch die Kosten. Wie viel IBM für den Einsatz berechnen wird, kann man nur schätzen – eine Auskunft gibt es aus New York dazu nicht. Laut einem Bericht des Wall Street Journal musste beispielsweise das MD Anderson Cancer Center in Houston in der ersten Phase einer 2013 gestarteten Krebsanalyse-Studie rund 15 Millionen Dollar für die Superrechner-Dienste zahlen. Die Investitionen müssen sich irgendwann lohnen: Im Januar 2014 kündigte IBM wie gesagt eine weitere Milliarde an, aber laut Wall Street Journal-Informationen wurden in der Watson-Sparte zwischen 2011 und 2013 gerade mal 100 Millionen Dollar umgesetzt.

Und in Kwamakutha muss sich TB-Patient Sanele schon wieder in den Bus setzen, der ihn über die Küstenstraßen viel zu langsam nach Durban bringt. Mehrfach wöchentlich muss er dort die Hilfsorganisation Caprisa besuchen, wo er weit effektiver behandelt werden könnte, wenn alle Informationen zu Person und Krankheit zentral bei der behandelnden Ärztin Rochelle Adams zusammenlaufen würden. „Meine persönliche Erfahrung wird immer ein großer Faktor bei der Behandlung bleiben“, sagt die 42-Jährige, „aber ich bin auf die Forschungsangebote angewiesen. Und wenn sich die Empfehlungen des Computers individuell an seinen Krankheitsverlauf anpassen, würde das meine Arbeit natürlich viel effektiver machen.“ Die Zahl der mit medikamentenresistenten TB-Infizierten steigt in Durban so rasant an, dass Medizinerinnen wie Rochelle Adams bis zur Erschöpfung arbeiten.

Als sie die Farbe ihrer Lungenflüssigkeit sah, wusste sie sofort, dass sie sich angesteckt hatte.

Seit 16 Jahren behandelt die Südafrikanerin TB-Kranke. Kurz nach ihrem zehnten Geburtstag hatte ihr Vater einen Herzinfarkt, keiner in der Familie konnte helfen, er starb kurz darauf. Für Adams stand seither fest, dass sie Ärztin werden würde. Trotz des Risikos. Kurz nach dem Studium infizierte sie sich dann tatsächlich selbst, als sie in einem überfüllten Krankenhaus arbeitete – 18 Stunden am Tag, kaum ein Mediziner trug damals Mundschutz. Als sie die Farbe ihrer eigenen Lungenflüssigkeit sah, wusste sie sofort, dass sie sich mit TB angesteckt hatte. Sie hatte die Krankheit oft genug bei anderen diagnostiziert.

Noch heute schmerzt ihre Lunge bei tiefen Atemzügen, besonders bei Hitze. Als Mutter von drei Kindern kennt sie die Problematik in Fällen wie dem von Sanele: Adams weiß, dass er die Behandlung das erste Mal abgebrochen hatte, weil ihn wegen der Unterernährung die Kraft verließ. Zusammen mit anderen Caprisa-Mitarbeitern hat sie ihm für die Dauer der Studie eine Sozialhilfe in Höhe von monatlich rund 90 Euro besorgt, für jeden Arztbesuch schießt ihm das K-RITH außerdem rund zehn Euro zu.

Eine Möglichkeit, die die Watson-Technologie nun eröffnet: Ärzte wie Rochelle Adams, vor allem aber weit schlechter ausgebildete Krankenschwestern in Entwicklungsländern, könnten einfach die Symptome ihrer Patienten in ein Smartphone eingeben – und würden, nach Abgleich mit einer weltweiten Datenbank, unmittelbar Diagnose- und Therapievorschläge präsentiert bekommen, zusammen mit den Quellen für die Entscheidung. An solchen Apps wird derzeit gearbeitet: US-Startups wie Sense.ly, GenieMD und GoGoHealth bekamen im Rahmen eines von IBM ausgelobten Wettbewerbs die Möglichkeit, im Sommer 2014 drei Monate lang gratis mit dem Watson-Cloud-Service zu arbeiten. Wie lange es dauern wird, bis solche Dienste weltweit funktionieren und auf ausreichende Datenbasis zurückgreifen können, ist derzeit aber noch völlig offen.

In Südafrika sind Daten zu den Lebensbedingungen der Patienten, die essenziell für Diagnose und Therapie sind, in Behördenakten vermerkt – doch sie laufen nicht an einer zentralen Stelle zusammen. Den Entscheidungsträgern fehlen Informationen, um die Krankheit in ihren sozio-ökonomischen Zusammenhängen zu verstehen. Die Vision der Big-Data-Entwickler hingegen ist: Ärzte wie Adams bekommen zusammen mit der Diagnose zum Beispiel gleich auch noch mitgeteilt, wo in der Nähe freie Krankenbetten sind.

Dan Runfola von der Bürgerrechtsorganisation Aiddata,  die sich für den freien Zugang zu solchen Daten einsetzt, sieht vielfältige Möglichkeiten für den Einsatz von Big Data etwa in Afrika. Er sagt: „Wir können mit Hilfe von Big Data verstehen, wie bei Hungersnöten am effektivsten Hilfsmittel verteilt werden – oder wie sie sogar vorhergesehen und verhindert werden können.“ Mit den vorhandenen Daten könne auch die Verbreitung von Krankheiten prognostiziert werden – und bereits jetzt mit dem Bau der notwendigen Kliniken begonnen werden. Oft, so Runfola, scheitere die Analyse aber an den Regierungen und Hilfsorganisationen, die ihre Daten nicht öffentlich zugänglich machten.

Ich habe diesen Traum, bald wieder auf dem Platz zu stehen, Tore zu schießen. Wie früher.

Sanele Mkhize

Die Grenze zwischen Sturheit und gesunder Skepsis ist hier fließend. Dass viele misstrauisch werden, wenn ein Konzern wie IBM im Sinne der Weltgesundheit beim Sammeln riesiger Datenmengen und Genomsequenzen hilft, ist nachvollziehbar. Man hat in New York nun mal keine natürlichen, dem ursprünglichen Geschäftsmodell entsprechenden Big-Data-Quellen wie Google oder Facebook – und der ständig wissenshungrige Watson lässt sich wunderbar vorschicken, um leere Archive zu füllen.

„Watson ist bislang ganz gewiss nicht der schnellste oder beste Arzt der Welt“, bremst auch Holm Landrock, Big-Data-Analyst beim Beratungsunternehmen Experton Group, die Euphorie. „Dafür ist er einer der teuersten.“

Sanele hat in den letzten Sommerwochen übrigens wieder ein bisschen Gewicht zugelegt. Er hustet weniger, der Oberkörper wirkt nicht mehr ganz so ausgezehrt. Und er redet wieder mehr. Vom Fußball. Bevor er krank wurde, war er Stürmer, ein ziemlich schneller sogar. Sanele sagt: „Ich habe diesen Traum, bald wieder auf dem Platz zu stehen, Tore zu schießen. Wie früher.“

Wahrscheinlich wird er das auch ohne Watsons Hilfe schaffen. Für Hunderttausende andere Kranke könnte der Rechner dagegen die letzte Hoffnung sein. 

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