Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Machines Of Loving Grace / Wie wir die Maschinen-Utopie erreichen können

von Jürgen Geuter
In den vergangenen neun Monaten be- und durchleuchtete Jürgen Geuter in seiner WIRED-Kolumne verschiedene Arten von Algorithmen. Er erklärte, wie Softwaresysteme funktionieren, und hinterfragte, wie wir über sie diskutieren. In seiner letzten Kolumnenfolge erörtert er, wie wir die Utopie der „Machines Of Loving Grace“ erreichen können, in der Mensch und Maschine miteinander alt werden.

Dem ehemaligen Chef des US-Patentamtes Charles Duell wird (wahrscheinlich fälschlicherweise) der Ausspruch zugeschrieben: „Es gibt nichts Neues mehr. Alles, was man erfinden kann, ist schon erfunden worden.“ Diese für seinen Job etwas ungewöhnliche Aussage soll er 1899 gemacht haben. Duell hat nicht nur nicht Recht behalten, sondern lag ganz offensichtlich komplett daneben. Eigentlich nichts, über das hier bei WIRED geschrieben wird, existierte 1899 schon.

Das meiste war nicht einmal denkbar. Wie hätte man Ende des 19. Jahrhunderts über portable, global vernetzte Taschencomputer (Smartphones) nachdenken können, wo doch selbst eine der frühen Vorstufen — das Telefon — in einem internen Paper der Western Union von 1876 folgendermaßen charakterisiert wurde: „Das Telefon hat zu viele ernsthaft zu bedenkende Mängel für ein Kommunikationsmittel. Das Gerät ist von Natur aus von keinem Wert für uns.“

Die Geschichte der Vorhersagen über die kommende technische Entwicklung ist eine Geschichte der in der Rückbetrachtung ins Absurde abdriftenden Fehlprognosen: „Es gibt einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer“, sagte beispielsweise der IBM-Chef Thomas Watson 1943.

I like to think (it has to be!) of a cybernetic ecology ...

Vorhersagen über die Technologie der Zukunft und ihre Einbettung sind schwierig. Nicht nur, weil man spontane, explosive Entwicklungssprünge schlicht nicht vorhersagen kann, sondern weil neue Technologien immer ein Ausdruck der Wünsche, Ziele und Ideale der Gesellschaft sind, die sie hervorbringt. Die Welt und das menschliche Zusammenleben von 1899 lassen sich kaum mit unserer heutigen modernen Welt zusammenbringen.

Viele gravierende, technologieinduzierter Veränderungen brauen sich gerade über unseren Köpfen zusammen. Die ersten Konsequenzen können wir schon in vielen Bereichen sehen: Software frisst die Welt. Eigentlich nicht wirklich „die Welt“ sondern eher ihre politischen und sozialen Strukturen.

Ein Beförderungsdienst namens Uber, der keine Autos besitzt oder Fahrerinnen und Fahrer angestellt hat, treibt die Taxiunternehmen vor sich her. Ein Unterkunftvermittlungsdienst namens AirBnB, der nahezu keine Immobilien besitzt, verbreitet Angst und Schrecken im Hotelgewerbe. Eine Internet-Suchmaschine weitgehend ohne redaktionelle Angebote ist der Angstgegner vieler Journalistinnen und Journalisten. Die Liste lässt sich lange fortsetzen und wird in den nächsten Jahren immer länger werden.

... where we are free of our labors and joined back to nature ...

Wir sprechen bei der Entwicklung von Software von Modellierung: Ein Problem und der für das Problem relevante Ausschnitt der Welt werden in einem strukturierten und umsetzungsorientierten Modell zusammengefasst und gelöst. Mit diesem Ergebnis wird dann das Ursprungsproblem aus der Welt geschafft. So zumindest die Theorie. In der Praxis nehmen wir zunehmend eine Verschiebung wahr. „Software frisst die Welt“ bedeutet auch, dass die normative Kraft des Softwaremodells zunimmt: Ist dein Name echt, wenn Facebook ihn nicht als Wahrheit akzeptiert?

Das gesellschaftliche Bild von Software (und Technologie im Allgemeinen) ist oft das der kreativen, bunten Startups oder der perfekt gestalteten Produkte großer globaler Unternehmen: Software ist irgendwas zwischen Kickern auf der Arbeit, Mate, T-Shirts mit bunten Aufdrucken und dem neuen iPhone oder Tesla-Auto. Aber eigentlich müssen wir uns Software vorstellen wie eine sehr schnelle (und nicht unbedingt effiziente) Bürokratie. Die Formulare sind nur manchmal etwas bunter als auf dem Amt.

... returned to our mammal brothers and sisters ...

