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Deutsche Abiturienten können mehr, als nur mit dem Smartphone zu schummeln!

von Max Biederbeck
Sind unsere Kinder bereit für Roboter, Algorithmen, Hacker-Angriffe und Industrie 4.0? WIRED hat die Innovationen in der Bildung unter die Lupe genommen. Im Interview erzählt Experte Jörg Dräger, wo die Probleme und Stärken in Deutschland liegen.

In einem Unterpunkt der Digitalen Agenda stehen sie: Die Schüler, Lehrer und Schulen – irgendwie vermengen sie sich mit Innovationsförderung für Startups auf der einen Seite und Erwachsenen-Weiterbildung auf der anderen. Aber so war das eben am Anfang der Agenda: Die Bildung des Nachwuchses spielte erst einmal eine untergeordnete Rolle. Das hat sich seit ihrer Verabschiedung 2014 radikal geändert. Mittlerweile ist die Bildung zumindest in der Debatte in den Fokus der digitalen Bemühungen in Deutschland gerückt.

Aber was passiert da eigentlich? Und was muss da passieren? Sicherlich braucht nicht jedes Kind programmieren zu lernen, aber wie bereitet die Schule es sonst am besten auf den digitalen Alltag vor? WIRED hat den Realitäts-Check gemacht und den Bildungsexperten der Bertelsmann Stiftung und Co-Autoren des Buchs „Die Digitale Bildungsrevolution“, Jörg Dräger, zum Thema befragt. Eins vorweg: Das Gespräch lässt hoffen.  

WIRED: Herr Dräger, wie gut kennen Sie sich mit dem Gedicht Winternacht von Gottfried Keller aus?
Jörg Dräger: Nicht besonders, aber das könnte ja eine Google-Anfrage schnell für mich regeln.

WIRED: Das ist genau mein Punkt, das dachten sich hunderte Abiturienten in Bayern. Im Mai haben sie während ihrer Deutschprüfung eine Lehrwebsite aufgerufen und dort die Antworten für ihr Abitur abgeschrieben.
Jörg Dräger: Na, da ist die Schule aber auch ein bisschen selbst Schuld.

WIRED: Hätten die Lehrer die Smartphones vorher kassieren müssen?
Dräger: Nein! Für mich gehört in der Schule das Handy auf den Tisch und nicht verboten. Es ist eine Aufgabe der Schule, Kinder an den richtigen Gebrauch der Geräte heranzuführen. Für das Abitur kann das durchaus bedeuten, auch mal eine Aufgabe unter Zuhilfenahme des Smartphones zu lösen.
 
WIRED: Aber wie soll das aussehen?
Dräger: Wir müssen fragen, ob eine Abituraufgabe wirklich Faktenwissen abfragen sollte, das ich mir dermaßen einfach im Internet herunterladen kann. Die Abiturienten sollten lieber Ableitungen aus Wissen treffen, Einordnungen und Bewertungen. Dafür brauche ich menschliche Intelligenz und nicht Google.

WIRED: Einordnung und Bewertung sind aber doch Teil einer Gedichtinterpretation wie der gerade erwähnten?
Dräger: Ja, aber wenn es schon im Netz steht, dann ist so ein Gedicht doch zum x-ten Mal in Folge dasselbe. Schüler müssen heute einfach mehr lernen als das. Sie müssen die vorhandenen Informationen nicht nur bekommen, sondern auch nach ihrer Relevanz bewerten und kommentieren, sie einordnen und Neues, Innovatives daraus ableiten. Ich finde, das kann man von einem 18-Jährigen schon verlangen – und auch von einer Schule im Abi.

Ich halte es für falsch, dass jedes Kind eine bestimmte Programmiersprache  lernen soll

Jörg Dräger

WIRED: Man merkt, dass Sie lange im Silicon Valley unterwegs waren. Dort haben Sie sich auch neue Bildungsansätze angeschaut. Finden Sie die digitale Bildung in Deutschland rückständig?
Dräger: Teilweise. Es geht ja um zwei zentrale Fragestellungen. Zum einen, welche Kompetenzen brauchen unsere Kinder und Jugendliche im digitalen Zeitalter? Die ganze Welt sucht darauf gerade eine Antwort. Stichwort: Soll jedes Kind programmieren lernen? Ist es eine Basiskompetenz, sich mit Algorithmen auszukennen?

