Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Sebastian Thrun macht lebenslanges Lernen zum Erlebnis

von Karsten Lemm
Sebastian Thrun hat Autos das Selbstfahren beigebracht und Googles Zukunftslabor geleitet. Nun will der Gründer der Online-Uni Udacity uns dafür begeistern, immer weiter zu lernen – damit wir morgen noch Jobs finden. Immer wieder neu.

Dieser Artikel erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im Oktober 2016. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

„Keine Angst, das tut nicht weh.“ Mama sagt das, bevor sie das Pflas­ter abreißt. Der Arzt, ehe er die Nadel ansetzt. Und jetzt dieser freundliche Herr in seinem kalifornischen Büro, der erklärt, warum die Zukunft wenig mit uns anfangen kann, es sei denn, wir bleiben in Bewegung und wagen öfter mal etwas Neues. „Technologie macht so unfassbar schnelle Fortschritte“, sagt Sebastian Thrun. „Wenn wir stillstehen, werden wir zurückgelassen.“ Zum Glück gibt es ein Gegenmittel, ein ganz simples eigentlich: „Lernen muss eine Aufgabe für das ganze Leben werden“, sagt ­Thrun. „So alltäglich wie Zähneputzen oder Duschen, weil eine einzige Ausbildung einfach nicht mehr ausreicht.“

Er lächelt. Keine Angst, das tut nicht weh. Es macht sogar Spaß. Ver­sprochen! Stillstehen ist Sebastian ­Thrun fremd. Mit gerade 49 Jahren arbeitet er an seiner dritten Karriere. Als Stanford-Professor leitete er das Team, das 2005 zum ersten Mal erfolgreich einem Auto das Fahren ohne Fahrer beibrachte – ein Meilenstein auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. Anschließend wechselte er zu Google, wo er beim Aufbau von Street View half, das Zukunftslabor Google X leitete und die Entwicklung der Google Cars vorantrieb.

Bis er beschloss, alles, was er erreicht hatte, aufzugeben, um eine eigene Hochschule aufzubauen. Eine, die Wissen vermittelt, wie es dem Digitalzeitalter gerecht wird – losgelöst von Zeit und Raum, mit Kursen aus dem Internet, die es Menschen erlauben, auf eigene Art zu lernen: wo sie möchten, wie sie möchten, wann sie möchten.

Es gibt sehr, sehr viele Menschen, die hochbegabt und hoch engagiert sind, aber im Moment nicht in dieses System passen

Sebastian Thrun

Den Ausschlag für seinen radikalen Karriereschwenk gab ein Experiment: Als ­Thrun 2011 versuchsweise einen seiner Stanford-­Kurse ins Internet stellte, zählte er nach kurzer Zeit mehr als 160.000 Teilnehmer aus aller Welt – und beim Abschluss landete der beste Student, der tatsächlich an der Elite-­Uni­ver­si­­tät eingeschrieben war, auf Platz 413. Für ­Thrun ein klares Zeichen, „dass es sehr, sehr viele Menschen gibt, die hochbegabt und hoch engagiert sind, aber im Moment nicht in dieses System passen“.

Thrun ist ein schmaler, drahtiger Mann mit der Figur des passionierten Rennradfahrers und Langstreckenläufers – die hohe Stirn von der kalifornischen Sonne gebräunt, das Englisch noch von der Kindheit in Deutschland gefärbt, auch nach über 20 Jahren in Amerika. Sein Schreibtisch steht im dritten Stock eines unscheinbaren Betonbaus in Mountain View, dem Herzen des Silicon Valley.

Hier will Thrun zeigen, dass erfolgreiches Lernen keine Hörsäle braucht und keine physische Anwesenheit, sondern nur packende Inhalte und begeisterte Studenten.Vor dem Gebäude kann man gelegentlich Google Cars dabei beob­achten, wie sie vorsichtig durch den Verkehr auf dem El Camino Real navigieren, ohne dass ein Mensch am Steuer sitzt. Im Büro hocken junge Menschen vor Flachbildschirmen und entwerfen Lehrpläne, schneiden Videos oder programmieren Webseiten für neue Kurse.

