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Aufholjagd zum Silicon Valley: „Ein wenig digital reicht Deutschland nicht“

von Karsten Lemm
Die Aufbruchstimmung in der Wirtschaft gibt vielen Hoffnung: Deutschland ist endlich aufgewacht! Doch Industrie 4.0 und vereinzelte Digitalprojekte reichen nicht, warnt Clark Parsons, Geschäftsführer der Berliner Internet Economy Foundation, im Gespräch mit WIRED. Soll der Wandel gelingen, muss noch viel mehr passieren.

„Deutschland kann das!“ lautet der Spruch, mit dem die Bundesregierung für ihre Digitale Agenda wirbt. Eine zukunftsweisende Vision nach der anderen präsentiert die Große Koalition auf der Website ihrer Initiative – ob im Alltag („Schnelles Internet für alle. Überall“), in der Medizin („Datenaustausch für bessere Therapien“) oder in der Fabrik von morgen („Made in Germany wird digital“).

Wieviel davon ist noch Wunschdenken, wo gibt es spürbaren Fortschritt? Für eine Bestandsaufnahme sprach WIRED mit Clark Parsons, dem Geschäftsführer der Internet Economy Foundation in Berlin – einer Denkfabrik für Digitalfragen, die 2016 als parteiübergreifende Stiftung zum Dialog mit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gegründet wurde. Zum Beirat der IEF gehören unter anderem Zalando-Vorstand Robert Gentz, Delivery-Hero-Mitgründer Kolja Hebenstreit und der ehemalige CEO der Deutschen Telekom, René Obermann. Parsons, ein Amerikaner, lebt seit 1998 in Deutschland und war zuvor Geschäftsführer der Berlin School of Creative Leadership.

WIRED: Seit mehr als fünf Jahren spricht die deutsche Wirtschaft von Industrie 4.0. Was hat das Programm gebracht?
Clark Parsons: Industrie 4.0 ist ein super Anstoß – in dem Sinne, dass Deutschland sagt: Wir sind auf bestimmten Gebieten führend und müssen unsere Position verteidigen. Dazu gehörte als erstes die Erkenntnis, dass es höchste Zeit ist, über neue digitale Geschäftsmodelle nachzudenken. Das zumindest ist geglückt. Vor zwei Jahren hat man wenig von Digitalisierung gehört oder gelesen. Und wenn doch, ging es vor allem um Sicherheit oder Datenschutz. Heute geht es mehr um Chancen, Umbruch und Innovation.

WIRED: Sind das mehr als Lippenbekenntnisse?
Parsons: In der Autobranche zum Beispiel merkt man: Die sind wach. Man sieht, dass die Hersteller anfangen, über Mobility zu nachzudenken und nicht nur über Autoproduktion. Aber generell wiegen wir uns ein bisschen zu viel in Sicherheit, fürchte ich. Es geht der deutschen Wirtschaft sehr gut, und damit fehlt vielen das Problembewusstsein.

WIRED: Wie kommt das? Eigentlich müssten doch alle wissen, was auf sie zukommt.
Parsons: Bis man attackiert wird, ist man manchmal noch nicht wach. Industrien, die bisher noch gut ohne Digitalisierungsstrategie auskommen, können sagen: „Was soll das alles? Es gibt für mich keine Bedrohung.“ Aber wenn es so weit ist, fehlt leider oft die Zeit zum Reagieren. Deshalb müssen wir uns jetzt vorbereiten – anderenfalls ist Europa in zehn Jahren nur noch ein Absatzmarkt.

WIRED: Worin sehen Sie die größte Gefahr?
Parsons: In der Internetwirtschaft ist die Schnittstelle zum Kunden der entscheidende Faktor. Dort wird das eigentliche Geld verdient und die Marktposition gesichert. Schauen Sie sich den Handymarkt an: Foxconn stellt das iPhone her, doch der Großteil der Gewinne landet bei Apple. Ich würde lieber Apple sein als Foxconn. Das Gleiche gilt für Amazon: Wenn wir am Ende alle über Alexa unsere Dienstleistungen abrufen, dann ist jeder, der dahinter steht, nur ein austauschbares Element in der Verwertungskette.