Die Softwaresysteme, in denen wir leben und die unsere Leben zunehmend strukturieren, definieren die Grenzen des Möglichen, die Strukturen des Umgangs und die Anreizsysteme, die unser Verhalten beeinflussen sollen. Software frisst die Welt nicht, sondern baut sie um, macht sie sich zugängig. Und weil Softwaresysteme eben keine Unschärfen und Konfusion mögen, pressen wir die Welt in die Boxen, die Software uns bereitstellt. Wird schon passen. Und mal ehrlich, wie kompliziert können zum Beispiel Namen schon sein?

Die technologische Entwicklung wird nicht stehenbleiben. Sie wird nicht pausieren oder auch nur langsamer werden. Sie wird immer neue Dienste, Geräte und damit auch neue soziale Kontexte und Normen hervorbringen, und das wahrscheinlich mit eher noch steigendern Geschwindigkeit. Und die Gesellschaft, die Öffentlichkeit, der Gesetzgeber und wir alle müssen darauf reagieren. Müssen diskutieren, wo wir Grenzen ziehen wollen und müssen, welche technischen Innovationen wir auf welche Art und Weise umarmen und fördern wollen und welche wir bremsen oder vielleicht sogar verbieten wollen.

... and all watched over by machines of loving grace.

Richard Brautigan

Eine ziemlich massive Aufgabe, bei der wir allerdings nicht vergessen dürfen, das Ganze im Blick zu behalten. Das Einzige, was vielleicht noch schneller ist als technologische Entwicklung, ist die Reaktion darauf. Der Ruf nach Verboten von Datenbrillen, Sexrobotern, Browsercookies oder Kindern etwa, die ihre Welt im eigenen Channel auf YouTube beschreiben.

Diese Rufe nach aktiver Regulierung haben oft einen nur allzu nachvollziehbaren und legitimen Anlass, verpuffen aber in der Wirkungslosigkeit, weil ihnen die technologische Realität schlicht wegrennt: Die Datenbrille, die man heute mühsam verboten hat, ist morgen schon miniaturisiert im zukünftigen Wearable aufgegangen und erfordert wieder neue Regulierung. Also beginnt alles von vorn.

Die größte Schwierigkeit im Umgang mit der zunehmend digitalisierten Realität ist es, die unterschiedlichen Sphären unseres Lebens möglichst konsitent — also widerspruchsfrei — miteinander in Einklang zu bringen. Regeln aufzustellen und durchzusetzen, die die Digitalsphäre und die analoge Welt gleichwertig und nach denselben Prinzipen gestalten. Und dazu ist es meist notwendig, sich von den Details der Umsetzung einer Technologie zu lösen und sie genereller in ihrer Wirkung auf unser soziales Leben zu betrachten. So kann man sich jahrelang darüber streiten, wie die Cookie-Warnungen, die eingeblendet werden sollen, genau aussehen müssen, ohne dabei mehr zu tun als Menschen darauf zu trainieren noch schneller OK-Knöpfe zu finden und ohne Lesen des Textes wegzuklicken.

Die Gestaltung des Einsatzes von Technologie, des Raumes und der Aufgaben, den und die wir Algorithmensystemen geben, ist nicht nur eine Aufgabe für alle, die Programmieren können. Und es müssen auch nicht alle Menschen zu Programmierenden werden, als wäre das die eine Fähigkeit, die über allen anderen steht. Notwendig ist ein Verständnis von Technologie als Ausdruck menschlichen Wollens und eine abstrakte Idee davon, wie Algorithmen die Welt sehen und als soziale Akteure mitgestalten.

In den vergangenen neun Monaten hatte ich das besondere Privileg, an dieser Stelle viele unterschiedliche Algorithmenklassen beleuchten und einordnen zu dürfen. Ich hoffe, dass ich damit ein wenig zum besseren Verständnis des Wirkens von Softwaresystemen und zu einer etwas nachhaltigeren öffentlichen Debatte über Technologie beitragen konnte. Der Titel dieser Kolumne war „Machines Of Loving Grace“ und stammt aus dem gleichnamigen Gedicht von Richard Brautigan. Er spielt damit auf eine Welt an, in der Maschinen uns Menschen von lästiger Arbeit befreien und uns so den Raum und die Freiheit geben, miteinander ein besseres Leben zu führen.

Ein Traum. Eine Utopie. Aber eine, auf die wir uns zubewegen können, wenn wir bewusster mit den wundervollen, mächtigen, beeindruckenden und machmal auch gefährlichen Technologien um uns herum umzugehen lernen.

In seiner vorletzten Kolumnenfolge erklärte Jürgen Geuter, warum es ein Problem ist, Algorithmen quasi-religiös zu betrachten

GQ Empfiehlt