Udacity nannte Thrun seine Firma, eine Mischung aus university und audacity – Verwegenheit. Verwegen, weil es beim Start 2011 noch unerhört war, zu behaupten, dass Unterricht aus dem Internet für ernsthaftes Lernen taugen könnte. Und verwegen, weil Thrun von Anfang an Größeres im Sinn hatte, als einfach nur ein erfolgreiches Start­­up aufzubauen. „Das Wichtige an Udacity ist für mich“, sagt er, „dass es von all dem, was ich in meinem Leben gemacht habe, vielleicht den größten Einfluss auf die Menschheit haben könnte.“

+++ Mehr von WIRED regelmäßig ins Postfach? Hier für den Newsletter anmelden +++

Thrun spricht hastig, mit der Ungeduld eines Mannes, dem ein durchschnittliches Menschenleben nicht ausreicht für alles, was er vorhat. Aber er wird nie laut, trägt selbst seine größten Ambitionen mit der Zurückhaltung des Computerwissenschaftlers vor, der nun Unternehmer ist, aber weiter in Wenn-dann-Gleichungen denkt.

„Ich bin überzeugt davon“, sagt Thrun, „wenn wir Hunderte von Millionen Menschen erreichen, können wir einen enormen Impact haben.“ Man stelle sich vor, Firmen in allen Ländern, die verzweifelt Web-Entwickler, Programmierer oder Mathematiker suchen, hätten endlich all die hoch qualifizierten Mitarbeiter, die sie brauchen – wäre es dann nicht logisch, dass am Ende auch alle davon profitieren?

Wir wollen das eine Unternehmen sein, das den Wohlstand der Welt verdoppelt

Sebastian Thrun

„Wir wollen das eine Unternehmen sein“, sagt Thrun, „das den Wohlstand der Welt verdoppelt.“ Er lächelt wieder, so als wolle er dem Satz das Hochmütige nehmen, das bei solchen Ambitionen notgedrungen mitschwingt. Thrun ist kein Aufschneider, im Gegenteil. Doch Erfolg, das weiß er von seinen vielen Freunden aus dem Silicon Valley, verlangt immer eine Mischung aus Demut und Arroganz. Demut, weil alle, die zu sehr von sich überzeugt sind, scheitern werden – und Arroganz, weil man sonst gar nicht anfangen müsste: „Wer zu bescheiden ist“, sagt Thrun, „wird nie nach den Sternen greifen.“

Er hat immer schon nach den Sternen gegriffen. Als kleiner Junge in Hildesheim hörte er im Radio vom Silicon Valley und träumte davon, selbst einmal dort zu leben. Er baute Roboter aus Fischertechnik, bis ihn die Begeisterung für Computer packte, so sehr, dass er Tag für Tag nach der Schule in den Quelle-Laden pilgerte, der einen Com­modore C64 hatte, um die Sprache der Maschinen zu erlernen. Im Studium erfand er Roboter, die als Museumsführer und Altenpfleger taugten. Einer von ihnen schaffte es bis in die berühmte Smithsonian-Institution in Washington.

Tom Mitchell erinnert sich gut an die Unterhaltungen mit dem außergewöhnlichen Mitarbeiter, der Mitte der 1990er-Jahre als Postdoc in sein Labor an der Carnegie-­Mellon-Universität in Pitts­burgh kam. „Wir haben oft darüber diskutiert, welche Probleme es wirklich wert sind, dass man Zeit auf sie verwendet“, sagt der Computerwissenschaftler. „Sebastian war immer auf der Suche nach Dingen, die die Welt verändern könnten.“

So reichte es Thrun dann nicht, eine Lebensstelle an der renommierten Stanford-Universität zu bekommen. Und es reichte ihm auch nicht, bei Google die Moonshot-Projekte voranzutreiben: Kontaktlinsen, die Zuckerwerte von Diabetikern messen, oder Gasballons, die in der Stratosphäre schweben und das Internet zur Erde funken. Je mehr er selber daran arbeitete, Science-Fiction-Projekte Wirklichkeit werden zu lassen, umso klarer wurde ihm, dass Menschen sich ähnlich schnell weiterentwickeln müssen, wie Technologie es tut.

