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Rollenspiele haben 2015 keine Chance mehr? „Das Schwarze Auge“ plant trotzdem sein Comeback

von Dominik Schönleben
Ein innovatives Spiel drängte in die Kinderzimmer. Es entführte Jugendliche in eine fremde Welt voller Gefahren und Abenteuer — nur mit deren Phantasie und einem zwanzigseitigen Würfel. Das war vor 30 Jahren, lange bevor jeder zu Hause per Konsole durch riesige digitale Fantasie-Welten spazieren konnte. „Das Schwarze Auge“ wurde zum dominierenden Rollenspiel in Deutschland. Doch nach der dritten Edition verschwand es aus den Spielwarenläden und wurde zum Nischenprodukt. Jetzt kommt es mit der fünften DSA-Version zurück und will die Fantasie raus aus dem Computer und zurück in unsere Köpfe bringen.

Es dämmert schon, als ihr die flackerndern Lichter der Taverne entdeckt. Hastig betritt eure Gruppe den Raum, um aus der Kälte zu entkommen. Euch weht der Geruch von Kaminfeuer, heißem Met und Schweinebraten entgegen. Aber ihr sollt heute Abend nicht zur Ruhe kommen. Kurz nachdem ihr Platz genommen habt, eilt euch ein nobel gekleideter Mann entgegen. „Zehn Silberstücke, wenn ihr mich sicher in die Kaiserstadt bringt“, stammelt er atemlos. Einer von euch will gerade anfangen zu verhandeln, als die Tür des Gasthofs auffliegt. Herein tritt Baldur Greifax, Graf von Gratenfels. Augenblicklich verstummt das Treiben in der Taverne. Eine innere Stimme sagt euch: Es ist Zeit für Heldentaten.

So oder so ähnlich begann das erste Abenteuer in der Welt des „Schwarzen Auges“. Ein Spiel aus Deutschland, das die Phantasie einer ganzen Generation geprägt hat und dessen erste Edition sich im Weihnachtsgeschäft 1984 mehr als 100.000 Mal verkaufte. Anders als bei Videospielen erzählten sich die Spieler die Geschichte selbst. Jedes Abenteuer war individuell, jeder Spieleabend neu, ein „Game Over“ gab es nicht. Die Spieler schlüpften in die Rolle von Kriegern, Magiern, Gauklern und Streunern. Sie entwickelten die Story mit Hilfe ihrer Fantasie weiter. Aus Worten auf Papier entwickelten sich improvisierte Theaterstücke, erlebbar und unberrechenbar. Als würde man zusammen ein Buch schreiben und gleich selbst die Hauptrolle übernehmen.


Das waren die glorreichen Zeiten der deutschen Rollenspiele. Doch um die Jahrtausendwende verschwanden die marmorierten Boxen mit Regelheften, Stiften, Würfeln und Landkarten aus den Spielwarenhandlungen. Der Verlag Schmidt Spiele war pleite und damit auch die treibende Kraft, die Rollenspiele in die Spielwarenabteilung gebracht hatte. Bis dahin musste jeder Händler, der „Mensch ärgere Dich nicht“ verkaufen wollte, auch „Das Schwarze Auge“ mit ins Sortiment aufnehmen.

DSA wurde schnell durch millionenschwere Tripple-A-Videospiele und das goldene Zeitalter der Brettspiele abgelöst, das 1995 mit dem deutschen Export-Geniestreich „Die Siedler von Catan“ begann.


„Das Schwarze Auge“ existierte nur noch hinter den Kulissen weiter und wurde im Lauf der Jahre immer komplexer. Es entwickelte sich zum Spiel für Nostalgiker und Regelfanatiker. Bis heute, denn nun versucht der kleine Verlag Ulisses mit dem alten Spiel den großen Wurf. DSA soll wiedergeboren werden, neue Spieler ansprechen, ohne dabei seine Hardcore-Fans zu vergraulen: „Allen kann man es nicht recht machen, aber wir wollten es sehr vielen recht machen“, sagt Rollenspiel-Autor Alex Spohr. Er steht im Epizentrum der fünften und neusten Auflage von DSA. Kann dieser Spagat gelingen? Und hat ein sogenanntes Pen&Paper-Rollenspiel wie DSA wirklich eine Chance, zurück in den Mainstream zu kommen?

Ja. Aber nur, wenn es sich ein Vorbild an deutschen Indie-Rollenspielen nimmt. Denn die machen seit Jahren vor, wie man es richtig macht. DSA muss Spieler wieder bei der Hand nehmen und ihnen zeigen, was die Faszination eines Rollenspiels ausmacht, was seine Stärken sind. Indie-Spielen wie „Aborea“ und „Splittermond“ gelingt das bereits. Anstatt Ultra-Fans zu bedienen, versuchen sie, den Nachwuchs fürs Hobby zu gewinnen. Eine Aufgabe, die eigentlich dem Genre-Patron DSA zufallen sollte, der allein schon mit seinem Namen neue Spieler ziehen könnte.

