Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Die Whistleblowerin der Bestattungsindustrie

von Sonja Peteranderl
Die Bestatterin Caitlin Doughty erklärt den Tod als Youtuberin und in ihren Büchern – und will ein entspannteres Verhältnis zum Tod vermitteln.

Die einzigen Hassmails erhält Caitlin Doughty von Direktoren von Bestattungsunternehmen. „Sie mögen es nicht, dass ich erzähle, wie es hinter den Kulissen der Bestattungsindustrie zugeht”, erzählt Doughty im WIRED-Interview. „Wenn man einem Bestattungsunternehmen Fragen zum Tod stellt, sind die Antworten meist sehr euphemistisch.“

Sobald sie auf Partys ihren Beruf verrät, wird sie mit Hunderten von Fragen gelöchert. Deswegen klärt die Bestatterin aus Los Angeles inzwischen online auf: Ihr Youtube-Kanal „Ask A Mortitian“ ist eine Art FAQ rund um Tod, Sterben und die Bestattungsindustrie.

icon_cookie

Um diese Inhalte zu sehen, akzeptieren Sie bitte unsere Cookies.

Cookies verwalten

Sie spricht etwa darüber, wie man Verstorbenen Augen und Münder schließt, damit sie danach friedlich im Sarg liegen. Mit Humor und manchmal auch ein bisschen makaber besucht sie Tierfriedhöfe in der Wüste oder stellt kuriose Geschichten vor – etwa über die Mumifizierung von Lenin. „Ich versuche Dinge zu erklären, die für einen Bestattungsdirektor völlig normal sind, aber von denen die Zuschauer keine Ahnung haben“, sagt Doughty. „Oder es muss einfach schräg und interessant sein, wie die Mumie, die in einem Beerdigungsinstitut im Schrank gefunden wurde.“ Videos wie „Worst way to die?“ oder „Closing mouths postmortem“ haben jeweils mehr als 400.000 Klicks.

Mit ihren Insider-Einblicken will sie die Bestattungsbranche transparenter machen: „Jüngere Leute sind offener, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, und sie finden normalerweise in einer Sekunde alle Infos im Internet, wenn es um andere Dinge geht", sagt Doughty. „Für viele ist es deshalb frustrierend, dass sie nicht so schnell an Informationen über Beerdigungen kommen – aber die Branche macht einen guten Job, zu verstecken, was sie tut."

Man könnte Doughty fast schon als eine Art Diplomatin für ein besseres Verhältnis zum Tod bezeichnen: Mit ihrem Bestattungsunternehmen „Untertaking LA“ unterstützt sie Angehörige bei der Trauerarbeit, ihr 2011 gegründetes Kollektiv „The Order of the Good Death“ will den Tod vom Tabu befreien – ein „Death positive movement“ auslösen. Ihre Mission trifft auf einen Nerv: Doughtys Buch Smoke Gets in Your Eyes wurde zum Bestseller, ebenso wie ihr gerade veröffentlichtes Buch From here to Eternity, für das sie auf der ganzen Welt erforscht hat, wie verschiedene Länder und Kulturen mit dem Tod umgehen.

Das Fazit ist wenig überraschend: Nirgendwo ist die Distanz zum Tod so groß wie in der westlichen Welt. Die Gesetze rund um Tod und Bestattungsindustrie würden auch immer Ängste, aber auch Lobby-Interessen reflektieren, so Doughty. In Deutschland sei es zwar leichter, ein Bestattungsinstitut zu gründen, als in den USA, wie Doughty Recherchen in Berlin erfuhr. Sie wundert sich aber darüber, dass Deutsche die Asche von Verstorbenen nicht mit nach Hause nehmen dürfen. „In anderen Ländern hängen Menschen mit Leichen herum, manchmal jahrelang, und es geht ihnen gut – dass Deutsche nicht mal die Asche mitnehmen tragen oder mitnehmen dürfen, ist ein gutes Beispiel für die extremen Unterschiede.“

Während die Bestattungsindustrie Angehörigen alles abnimmt, den Tod von ihnen entfernt, findet Doughty es wichtig, Familienmitglieder wieder stärker in den Bestattungsprozess einbinden, damit sie sich verabschieden können. Nach diesem Prinzip organisiert auch ihr Institut Undertaking LA die Trauerarbeit: „Wir arbeiten wie ein normales Bestattungsinstitut, aber für uns ist die Beteiligung der Familien Priorität – wenn du deinen Vater selbst ankleiden möchtest, oder das Krematorium sehen willst, kannst du das tun.“

In Indonesien wohnen Familien etwa mit ihren Toten in einem Haus. „Die erste Mumie, die ich sah, trug eine 80er Jahre Flieger-Sonnenbrille mit gelbem Gestell“, schreibt Doughty in ihrem Buch. Der einzige Schock bei der Begegnung mit der Mumie: Dass der Mann wie ihr Ex-Mathelehrer aussah. Die Angehörigen holen die Mumien hervor, um sie einzukleiden und zu kämmen, mit ihnen zu picknicken und Familienfotos zu machen – und Selfies. Während sie die Fotos mit ihren verstorbenen Angehörigen in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram teilen, löste die Tumblr-Seite "Selfies at funerals" in den USA im Jahr 2013 einen Skandal aus – eine Sammlung von Fotos von Teenagern, die Selfies auf Beerdigungen angefertigt hatten, auf einem ist die Großmutter im offenen Sarg zu sehen.