„Es gibt inzwischen viele Sektoren, in denen Computer besser sind als der Mensch“, sagt Thrun. „Und das ist erst der Anfang.“ Aufgaben, die ein klares Muster zeigen, lassen sich mit künstlicher Intelligenz immer leichter automatisieren. Mit dem gro­ßen Vorteil, dass das Wissen der Maschinen übertragbar ist: „Wenn ein menschlicher Autofahrer einen Fehler macht, dann lernt er oder sie hoffentlich davon – aber kein anderer“, erklärt Thrun. „Wenn ein Computerauto einen Fehler macht, lernen alle Autos und werden den Fehler vermeiden. Inklusive all der ungeborenen Autos. Und damit hat der Computer eigentlich die Überhand in der Lerngeschwindigkeit über den Menschen.“

Das kann man pessimistisch sehen – Hilfe, die Roboter kommen! – oder optimistisch: Es wird sich immer etwas Neues finden, um Men­schen zu beschäftigen, so wie früher auch schon, als Traktoren anfingen, Feldarbeiter zu ersetzen, oder Schaltzentralen Telefonisten verdrängten. „Genauso schwer, wie es vor hundert Jahren war, den Softwareentwickler vorherzusagen, ist es heute, vorherzusagen, welche neuen Jobs entstehen werden“, sagt Thrun. Er ist optimis­tisch, dass es genügend neue Aufgaben geben wird, aber er weiß auch: Wer mithalten will, muss beweglich bleiben.

„Achtung, Aufnahme!“ warnen Schilder in der Udacity-Zentrale, wenn Ruhe gebraucht wird für eine aktuelle Produktion: Tutoren stehen vor der Kamera und sprechen ihre Texte für Erklärfilme auf. Die Videos sind kurz und wechseln sich mit Übungen ab – Lernen durch Mitmachen lautet das Udacity-Konzept. Es gibt keine Semester und keine Zwischenprüfung, jeder bestimmt sein eigenes Tempo. „Manchmal“, erzählt Thrun, „beobachten wir, dass unsere Studenten das gleiche Video 30-mal anschauen.“

Kein Problem, das wird schon. Nur kein Druck. Denn Udacity soll vor allem eines: Spaß machen und auch am Ende eines langen Arbeitstages die Neugierde wach halten. Dazu muss das Angebot verlocken­der sein als Facebook, die jüngste Folge von Game Of Thrones oder eine Partie Tomb Raider. „Was bei uns herauskommt, ist Lernen in ganz kleinen Episoden“, sagt Thrun. „Ich habe diese Vision, dass wir alle so abhängig davon werden, wie manche von uns vom Videospielen abhängig sind.“

Lebenslanges Lernen hilft uns bei dem, was wir alle künftig tun müssen: pausenlos in die Zukunft fliehen

Paul Saffo, Innovationsforscher

Er weiß, das ist wieder groß geträumt – aber das rasante Wachstum der Firma zeigt, dass viele Menschen hungrig sind auf solch ein Konzept. Mehr als vier Millionen registrierte Nutzer zählt Udacity inzwischen, über 100 000 schauen mindestens einmal in der Woche vorbei, um Software-Design zu lernen, Mathe-Kenntnisse aufzufrischen oder in die Grundlagen der Virtual Reality einzusteigen.

Wissenschaft und Technik dominieren das Kursangebot. Später sollen weitere Fächer dazukommen, doch fürs Erste konzentriert sich Udacity auf die Nöte der Digitalwirtschaft: „Fast alle wichtigen Technologien von heute – Smartphones, soziale Netzwerke, Cybersecurity – gab es vor zehn Jahren noch gar nicht“, sagt Thrun. Sie werden also, wenn überhaupt, nur selten gelehrt. Mit dem Resultat, dass viele Absolventen mit veraltetem Wissen in den Beruf starten.

Thruns Lösung sind Kurse, die Unternehmen wie Google, Facebook oder Salesforce selbst gestalten. Erfolgreiche Teilnehmer erhalten am Ende den hauseigenen Nanodegree. Nur solche Lehrgänge kosten Geld, alle anderen sind gratis. 200 Euro im Monat verlangt Udacity für eine Nanodegree-Ausbildung und verspricht als Lernanreiz, nach Abschluss die Hälfte zu erstatten.

Hinter jedem Nanodegree steht für Absolventen die Aussicht, leichter eine Anstellung zu finden, weil sie genau die Fähigkeiten mitbringen, die Arbeitgeber suchen – die Unternehmen haben die Kurse ja selbst gestaltet. Für einige Gebiete mit besonders starker Nachfrage wagt Udacity sogar eine Jobgarantie: Wer innerhalb von sechs Monaten nach Abschluss keine Stelle findet, darf sein Geld zurückverlangen.

