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Die Lust der virtuellen Täuschung

von Michael Förtsch
Die Kunsthalle München widmet sich in ihrer aktuellen Ausstellung der Kunst, die Menschen täuschen und in die Irre führen soll. Darunter sind nicht nur clevere Trickgemälde und Fälschungen, sondern auch Virtual-Reality-Erlebnisse.

Zunächst wird es kurz dunkel, wenn die HTC-Vive-VR-Brille über die Augen gezogen wird. Dann drückt einem einer der Assistenten einen der länglichen Vive-Controller in die Hand. Kurz darauf erscheint ein moderner Aufzug im Sichtfeld; ein Lift aus schimmernden Blechflächen und einem gebohnerten Marmorboden. Der Museumsbesucher kann sich darin umschauen, nach oben, unten blicken und ihn inspizieren. Einladend sitzt ein Tastenfeld rechts neben der Tür, das mit einem Ausstrecken des Controllers und einem Klick auf die vorletzte Taste aktiviert wird. Plank steht dort. Der Aufzug gibt ein kurzes Tatasch-Geräusch von sich und gleitet dann sachte hinauf.

Es geht hoch. Sehr hoch. Bis in den 80. Stock. Dort öffnet sich die Fahrstuhltür und der Blick auf eine belebte Großstadt wird frei. Kleinere und größere Wolkenkratzer ragen links und rechts in die Höhe. Ein Dunstschleier zieht langsam vorbei. Direkt zu den eigenen Füßen liegt ein Holzbrett, das direkt hinaus über die Straßenschlucht führt. Ein Schritt nach vorne und der Fuß tritt auf die Planke, die leicht knarzt und wackelt. Ein weiterer Schritt: Nun steht der Körper gänzlich auf dem schmalen Brett. Der Blick geht links und rechts weit in die Tiefe.

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Wer sich traut, versucht, mit kleinen Schritten bis ans Ende des der Holzplanke zu gelangen. Wer nicht aufpasst, seine Schritte nicht gut wählt, der stürzt hinab, sieht Fenster und Hochhäuser vorbeirauschen – bevor er aufschlägt. Wer sich nicht traut, der zieht die HTC-Vive-VR-Brille wieder vom Gesicht, woraufhin die Stadtkulisse verschwindet. Was bleibt, ist jedoch die Holzplanke, die in der realen Welt ihr haptisches und vor allem fühlbares Gegenstück hat, das in einem Nebenbaum der Kunsthalle in München liegt.

Eine alte Kunst

Das schwindelerregende VR-Erlebnis Richie’s Plank Experience ist Teil der Ausstellung Lust der Täuschung, die am 17. August eröffnet wurde. Sie soll die Welt der kunstvollen Illusionen, Maskeraden und Fakes erforschen. Denn: „Schon immer haben Künstler versucht, die Betrachter in die Irre zu führen, mit ihrer Wahrnehmung zu spielen und haben daran ihre Freude gefunden“, sagt Kuratorin Franziska Stöhr. „Aber auch die Betrachter haben Spaß daran. Eine gute Täuschung kann überraschen und verblüffen. Sie kann einen Zuschauer auch verführen, sich überzeugen zu wollen, ob und was er vor sich hat.“

Kunstwerke, die täuschen sollen, gibt es seit jeher. Bereits 400 vor Christus sollen sich zwei Maler einen Wettstreit geliefert haben. Xeuxes und Parisius. Xeuxes malte Trauben, die so echt wirkten, dass Vögel kamen, um an ihnen zu picken. „Er glaubte sich schon als Sieger und bat Parisius, doch den Vorhang an seinem Gemälde wegzuziehen“, sagt Stöhr. „Daraufhin war Parasius der klare Sieger, weil er es geschafft hat, nicht nur die Tiere, sondern auch die Menschen zu täuschen: Der Vorhang war ein Gemälde.“