Es ist ein vernichtendes Urteil, das „Aborea“-Entwickler Sebastian Witzmann deutschen Rollenspielen ausstellt: „Sie befinden sich in einem tiefen Tal, weil sie sich selbst in eine Ecke gedrängt haben“, sagt er. Früher, als etwa 1984 die erste Version von DSA auf den Markt kam, seien die Spiele noch einfach zu lernen gewesen und Spieler hätten genug Anreiz gehabt, eigene Inhalte zu erstellen und ihre Kreativität zu benutzen. Heute sei das anders.


Rollenspiele haben sich selbst in eine Ecke gedrängt.

Sebastian Witzmann, Rollenspiel-Autor und „Aborea“-Erfinder

Die Spielwelten sind bis aufs letzte Detail beschrieben und das Regelwerk der vierten DSA-Edition könnte genauso gut der Lehrinhalt eines eigenen Bachelor-Studiengangs sein. Witzmann bezeichnet die „Sammel- und Regelwut“ der Kern-Spieler als das Hauptproblem. Eines, dass die Verlage sich selbst herangezüchtet hätten. Deshalb entwickelte der Designer sein eigenes Rollenspiel.



Witzmanns „Aborea“ richtet sich explizit an Einsteiger, Menschen ohne Zugang zum Hobby, die völlig ohne Vorkenntnisse an Rollenspiele herangehen. Das sieht man auch an der optischen Gestaltung seines Spiels. Die Box erinnert stark an jenes Format, in dem noch DSA 1 bis 3 im Spielehandel verkauft wurde — anstatt der etwas antiquierten Old-School-Fantasy-Zeichnungen von Ugurcan Yüce mit muskelbepackten Kriegern mit Schnauzbart und Flügelhelm, präsentiert sich „Aborea“ allerdings eher verspielt und märchenhaft.


Witzmann war nicht der einzige, dem der Trend in der Branche zu immer komplizierteren Regeln missfiel. Eine ganze Gruppe von ehemaligen DSA-Redakteuren machte sich deshalb unter der Führung von Jan Ulrich Lindner auf, ihr eigenes Rollenspiel zu entwickeln. Lindner schrieb seit 2005 DSA-Abenteuer, die verschiedene Szene-Preise gewannen, und war von 2009 bis 2011 Teil der DSA-Redaktion.


Bis zu diesem Moment hatten Lindner und die anderen Autoren nur die Welt anderer fortgeschrieben, jetzt wollten sie zum ersten Mal ihr eigenes Ding machen. Sie tauften ihr 2014 veröffentlichtes Rollenspiel „Splittermond“. Lindner sieht vor allem den „Phantastischen Realismus“ der DSA-Welt kritisch: „Regeln sind kein Instrument die Welt genau abzubilden, sondern ein Mittel ein Abenteuer in einer phantastischen Welt zu erleben“, sagt er. Sein „Splittermond“ ist irgendwo zwischen den simplen Regeln von „Aborea“ und dem Regelwust von „DSA 4“ angeordnet.

Worin die beiden Indie-Designer Lindner und Witzmann übereinstimmen: dass es wichtig ist, nicht jeden Millimeter einer Fanstasy-Welt zu beschreiben. Man muss den Spielern Raum für Kreativität lassen. „Das ist ein anderer Ansatz als bei DSA mit seinen sehr kleinteiligen Beschreibungen. Das spricht eine ganz andere Zielgruppe an“, sagt Lindner. Anstatt einer Gruppe von Ultra-Fans ein fiktives Zoll-System und 5000 Jahre Geopolitik zu erklären, sind die beiden sich einige, was eine Fantasy-Welt wirklich braucht: weiße Flecken, die Spieler selbst mit eigenen Geschichten und Welten füllen können.


Doch mit genau mit dem Füllen jener weißer Flecken im DSA-Universum verdiente der Ulisses-Verlag die letzten 8 Jahre sein Geld: Aus dem im Spielwarenhandel als Box mit zwei Regelheftchen und einer Landkarte verkauften Spiel, war ein Mammutwerk geworden: Allein das Grundregelwerk bestand in der vierten Edition aus vier einschüchternden DIN-A4-Bänden mit mehr als 1300 Seiten Gesamtinhalt.

Und hier hörte es nicht auf: 15 Bände mit jeweils knapp 200 Seiten beschreiben die Welt Aventuriens, der Kontinent auf dem DSA spielt. Dazu kommen zwölf weitere Bücher mit ähnlichem Umfang, die sich mit anderen Aspekten des Lebens in der fiktiven Welt beschäftigen. Darunter drei Bücher, die die Magierakademien Aventuriens beschreiben und ein 160-seitiger Band über die Handelsbeziehungen und Zollbestimmungen.

„Das Schwarze Auge“ hat sich etwas verschrieben, das seine Autoren den „Phantastischen Realismus“ nennen: eine Welt in Hintergrund und Regeln so genau zu beschreiben, dass sie nicht mehr nur Fantasiegebäude für Hobby-Eskapisten ist, sondern zur Simulation wird. Die Welt muss in in allen Aspekten stimmig und real wirken. Das sei dem Spiel selbst zum Verhängnis geworden, glaubt Witzmann. Die schiere Menge an Material überfordere die meisten Interessierten.