Auch wenn Selfies mit Toten sich nicht global durchgesetzt haben, boomt digitale Trauerkultur überall auf der Welt: Facebook-Seiten erinnern an die Toten, auch in Deutschland zünden Trauernde virtuelle Kerzen auf virtuellen Friedhöfen an.

Was passiert nach dem Tod mit unseren Social-Media-Profilen?

„Es ist wichtig, vorher darüber nachzudenken, was mit deinem Körper passieren soll“, sagt Doughty. „Wir müssen aber auch ernsthafter darüber nachdenken, was mit Facebook und so weiter passieren soll, und wem die Daten gehören, weil so viel des Lebens der Leute online ist.“ Sie selbst hat eine Vertrauensperson bestimmt, die im Todesfall Zugriff auf ihr Facebook-Profil hat, die Seite kontrollieren oder schließen lassen kann. Sonst pingen die Profile noch jahrelang gemeinsame Erinnerungen – was in manchen Fällen ein traumatisierender Trigger sein kann. Die meisten machen sich aber keine Gedanken, wie ihre virtuellen Präsenzen auf Facebook, Linkedin oder Snapchat nach ihrem Tod weiterleben.

„Die wenigsten Menschen in Deutschland bereiten sich auf ihren Tod vor und somit auch nicht die Angehörigen, die beim Sterbefall schwierige Entscheidungen allein treffen müssen“, beobachtet auch Björn Krämer, Gründer von Mymoria.de, einer deutschen Plattform, auf der User Beerdigungen und Trauerfeier, bis hin zur Musikauswahl, planen können. „Der Digitale Nachlass, also die Abmeldung von Facebook und Co. ist eine Dienstleistung, die Mymoria-Kunden mit einem Klick einfach in ihrem Bestattungspaket online dazu buchen können. Aber nur etwa einer von hundert tut das.“

In Russland und den USA haben Menschen inzwischen sogar Chatbots programmiert, so dass sie nach dem Tod mit dem Verstorbenen, oder zumindest seiner virtuellen Persönlichkeit, chatten können. „Man sieht mehr und mehr Menschen, die Wege suchen, wie sie jemanden in der Cloud oder durch einen Bot am Leben erhalten können“, sagt Doughty. „Jeder Weg mit Trauer umzugehen ist gut, ich möchte das nicht bewerten - aber Künstliche Intelligenz, Roboter oder Bots schaffen es noch nicht, wirklich die Persönlichkeit eines Menschen zu replizieren." Es sei wie in der Serie Black Mirror, in der eine Frau ihren Mann als Chatbot auferstehen lässt: "Der Bot sagt dieselben Sachen, die auch ihr Mann sagen würde, aber etwas Fundamentales fehlt, und das macht ihr mehr Angst, als dass es sie beruhigt", sagt Doughty. „An der Stelle, an der wir jetzt sind, besteht die Gefahr, dass es nicht gut genug wird und dann beängstigend ist.“

Dennoch kann Digitalisierung bei der Trauerarbeit helfen und die Bestattungsindustrie revolutionieren – wie Doughty in Japan beobachtet hat. Das Land ist modern und technologisch weit entwickelt, die Bevölkerung ist überaltert und der Platz für Friedhöfe knapp. So hat sich Japan in einen Pionier für mit High-Tech aufgerüstete Grab- und Gedenkstätten verwandelt und könnte ein Vorbild für Länder wie Deutschland oder die USA werden. In Tokio hat Doughty eine Gedenkstätte besucht, an denen für jeden Toten virtuelle, leuchtende Buddhas in den Raum projiziert werden. Am Todestag eines Menschen leuchtet dann sein Buddha in einer anderen Farbe auf, der Mönch, der die Gedenkstätte betreut, betet dann für den Toten – selbst wenn der keine Angehörigen mehr hat, die ihn besuchen kommen. „Wenn wir Technologie und Tod kombinieren, sollten wir größer denken – nicht nur an einen QR-Code auf dem Friedhofsstein“, sagt Doughty.

GQ Empfiehlt
Entdecker, Fotograf und Urban Explorer: Ralph Mirebs im Interview

Entdecker, Fotograf und Urban Explorer: Ralph Mirebs im Interview

von Benedikt Plass-Fleßenkämper