WIRED: Ihre Antwort?
Dräger: Da kommen wir zu Ihrer Frage nach der Gedichtinterpretation zurück. Wir haben in Deutschland mal diskutiert, ob Kinder in der Schule lernen sollten, Mietverträge zu lesen anstatt Eichendorff-Gedichte zu interpretieren. Dort wie beim Programmieren gilt, man kann nicht jedes Praxiswissen aus jedem Lebensbereich in der Schule vermitteln.

WIRED: Sondern?
Dräger: Ich halte es für falsch, dass jedes Kind eine bestimmte Programmiersprache wie C++ oder Swift von Apple lernen soll. Solche Fähigkeiten verfallen viel zu schnell, weil es neue Technologien gibt. Eher sollten Schüler am Beispiel einer Programmiersprache logisches und strukturiertes Denken lernen. Sie müssen verstehen, wie ein Algorithmus grundsätzlich funktioniert, wie ein Computer Arbeits- und Denkprozesse von uns übernehmen kann.

Es ist ein Gerücht, dass Lehrer keine Lust auf Innovationen im Unterricht haben

Jörg Dräger

WIRED: Sie erwähnten eine zweite Fragestellung…
Dräger: Ja, die nach dem richtigen Einsatz von digitalen Medien im Unterricht und in der Schule. Da sind die Amerikaner deutlich weiter. Die haben mehr Mut zum Ausprobieren und zur Innovation. US-Schulen setzen vom Lernvideo, über Simulationen bis zur Datenanalyse viele Werkzeuge ein, um Unterricht besser, individueller und kindgerechter zu gestalten.

WIRED: Aber es gibt in der Digitalen Agenda der Bunderegierung doch eine Strategie Digitales Lernen, der nationale IT-Gipfel im vergangenen Jahr hatte das Thema „Bildung“?
Dräger: Langsam nimmt die Entwicklung auch bei uns Fahrt auf. Bei der Digitalen Agenda 2014 wurde die digitale Bildung noch wie ein Stiefkind behandelt, das vernachlässigt wurde. Drei unterschiedliche Ministerien haben die Agenda verantwortet, Bildung war dabei kein wirklich wichtiges Thema.

WIRED: Also sind die Politiker das Problem?
Dräger: Moment, wie gesagt, es gibt eine Entwicklung. Da war der von Ihnen genannte Digital-Gipfel. Das BMBF hat ein Fünf-Milliarden-Programm „Schulen ans Netz“ auf den Weg gebracht. Auch die Kultusministerkonferenz kommt mit ihrer digitalen Strategie voran. Heute geht es um das Wie, nicht mehr um das Ob. Das heißt, vom Stiefkind durchaus zum Lieblingsbaby. Das ist eine sehr ermutigende Entwicklung.

WIRED: Wie sieht es mit den Lehrern aus? Ich höre oft den Vorwurf, dass sie Innovation eher im Weg stehen, als sie zu fördern.
Dräger: Das ist nur ein Gerücht. Wir haben für eine neue Studie mit zahlreichen Lehrern gesprochen. Die sind wesentlich offener für die Digitalisierung, als wir dachten. Trotzdem sind sie bisher wenig dafür fortgebildet. Auch hier geht es also mittlerweile um das „Wie“.

WIRED: Für reiche Privatschulen bedeutet das Coding-Lehrer und Whiteboards. Wer sich das nicht leisten kann, darf nicht mitspielen?
Dräger: Ein „Whiteboard“ alleine löst unsere Probleme nicht! Alle Schulen müssen besser ans Netz angeschlossen werden. Schauen Sie mal: Ein Drittel der deutschen Berufsschulen ist gar nicht vernetzt. Ein Drittel hat einen Netzanschluss, mit dem die Schüler E-Mails lesen, aber kein Video anschauen können. Nur ein Drittel der deutschen Berufsschulen hat einen schnellen Internetanschluss. Was für eine wahnsinnige Zahl ist das? Diese Schulen sollen junge Erwachsene berufsqualifizierend ausbilden, für das digitale Zeitalter. In Südkorea ist die letzte Schule im Jahr 2000 online gegangen. Wir sind jetzt im Jahr 2017 und diskutieren noch immer über einen leistungsfähigen Breitbandanschluss.