Ob viele Sonderregeln gut für das Gesamtkonzept waren, wage ich zu bezeifeln.

Alex Spohr, Autor von DSA 5

Die Macher von „Das Schwarze Auge“ denken mittlerweile um. Die vierte Edition erhielt jetzt von DSA-Veteran Alex Spohr nach fast 15 Jahren ein Redesign: „DSA 4 hatte sehr sehr viele Sonderregeln, die im Laufe der Zeit dazugekommen sind. Ob das für das Gesamtkonzept gut war, wage ich zu bezweifeln“, sagt Spohr, der seit 2007 auch schon aktiv an der Weiterentwicklung der vierten Edition beteiligt war.


Doch die Grundsteine des Regelsystems waren damals schon in Stein gemeißelt, die meisten Änderungen am System nur noch kosmetischer Natur. Im Laufe der Zeit habe es deshalb merkwürdige Auswüchse der Regeln geben. Selbst die Entwickler und Autoren hätten das Gesamtwerk nicht mehr überblicken können, sagt Spohr.

Zeit also für einen Neuanfang, diesmal setzt Spohr die Rahmenbedingungen: Die Spielvorbereitungen sollen nicht mehr etliche Stunden, sondern im besten Fall nur noch 30 Minuten in Anspruch nehmen. Das ist trotz der vereinfachten Regeln von DSA 5 ambitioniert und erinnert ein wenig an die kindlichen Zeiten von DSA 3, als ein neuer Charakter in 20 Minuten fertig erstellt und bereit zum Losspielen war, wenn man die Regeln kannte.


Neue Spieler werden leider nur über andere angefixt.

Uli Lindner, ehemaliger DSA-Autor und „Splittermond“-Designer

„Leider ist heute der Hauptweg, neue Spieler zu erreichen, dass sie über andere angefixt werden, die bereits Spieler sind“, beschreibt Lindner die Herausforderung als kleiner Verlag neue Kundenkreise zu erschließen. Fernsehwerbung zur Primetime für Rollenspiele wie zu Schmidt-Spiele-Zeiten ist nicht mehr drin — weder für „Splittermond“ noch für den Marktführer DSA. Deswegen entschlossen Lindner und seine Kollegen sich auch für einen radikalen Schritt: Sie verschenkten ihr Spiel als PDF.


Es ist schwer, heute ein neues Rollenspiel zu lancieren, und meist liegen die Auflagen nur bei wenigen Tausend Bücher, so dass es sich kaum lohnt. Witzmann hat von seinem Spiel „Aborea“ nur etwas mehr als 5000 Stück verkauft und bezeichnet das als großen Erfolg. Auch das Grundregelwerk von „Splittermond“ wurde, obwohl es kostenlos war, nur 9000 Mal heruntergeladen. Und selbst die Auflagen von DSA erreichten nie wieder annähernd jene der Schmidt-Spiel-Zeiten, hielten sich aber nach Aussage von Ulisses konstant auf neuem, niedrigen Niveau, Tendenz steigend. Heute druckt Ulisses nach eigenen Angaben 3000 Stück von jedem Hintergrundbuch, das die Spielwelt beschreibt. Von der erste Auflage des DSA-5-Regelwerks wurden nach Aussage von Ulisses-Chef Markus Plötz 5000 Hardcover- und 3000 Softcover-Ausgaben gedruck — und diese Bücher wurden innerhab des ersten Monats nach Verkaufsstart auch nahezu alle verkauft.

„Rollenspiele werden nie wieder das frühe Niveau erreichen — wenn nichts Außergewöhnliches passiert“, gesteht Lindner ein. Außergewöhnliche Umstände sind vielleicht aber auch zu viel verlangt. Ein besseres Image würde bereits ausreichen. Bisher hatte der Genre-Führer und Aushängeschild DSA nämlich eher als Abschreckungsmaßnahme für Neulinge und Wiedereinsteiger gegolten.

Dass selbst die entschlackte fünfte Edition von DSA noch zu viel für die meisten unbedarften Einsteiger ist, weiß auch Autor Alex Spohr. Deshalb arbeitet er bereits an „DSA Klassik“, einer vereinfachten Version des Spiels, die auch Rollenspielfremde ans Hobby heranführen soll. Doch bis zu deren Erscheinen wird es noch ein paar Jahre dauern.


Bis dahin ist der Einstieg über die Anfängerboxen von „Aborea“ oder „Splittermond“ die richtige Wahl. Obwohl das entschlackte 416-seitige Regelwerk von DSA 5 in die richtige Richtung geht, wird es die meisten Kinder und Jugendlichen eher demotivieren, nicht faszinieren, so wie es einst DSA 3 mit seinen farbigen Landkarten, stereotypischen Heldenfiguren und zwanzigseitigen Würfeln getan hat. „Aborea“-Erfinder Witzmann glaubt dennoch an die Zukunft der Rollenspiele: „Sie werden eine Renaissance erfahren, sie sind ein Spiel, das unter Wert verkauft wird.“

Update 01.10.15: Die Auflage und Verkaufszahlen von DSA 5 wurden ergänzt.


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