Ein bisschen digital reicht nicht. Es ist sogar gefährlich

Clark Parsons

WIRED: Kann Deutschland den Vorsprung der Silicon-Valley-Firmen noch aufholen?
Parsons: Deutschland hat durchaus die Chance aufzuholen – aber nicht, indem man sagt: „Ich mache meine Produktion ein bisschen digital.“ Das reicht nicht, und es ist sogar gefährlich, weil sich in der Digitalwirtschaft die Kräfte verschieben. Deutsche Unternehmen verstehen sich sehr gut darauf, Dinge herzustellen. Das hat uns zum Exportweltmeister gemacht. Nur: Sobald alles vernetzt ist, kommt es darauf an, wer die Schnittstelle, also den Zugang zu diesen Dingen kontrolliert. Die wertvollsten Firmen der Welt sind heute keine Hersteller, sondern Datensammler und Datenverarbeiter. Das ist das Gold, da liegt der Wert. Und im Moment ist Deutschland nicht in der Lage, in irgendeiner Weise an diese Datenströme heranzukommen.

WIRED: Gilt das auch für Industrieanwendungen? Viele sehen die Chance deutscher Unternehmen ja darin, dass die Vernetzung von Geschäftsprozessen gerade erst beginnt.
Parsons: Im Prinzip stimmt das sicher. Ein Unternehmen wie Bosch Siemens Hausgeräte muss nicht unbedingt Klaus entwickeln, den Sprachassistenten für den Kühlschrank zu Hause. Aber es muss sich als Unternehmen verstehen, das an großen Teilen der Wertschöpfungskette beteiligt ist und aus dieser Position andere Produkte oder Dienstleistungen entwickelt.

Wie viele wertvolle Daten schlummern bei Toll Collect oder der Deutschen Bahn?

Clark Parsons

WIRED: Das versucht Siemens ja auch schon, zum Beispiel bei der vorausschauenden Wartung von Zügen, wenn aus Sensordaten abgelesen wird, ob womöglich bald die Türen klemmen oder Bremsscheiben abgenutzt sind.
Parsons: Wichtig ist dabei: Wer sich als Plattform versteht, muss offen sein, damit andere Firmen sich beteiligen können. Amazon ist nicht groß geworden, weil Jeff Bezos versucht hat, alles allein zu machen. Amazon hat ein ganzes Ökosystem geschaffen, mit Millionen von Lieferanten und Herstellern, Käufern und Verkäufern. Nicht ohne Grund sagt Zalando jetzt: Wir sind keine E-Commerce-Firma, wir wollen eine Plattform für die ganze Modewelt sein. Das ist klug, und so müssten alle denken. Wie viele wertvolle Daten schlummern bei Toll Collect oder der Deutschen Bahn, die man verwerten könnte, um interessante Dienstleistungen anzubieten?

WIRED: Wem gelingt es bereits erfolgreich, digital neu zu denken?
Parsons: Ein Musterbeispiel ist für mich der Europa-Park in der Nähe von Freiburg mit seiner Virtual-Reality-Achterbahn. Da hat ein Familien-Unternehmen erkannt: Wir können einen Mehrwert schaffen, indem wir über den Tellerrand schauen und das Neue mit dem Alten verbinden. Das hat den Europa-Park-Betreibern – einem mittelständischen Familien-Unternehmen – viel Aufmerksamkeit gebracht. Alle Leute in der VR-Szene sprechen von diesem originellen neuen Entertainment-Erlebnis.

WIRED: Ist das ein Einzelfall?
Parons: Ich sehe durchaus Firmen, die wach sind und vieles versuchen, wie zum Beispiel auch Viessmann. Da hat die nächste Generation klar den Auftrag: „Denkt über alles nach. Was soll eine Heizungsfirma machen, um in der Digitalisierung zu bestehen?“ Viele andere zögern noch, aber es ist wichtig, dass traditionelle Industriefirmen erstmal anfangen. Selbst wenn sie auf die Nase fallen, sammeln sie wichtige Erfahrungen dabei: Was können wir? Was sollen wir?

WIRED: Warum ist das so wichtig?
Parsons: Weil der Erste meist alle Gewinne einstreicht. Ich bin sehr froh, dass endlich Aufbruchsstimmung herrscht – aber wo ist Deutschland Weltmarktführer? Wir haben SAP, aber sonst? Man merkt: Es geht in die richtige Richtung, doch wir liegen im digitalen Bereich in keiner Weise weltweit an der Spitze.