Viele der Werke sind vergleichsweise klassische und analoge Illusionen. Darunter der von Claude Mellan geschaffene Kupferstich Schweißtuch der Veronika, der das Gesicht Jesus Christi zeige; eine gelungene Reliefografie von Vincent van Goghs Das Schlafzimmer und eine weitere Kopie, die ein chinesischer Maler für wenige Euro angefertigt hat. Täuschend alltäglich wirkt Robert Gobers Newspaper, ein Stapel Zeitungen, dessen Artikel aber allesamt Fake News darstellen. Irritierend erscheint hingegen das Selbstportrait von John De Andreas, für das er sich und ein nacktes Model in Lebensgröße als Skulpturen nachgebildet hat, und ein Schrank von Ferruccio Laviani, der Bildstörung-artige Schlieren zeigt, wie man sie von Videobändern kennt.

VR, die neue Illusion

Aber eben auch Virtual-Reality-Werke gehören zur sinnestäuschenden Kunst. Denn: „Es existieren durchaus Traditionslinien“ von der Malerei und Bildhauerei bis hin zu den digitalen 3D-Erlebnissen, meint Franziska Stöhr. Sie würden der Tradition der Trug- und Gaukelbilder „neue Ausdrucksformen und Möglichkeiten eröffnen, die uns als Betrachter auch neu herausfordern.“ Denn auch wenn sich die Museumsbesucher beispielsweise bewusst sind, dass der Abgrund in Richie’s Plank Experience nicht real ist oder sein kann, so bekommen einige dennoch weiche Knie; lassen sich von der visuellen und akustischen Illusion einfangen. Und von einigen, die über die Planke schreiten, ist gar ein erschrockenes "Waaah!" zu hören.

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Anders ist es in Chalkroom, einem Werk der der US-Künstlerin Laurie Anderson und des Mediendesigners Hsin-Chien Huang, das schon auf der letztjährigen Biennale Venedig für Staunen sorgte. Die VR-Erfahrung zieht den Betrachter in eine schwarz-weiße Welt, die über und über mit Worten, Zeichnungen und Geschichten bestückt ist. Die Besucher fliegen herum, gleiten an einem gigantischen Baum entlang, während kalkweiße Buchstaben um sie herumschwirren. Sie landen in einem Raum, der frei erkundet werden kann, heben wieder ab und treiben weiter. Es lassen sich Zitate, Gedanken und Anekdoten entdecken, was beinahe glauben lässt, sich im kollektiven Bewusstsein von Hunderten oder gar Tausenden Menschen zu befinden.

Nicht interaktiv aber aber sicherlich nicht weniger beeindruckend ist Chris Milks VR-Kurzfilm Evolution of Verse, den die Museumsbesucher mit einer Oculus Go auf dem Kopf durchleben. Als Reminiszenz auf den ebenso in der Ausstellung zusehenden Ur-Film Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat der Gebrüder Lumière, rast auch hier ein Zug auf die Betrachter zu. Dann jedoch trägt es den Zuschauer begleitet von monumentalen Musikklängen in die Höhe, wo er in ein Gewirr aus Synapsen und in eine Fruchtblase eintaucht. Epochal und kunstvoll.

Es hätte sicherlich noch einige weitere Virtual-Reality-Erfahrungen gegeben, die ebenso oder vielleicht sogar noch besser in die Münchner Ausstellung gepasst und deren Vielfältigkeit erweitert hätten: Don't Let Go!, White Room: 02B3, Colosse, Kingspray Graffiti VR, The Climb, Tilt Brush oder Notes on Blindness zum Beispiel. Dennoch stellt die Lust der Täuschung auch so gekonnt die klassische und digitale Kunst gegenüber; lässt fragen, wo vielleicht die zeit- und medien- übergreifende Gemeinsamkeiten und Analogien zu finden sind. Aber vor allem bekräftigt die Lust der Täuschung, welch künstlerisches Potential die Virtual Reality in sich trägt.

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