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Warum Deutsche die Digitalisierung skeptisch sehen und Chinesen darauf hoffen

von Katja Scherer
Viele Menschen in Deutschland haben keine Lust auf die Digitalisierung. Sie stehen neuen Technologien deutlich skeptisch gegenüber als die Bevölkerung in anderen Ländern. Das zeigt eine neue Studie des Vodafone Instituts. Im Interview mit WIRED erklärt Inger Paus, die Chefin des Instituts, nicht nur, warum das so ist. Sie warnt auch: Wer Angst vor der Zukunft hat, kann sie nicht gestalten.

Nur knapp die Hälfte der deutschen Bevölkerung steht der Digitalisierung positiv gegenüber. Das hat das Meinungsforschungsinstitut Ipsos im Auftrag des Vodafone Instituts bei einer Online-Befragung von 9.000 Menschen in neun Ländern festgestellt. 37 Prozent der Deutschen blicken neutral auf den digitalen Wandel, zwölf Prozent lehnen ihn ab.

Die Menschen machen sich Sorgen, dass durch neue Technologien soziale Verantwortung und zwischenmenschliche Kontakte abnehmen, während gleichzeitig die Ausgrenzung bestimmter Personengruppen und die Vermögensungleichheit zunehmen. Zum Vergleich: In Ländern wie China und Indien erwarten die Befragten genau das Gegenteil. Dort begrüßen über 80 Prozent den Einsatz neuer Technologien, Gegner gibt es nahezu keine. Warum ist das so? Darüber hat WIRED mit Inger Paus, der Chefin des Vodafone Instituts, gesprochen.

WIRED: Frau Paus, die „German Angst“ ist weltweit berüchtigt – und kommt offenbar in Sachen Digitalisierung voll zum Tragen. Warum jagt uns neue Technologie so viel Angst ein?

Inger Paus: Deutschland gehört unserer Umfrage zufolge tatsächlich zu den Ländern, in denen der digitale Wandel am skeptischsten betrachtet wird. Allerdings muss man sagen, dass diese Angst nicht allein ein deutsches Phänomen ist. Es gibt allgemein einen großen Unterschied zwischen so genannten Schwellenländern und Industrienationen. Während in China, Indien, aber auch Bulgarien jeweils rund 80 Prozent der Menschen glauben, dass die Digitalisierung ihnen mehr Wohlstand und Lebensqualität bringt, sehen Deutsche diese Dinge eher bedroht. Und in Großbritannien sind die Vorbehalte sogar noch stärker. Wie Digitalisierung wahrgenommen wird, hängt also stark vom Ausgangspunkt ab.

WIRED: Gibt es dafür konkrete Beispiele?

Paus: Ja, etwa im Bereich Tele-Medizin. In China und Indien ist die medizinische Versorgung vielerorts mangelhaft. Viele Menschen müssen lange Reisen auf sich nehmen, um überhaupt in die Nähe eines Arztes zu gelangen. Daher finden es 44 Prozent der Menschen gut, wenn ihnen Ärzte über Videochats Ferndiagnosen stellen. In Deutschland ist das anders, dort wollen das nur zwölf Prozent der Befragten. Hier ist man daran gewohnt, einen Arzt direkt vor der Haustür zu haben. Wenn das nun in einigen ländlichen Regionen nicht mehr gegeben ist und stattdessen nur noch Tele-Behandlungen möglich sind, empfinden die Menschen das natürlich als Verschlechterung.

Ähnliche Unterschiede zeigen sich in der Umfrage auch im Bereich Bio-Tech. Knapp ein Drittel der befragten Menschen in China würde seine DNA modifizieren lassen, um weniger anfällig für Krankheiten zu sein. In Deutschland kommt das nur für neun Prozent der Befragten in Betracht. Ein weiterer Unterschied: Während in China und Indien jeweils über 60 Prozent glauben, dass die Digitalisierung dazu beiträgt, ältere Menschen mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen, glauben das in Deutschland nur 31 Prozent der Menschen. Dennoch sehen auch deutsche Studienteilnehmer manche Vorteile im digitalen Wandel: Sie gehen davon aus, dass neue Technologien Ressourcen schonen und die Mobilität verbessern können sowie Maschinen präziser arbeiten lassen.

WIRED: Dennoch gibt es Industriestaaten wie die USA, die der Digitalisierung deutlich positiver gegenüberstehen…

Paus: Das täuscht. In Deutschland werden die USA oft mit dem Silicon Valley gleichgesetzt – dabei gibt es eine große Kluft zwischen den Valley-Gründern und dem Rest der amerikanischen Bevölkerung. Unsere Studie zeigt, dass auch in Amerika viele Menschen Angst haben, wenn auch etwas weniger als in Deutschland. Interessant ist übrigens auch, dass sich in Industriestaaten Frauen im Schnitt mehr Sorgen machen als Männer. In Schwellenländern gibt es diese Unterschiede nicht.

WIRED: Wie erklären Sie das?

Paus: Um das zu wissen, brauchen wir weitere Studien. Meine Vermutung ist, dass Frauen in westlichen Gesellschaften bisher meist weniger technikaffin erzogen wurden und sich generell mehr Gedanken über die sozialen Folgen von gesellschaftlichen Veränderungen machen.