Deutschland ist ein Land der Tüftler, nicht der mutigen Ausprobierer

Clark Parsons

WIRED: Woran mangelt es weiterhin?
Parsons: Manches ist kulturell bedingt. Deutschland ist kein Land der early adopters. Es ist ein Land der Tüftler und Dichter und Denker, aber nicht der mutigen Ausprobierer. Das macht jedes Produkt richtig gut, weil es bis ins Detail ausgereift ist. Aber wir wissen alle, dass das in digitalen Geschäftsmodellen nicht funktioniert: Man kann bei Version 1.0 nichts Perfektes liefern. Startups aus dem Silicon Valley haben meist kein Problem damit, Regeln zu brechen und auch Unfertiges auf den Markt zu werfen. Facebook spornt seine Entwickler mit dem Motto an: „Move fast and break things.“

WIRED: Reicht die digitale Agenda der Bundesregierung, um den Wandel voranzutreiben?
Parsons: Die Agenda 2014-17 war ein wichtiges Signal der Politik! Sie hat viele gute Initiativen auf den Weg gebracht und war eine wichtige Bestandsaufnahme. Doch wenn Deutschland nun einen mutigen Schritt in eine erfolgreiche digitale Zukunft gehen will, brauchen wir mehr. Bei vielen Grundvoraussetzungen wie dem Zugang zu Wachstumsfinanzierung für Startups oder Scale-ups ist unser Ökosystem noch immer vergleichsweise unterentwickelt. Ein weiteres Beispiel ist der Ausbau der Infrastruktur. Es gibt keine Internetwirtschaft ohne Internet. Für autonomes Fahren, für vernetzte Fabriken, für das Internet der Dinge muss Glasfaser her. Wir liegen laut OECD im internationalen Vergleich auf Platz 26 in Sachen Breitbandversorgung. Hinter Vectoring stand sicher viel guter Wille nach dem Motto: „Wir bringen 50 Mbit aufs Land – Hauptsache schnell.“ Die Gefahr aber ist: Dort, wo Vectoring kommt, wird man womöglich Jahrzehnte auf Glasfaser warten müssen.

Das Bildungssystem braucht ein Update

Clark Parsons

WIRED: Viele Unternehmen kämpfen mit dem Fachkräftemangel. Frankreich hat nun einen Präsidenten, der US-Entwickler mit einem Visumsprogramm lockt. Brauchen wir so etwas auch?
Parsons: Ja, auf jeden Fall. Die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland ist das absolute Muss, um mitzuhalten. Es gibt sicher viele mittelständische CEOs, die sagen: „OK, Botschaft kapiert, ich muss digital werden. Aber wie fange ich überhaupt damit an und mit wem?“ Zusätzlich braucht das gesamte Bildungssystem ein Update. Es muss vielmehr auf lebenslanges Lernen ausgelegt sein. Wir brauchen ein System, das Ältere umschult und Jüngeren das Skillset für lösungsorientiertes Denken gibt, denn die Jobs, die meine Kinder ausüben werden, existieren wahrscheinlich noch gar nicht.

WIRED: Sind Sie optimistisch, dass der deutschen Industrie der Digitalwandel gelingt?
Parsons: Ich sehe Erfolge in Branchen, die rechtzeitig erkannt haben, dass sie ihr Geschäftsmodell überdenken müssen. So wie die Autoindustrie. Vor zwei Jahren dachte ich, es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir alle ein Apple Car kaufen. Aber Apple und auch Google haben gemerkt, dass es sehr schwer ist, Autos zu bauen. Auf der anderen Seite haben deutschen Hersteller – besonders BMW und Mercedes – angefangen, sehr intensiv in neue Geschäftsmodelle zu investieren. Ganz allgemein merkt man: Das Bewusstsein ist da, und endlich werden auch die Weichen gestellt. Das ist sehr erfreulich. Aber die deutsche Wirtschaft hat beim Digitalwandel immer noch einen langen Weg vor sich.

Willkommen zu den WIRED Story Shots, unseren Denkanstößen zu den wichtigsten Fragen der Digitalisierung. Diesmal geht es um die Digital-Agenda 2017: In diesem Jahr endet sie nach drei Jahren Laufzeit. Aber wie weit ist Deutschland derweil gekommen? WIRED hat fünf Stichproben gemacht.

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