Immerhin haben sich Bund und Länder   geeinigt, wie die fünf Milliarden Euro eingesetzt werden sollen

Jörg Dräger

WIRED: Bleibt die Fortbildung der Lehrer.
Dräger: Das ist ein Baustein, bei dem wir international sicherlich noch lernen können. Doch auch in Deutschland gibt es Vorreiter-Schulen mit interessanten Konzepten. Die könnten ihre Ergebnisse dann in kurzer Zeit wieder anderen Schulen zur Verfügung stellen.

WIRED: Und solch eine Zusammenarbeit kann über Schul-, Stadt und sogar Landesgrenzen funktionieren?
Dräger: Im Forum Bildung Digitalisierung haben wir jetzt 38 Vorreiter-Schulen aus allen Bundesländern versammelt. Aber ja: Es gibt mehr als 38.000 Schulen in Deutschland, es ist ein kontinuierlicher, längerer und natürlich kapazitiv aufwendigerer Prozess. Eine Million Lehrkräfte müssen sich mit Fortbildung beschäftigen.    

WIRED: Das klingt, als würde das alles noch zwanzig Jahre dauern…
Dräger: Hoffentlich nicht so lange, aber der Prozess ist natürlich ein langsamer. Immerhin haben sich Bund und Länder relativ zügig geeinigt, wie die fünf Milliarden Euro eingesetzt werden sollen. Und übrigens auch da noch einmal erfreulich: Neben Infrastruktur geht es um Lehrerfortbildung.

WIRED: Was wird denn den Lehrern in solchen Kursen beigebracht?
Dräger: Pädagogik, nicht Technik. Dazu kann ich Ihnen eine schöne Anekdote erzählen, die auch eine gute Botschaft sendet.

WIRED: Nur zu.
Dräger: Wir bieten in NRW eine elftägige Lehrerfortbildung an, in der es um individuelle Förderung geht. Über Digitalisierung reden wir da eigentlich nicht. Am Ende sagten die Lehrer: Ein eigener Lernplan für jedes Kind ist super, aber da stehe ich lange am Kopierer. Unsere Antwort: Da gibt es etwas Neues. Eine Technologie, mit der Sie nur einen Mausklick brauchen. Digitalisierung macht Ihre Herzensaufgabe, die Pädagogik, nicht schwerer, sondern einfacher!

WIRED: Ich bin jetzt mal Lehrer, und meine Schüler betrügen gerade beim Abitur. Ich mache Fortbildungen, aber das dauert. Sie erklären mir, ich soll denen jetzt Meta-Kompetenzen aus einer Welt vermitteln, die ich gerade selbst erst kennenlerne…
Dräger: Dann holen Sie sich doch Praktiker und Experten mit rein, setzen Sie auch auf außerschulische Angebote. Während die Lehrer fitter und fitter werden, können wir einen zweiten Seitenweg aufbauen, gerade in der Ganztagsschule.

WIRED: Programmierer an die Schule?
Dräger: Warum nicht kurzfristig Programmier-AGs, Robotik-AGs in die Nachmittagsgestaltung der Schule einbauen? Experten einladen. Das ist eine ganz wichtige Botschaft an die Politik: Sei innovativ und schneller.

WIRED: Sie reden jetzt aber gerade mit einem überforderten Lehrer, nicht mit der Politik.
Dräger: Auch für Sie als Lehrer ist doch klar: Die Kompetenzen, die ich leicht überprüfen kann, und die ich deshalb unterrichten soll – das sind doch die ersten, die eine Maschine vom Menschen übernimmt. Sie sind doch Pädagoge, um das zu verhindern! Dass wir unsere Lehre darauf fokussieren, that is not very smart.

Willkommen zu den WIRED Story Shots, unseren Denkanstößen zu den wichtigsten Fragen der Digitalisierung. Diesmal geht es um die Digital-Agenda 2017: In diesem Jahr endet sie nach drei Jahren Laufzeit. Aber wie weit ist Deutschland derweil gekommen? WIRED hat fünf Stichproben gemacht.

1. Deutsche Abiturienten können mehr, als nur mit dem Smartphone zu schummeln!
2. Ein Unternehmer versucht, das Dilemma des Glasfaserausbaus zu brechen

3. Warum Deutschland im Internet noch lange nicht sicher ist
4. „Ein wenig Digital reicht Deutschland nicht, um zum Silicon Valley aufzuholen“
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