Nanodegrees sind eine Reak­tion darauf, dass die Welt nicht so schnell in die Zukunft mitkommen wollte, wie Thrun es sich vorgestellt hatte. Viele Unis sperrten sich gegen eine Zusammenarbeit, und die frühe Begeisterung für Lernen im Internet wich der ernüchternden Erkenntnis, dass es nicht genügt, Vorlesungen abzufilmen und sie auf YouTube hochzuladen.

Dabei war Thrun zunächst zum gefeierten Vorreiter einer neuen Bewegung geworden. Der Erfolg seiner Online-Vorlesung 2011 schien zu bestätigen, dass nun auch der Bildungssektor reif war für einen Umbruch von ähnlicher Tragweite, wie ihn Musikindustrie, Zeitungen oder das Fernsehen bereits erlebt hatten. Ob Udacity, Coursera, edX oder Iversity – in kürzester Zeit wimmelte es von Startups, die mit digitalen Bildungsangeboten ein neues Zeitalter der Aufklärung einläuten wollten. Als Begriff für das Phänomen bürgerte sich MOOCs ein – die Abkürzung für Massive Open Online Classes.

Angelockt von Gratisangeboten, meldeten sich Neugierige zu Hunderttausenden für Kurse aus unterschiedlichsten Gebieten an. Nach wie vor aber ringen Anbieter damit, dass im Durchschnitt nur fünf Prozent der Teilnehmer bis zum Schluss durchhalten.

Prompt wurde Udacity zum Vor­zeige-­­Flop der jungen Branche erklärt. Die Schadenfreude des tra­ditionellen Bildungsbetriebs aber stand im Kontrast zum Interesse der Industrie: Unternehmen sahen in dem Newcomer den idealen Partner, um Mitarbeiter weiterzubilden. Den ersten Nanodegree stellte Udacity im Herbst 2014 gemeinsam mit dem Telekomriesen AT&T vor. Bald folg­ten Google, Facebook, Amazon und zahlreiche andere.

Thrun hatte seine Marktnische gefunden. Zwei Jahre nach dem Umschwenken auf die neue Strategie zählt Udacity mit einem Wert von mehr als einer Milliarde Dollar zu den erfolgreichsten Startups im Silicon Valley. 160 Millionen Dollar hat Thrun an Kapital eingesammelt, den größten Teil von Bertelsmann. „Wir sind fest davon überzeugt, dass digitales Lernen künftig immer wichtiger werden wird“, begründet Kay Krafft, Chef der Edu­cation Group bei dem Gütersloher Konzern, das üppige Investment. „Jobprofile verändern sich durch Automatisierung rasant, völlig neue Berufe entstehen.“

Experten haben wenig Zweifel, dass der Zwang zum lebenslangen Lernen weite Teile des Arbeitsmarkts erfassen wird. Automechaniker, die Teslas reparieren sollen, müssen heute schon mehr über Batterien wissen als Generationen ihrer Vorgänger, und Elektroinstallateure, die von Bluetooth nichts verstehen, haben bei Smart Homes einen schweren Stand.

Schon 2020, schätzt der Marktforscher Research and Markets, könnte das Geschäft mit Online-­Diensten wie Udacity weltweit fast neun Milliarden Dollar wert sein – eine Vervierfachung gegenüber 2015. Die guten Aussichten bewogen den Bertelsmann-­Konkurrenten Holtzbrinck, im August die insolvente Bildungsplattform Iversity vor dem Aus zu retten. Künftig will sich auch Iversity auf wirtschaftsnahe Weiterbildung konzentrieren.