WIRED: Und die werden nicht ausbleiben. Einige Ökonomen befürchten, dass es durch die Digitalisierung zu einer stärkeren sozialen Spaltung kommen könnte: Gut gebildete Menschen bekommen gut bezahlte Jobs, für alle anderen wird es schwierig. Ist das nicht Grund genug, ängstlich zu sein?

Paus: Wir müssen die Sorgen der Menschen ernst nehmen und sie beim digitalen Wandel mitnehmen. Die Angst vor neuen Technologien darf unsere Gesellschaft nicht lähmen. Wir können den Status quo nicht aufrechterhalten, auch wenn sich das einige wünschen. Stattdessen müssen wir überlegen, wie sich der digitale Wandel mitgestalten lässt. Sonst kann es uns tatsächlich passieren, dass Staaten wie China uns mittelfristig abhängen.

WIRED: China treibt die Digitalisierung stärker voran als kaum ein anderes Land – allerdings zu einem hohen Preis: Datenschutz gibt es dort kaum. Sollten wir uns daran wirklich ein Beispiel nehmen?

Paus: Nein. Ich denke, es gibt in Europa einen breiten Konsens darüber, dass der chinesische Weg nicht der unsere sein kann, dass wir andere Standards brauchen. Daher ist es auch gut und wichtig, dass es in Politik und Wirtschaft derzeit eine breite Debatte darüber gibt, wie etwa Künstliche Intelligenz künftig zum Einsatz kommen soll und welche Grenzen es gibt. Nur wenn unsere Politiker den digitalen Wandel nach eigenen Werten gestalten, werden sie die Menschen überzeugen können, diesen Weg mitzugehen.

WIRED: Das klingt schön – hat in der Vergangenheit aber längst nicht immer geklappt. Unternehmen wie Facebook & Co. wurden lange Zeit kaum reguliert.

Paus: Da gab es sicherlich Versäumnisse, die zur Verunsicherung in der deutschen Bevölkerung beigetragen haben. Für die Bürger sah es so aus, als käme die Politik den Technologiekonzernen nicht mehr bei. Das ändert sich derzeit: Die Wettbewerbsstrafe, die die EU im Juli gegen Google verhängt hat, haben viele als starkes Signal gesehen. Die Politik muss präsenter werden, damit die Bürger nicht das Gefühl haben, von der Digitalisierung überrollt zu werden.

WIRED: Es ist schon viel Vertrauen verloren gegangen. Was muss die Politik tun, um wieder mehr Menschen für den digitalen Wandel zu begeistern?

Paus: Da gibt es verschiedene Ansatzpunkte. Wichtig ist, dass wir mehr wissenschaftliche Daten bekommen. Wie verändert sich die Arbeitswelt durch Algorithmen? Welche Jobs sind betroffen? Solche Aspekte müssen wir besser erforschen – nur dann lässt sich eine ehrliche, faktenorientierte Debatte führen. Außerdem müssen wir die Diskussion konkretisieren.

WIRED: Inwiefern?

Paus: Im politischen Diskurs ist oft abstrakt von Digitalisierung die Rede. Politiker sollten lieber konkret werden: Wie kann Technologie in der Bildung oder der öffentlichen Verwaltung zum Einsatz kommen? Welche Vorteile und Risiken bringt das mit sich? An dieser Stelle sind auch Unternehmen in der Pflicht, ihre technologischen Prozesse anschaulicher zu erklären. Viele Menschen haben Angst vor der Digitalisierung, weil sie nicht genau verstehen, was auf sie zukommt. Ein Beispiel: Umfragen zeigen, dass sich viele Menschen vor Cyberkriminalität fürchten. Gleichzeitig unterlassen sie oft selbst einfachste Sicherheitsmaßnahmen, um ihre Daten zu schützen. Politik und Unternehmen müssen also besser aufklären und auch für ein neues Storytelling sorgen…

WIRED: Also eine Art Gehirnwäsche, die uns glauben macht, dass eigentlich alles gar nicht so schlimm ist?

Paus: Nein, keine Gehirnwäsche, eher ein Perspektivwechsel. Wenn man zum Beispiel über Smartphones redet, kann man beklagen, dass immer weniger Menschen Briefe schreiben. Man kann sich aber auch freuen, dass es heute so einfach ist, Fotos zu verschicken. Technologie ist nie per se gut oder schlecht. Die Frage ist, wie man sie einsetzt. Oder ein anderes Beispiel: In China gilt Jack Ma, der Gründer des Online-Händlers Alibaba, als Superstar. Wir brauchen auch in Europa mehr digitale Superstars als Vorbilder.

WIRED: Wenn mein Job künftig von einem Algorithmus erledigt wird, hilft mir das wenig…

Paus: Klar, es wird im digitalen Wandel auch Menschen geben, die es nicht leicht haben. Diese Menschen dürfen nicht allein gelassen werden. Wir brauchen noch viel mehr Weiterbildungsangebote, damit jeder die Chance hat, von den Veränderungen zu profitieren. Gerade bei kleinen und mittleren Firmen passiert da oft noch zu wenig. Gleichzeitig braucht es aber auch ein Umdenken und mehr Eigeninitiative bei den Menschen selbst: Lebenslanges Lernen ist heute der Standard – das haben viele noch nicht verinnerlicht.

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