„Lebenslanges Lernen hilft uns bei dem, was wir alle künftig tun müssen: pausenlos in die Zukunft fliehen“, erklärt Paul Saffo, ein angesehener Innovationsforscher. „Eine Karriere zu haben, ist heute ein bisschen so, wie einen Fluss zu überqueren, auf dem Eisschollen treiben: Um ans andere Ufer zu kommen, darf man sich nie auf einer Scholle ausruhen – Stabilität ergibt sich nur daraus, dass man ständig in Bewegung bleibt.“

Sehr fachhochschulmäßig, nicht mega-interaktiv, aber generell hat es mir schon geholfen

Norbert Stüken, Unternehmensberater, über einen Udacity-Kurs

Damit zerstört die Digitalrevolution das Vertrauen der Menschen in ein sicheres Auskommen, schürt Ängste, lässt die Gesellschaft an sich zweifeln. „Revolutionen sind die Pest“, sagt Saffo. Ein Zitat von H. G. Wells kommt ihm in den Sinn: „Zivilisation ist ein Wettrennen zwischen Bildung und Katastrophe.“ Wissen mildert den Schock der ewigen disruption, ist der natürliche Feind von Extremismus und Populismus. Nie wurden Universitäten mehr gebraucht als heute, und nie war so unklar, wie ihre eigene Zukunft aussieht.

„Auch Universitäten sind gerade auf Sinnsuche“, sagt Saffo. Er sitzt in einem Café auf dem Stanford-Campus und nippt an einem Mokka. Links und rechts von ihm eilen Studenten zu Vorlesungen, andere sitzen im Gras und lesen oder unterhalten sich. Liegt die wichtigste Aufgabe der Hochschule darin, ihnen Fachkenntnisse beizubringen? Orientierung zu bieten? Soziale Kontakte zu schaffen, um den Aufbau eines Netzwerks für die Karriere zu erleichtern? Sebastian Thrun gibt nicht vor, auf all das Antworten zu haben. Er betont immer wieder, dass Udacity herkömmliche Hochschulen ergänzen, nicht ersetzen solle und dass Stanford im Besonderen ihm weiterhin sehr wichtig sei. Seine Frau unterrichtet dort Kulturwissenschaften, er selbst betreut immer noch eine Reihe von Doktoranden.

Zugleich freut er sich, dass er keine Vorlesungen mehr halten muss, die sich ständig wiederholen. Seine Kurse bekommen Updates, wenn die Forschung Fortschritte macht – aber sonst „kann ich anders produktiver sein“. Den CEO-Titel gab er unlängst ab, um als Präsident längerfristige Visionen zu verfolgen. Eine Idee: Udacity will Experten für autonomes Fahren ausbilden und arbeitet mit Partnern an einem eigenen Autokonzept, das als Open-Source-Projekt aller Welt zur Verfügung stünde. Und auch international will Thrun wachsen. In China und Indien hat Udacity schon Fuß gefasst, neuerdings gibt es eine deutsche Niederlassung: die erste in Europa. Die emotionale Bindung zu seinem Heimatland, sagt Thrun, sei immer noch „sehr stark“.

Zur Eröffnung des Büros im Juni ist der Kalifornier nach Berlin gekommen. Im Gespräch mit WIRED zeigt Thrun sich zuversichtlich, bald auch deutsche Firmen zu finden, die den Nano­degree akzeptieren, und erwähnt stolz eine Initiative mit der BMW-­Stiftung: „Wir haben eintausend Stipendien geschaffen, speziell für Flüchtlinge in Deutschland“, berichtet er. „Wir glauben, sie sollten hier nicht nur sicher sein, sondern auch eine zweite Chance fürs Leben bekommen – und dazu gehört eine Ausbildung.“

Kurz darauf sitzt Thrun auf einer Bühne in der Berliner Factory und erklärt einem gut gefüllten Saal an Neugierigen, was er erreichen will. Unter seinen Zuhörern ist auch Norbert Stüken, der Udacity aus eigener Erfahrung kennt. Der ehemalige Unternehmensberater versuchte sich zunächst als Firmengründer, ehe er auf Programmieren umstieg, weil sein Internet-­Startup nicht recht vom Fleck kam. Als er bei Udacity einen Nanodegree für Web-Entwicklung entdeckte, der mit 20 Prozent Rabatt angeboten wurde, griff er zu. Den Kurs fand Stüken „sehr fachhochschulmäßig“ und „nicht mega-interaktiv“, aber doch das Geld wert: „Generell hat es mir schon geholfen“, sagt der 35-Jährige, „und vor allem hat es Spaß gemacht.“

Wie qualifizieren wir Lkw-Fahrer, die von autonomen Autos verdrängt werden?

Stefan Heumann, Geschäftsführer Stiftung Neue Verantwortung

Einen Job zu finden, war kein Problem – Softwareentwickler sind gefragt. War Stüken als Unternehmensberater in Schlips und Kragen unterwegs, geht er heute im T-Shirt und mit Flip-Flops ins Büro und freut sich, dass seine 35-­­Stun­­­den-Woche bei einer Digitalagentur noch Zeit lässt zum Weiterlernen. „Wenn ich heute nach Hause kom­me“, sagt Stüken, „mache ich noch einen Debugging-Kurs“. Fehlersu­che kann viel Zeit kosten; gut, wenn man sich da besser auskennt.

Deutschland braucht wohl mehr Menschen wie Norbert Stüken, die hoch motiviert und vielseitig an ihrer Karriere basteln – aber Stefan Heumann fürchtet, dass sie die Ausnahme sind. „Natürlich kann jeder diesen Weg für sich selber finden“, sagt der Politologe, einer der Geschäftsführer des Think-Tanks Stiftung Neue Verantwortung. Die meis­ten aber, glaubt er, werden sich darauf verlassen, dass der Arbeitgeber in Weiterbildung investiert. Selbst wenn sich das einbürgern sollte: „Ein Teil der Menschen wird das weder selber machen, noch wird sich der Arbeitgeber darum kümmern“, sagt Heumann. „Und die sind gesellschaftspolitisch brisant. Wie gehen wir mit denen um?“

Schwieriger noch werde es beim erzwungenen Karrierewechsel. „Wie qualifizieren wir Lkw-Fahrer, die von autonomen Autos verdrängt werden?“, fragt Heumann – und ist es wirklich realistisch, dass Mil­lionen Menschen immer wieder umschwenken, sich das beibringen, was der Arbeitsmarkt verlangt? „Die Idee, plötzlich Experte in einem anderen Bereich zu werden, ganz neue Kernkompetenzen aufzubauen“, sagt Heumann, „das ist für mich schwer vorstellbar.“

Sebastian Thrun kennt solche Einwände. Keine Frage, sagt er: Udacity könne „nur ein kleiner Teil des Puzzles“ sein. Und natürlich: „Wir sind nicht alle gleichermaßen begabt und werden nicht den gleichen Level im Job erreichen.“ Aber im Prinzip, da gibt es für ihn keinen Zweifel, „ist der Wunsch zum Lernen in den Menschen eingebaut“. Sieht man das nicht schon daran, wie begeistert Kinder immer wieder Neues ausprobieren, um sich die Welt zu erschließen? „Diese Energie“, sagt Thrun, „können wir das ganze Leben lang nutzen.“

Er kennt das von seinem Sohn Jasper, der sich schon mit fünf Jahren als Limonaden-Verkäufer versucht hat, und er sieht es an sich selbst. Diese Unruhe, die ihn befällt, sobald er eine Etappe gemeistert hat. Der Kick, den das Neue verspricht, über­strahlt bei ihm immer die Sorge vor Schmerzen. „Ich liebe es, von der Klippe zu springen und zu schauen, ob mir Flügel wachsen, ehe ich unten ankomme“, erzählt Thrun bei seinem Bühnenauftritt in der Factory. Natürlich landet man dabei auch mal auf dem Bauch und tut sich weh – aber „nur durch Fehler kann man lernen“.

Thrun zieht sein iPhone aus der Tasche. „Vor Kurzem habe ich einen Brainscan machen lassen“, berichtet er und zeigt ein Bild, das eigentlich alles sagt: Auf dem Display sieht man in hellen Schlangenlinien auf schwarzem Hintergrund seine Gehirnwindungen. „Da oben ist eine Lücke“, sagt Thrun und deutet auf einen dunklen Punkt über der Stirn. „Ich glaube, das ist die Zone, in der beim Menschen die Angst sitzt.“ Bei anderen Menschen jedenfalls. Bei ihm selbst: Funkstille. Ganz so, als ob sein Gehirn einfach keine Furcht kennen würde. Nun muss es ihm nur noch gelingen, den Rest von uns mitzunehmen zu diesem Punkt, an dem die Angst verschwindet.

Dieser Artikel stammt aus der Herbstausgabe 2016 des WIRED-Magazins. Weitere Themen: der Web.de-Gründer und seine Suche nach dem ewigen Leben, Künstliche Intelligenz, ein Blockchain-Krimi aus Sachsen, die Zukunft des Fliegens – und ein Punk, der uns vor der NSA schützen will.

GQ Empfiehlt