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Das Game Neo Cab soll die Abgründe der Gig-Economy und die Arroganz des Silicon Valley erforschen

von Michael Förtsch
Lina ist die letzte menschliche Ridesharing-Fahrerin in einer vollautomatisierten Tech-Metropole. Stetig ist sie umringt von autonomen Kapsel-Autos und unter Beobachtung durch unzählige Kameraaugen. Das Ziel der jungen Frau im Videospiel Neo Cab? Ihre Menschlichkeit bewahren – irgendwie.

Es ist nicht immer einfach, klar zu unterscheiden. Nicht selten verwischen bei den Visionen der Silicon-Valley-Größen und Tech-Visionäre die Grenzen zwischen futuristischer Utopie und cyberpunkiger Dystopie. Schließlich kommt es immer darauf an, wie die neuesten bahnbrechenden Technologien eingesetzt werden, die Ingenieure und Programmierer Wirklichkeit werden lassen. Seien es nun soziale Netzwerke, die Menschen auf der ganzen Welt verbinden – aber auch Armeen von Trollen befähigen, Menschen zu terrorisieren und Fake News zu verbreiten. Oder seien es selbstlernende Künstliche Intelligenzen, die helfen können, Krankheiten wie Krebs zu diagnostizieren – aber ebenso Killer-Drohnen lenken und deren Raketen auf vermeintliche Terroristen feuern.

„Ich glaube, eine Menge Leute wachen gerade auf und stellen fest, dass diese Disruption, die wir so hochhalten, oft mit ungewollten Konsequenzen einhergeht“, sagt Patrick Ewing, der früher selbst selbst in der US-Start-up-Landschaft gearbeitet hat, unter anderem bei Twitter. Obwohl er auf einen weiten Teil seiner und der Arbeit seiner Kollegen stolz ist, ist er ausgestiegen, um etwas anderes zu machen, etwas das ihm und anderen mehr Freude bereitet: Videospiele, zum Beispiel den gefeierten Walking-Simulator Firewatch des Studios Campo Santo. Mittlerweile haben Ewing und einige Kollegen ihr eigenes Videospielstudio Chance Agency gegründet. Dessen erstes Game wird Neo Cab, das tief in das Silicon Valley und dessen teils verstörendes Selbstverständnis blicken soll.

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In Neo Cab übernimmt der Spieler die Rolle von Lina, eine der letzten menschlichen Ridesharing-Fahrer inLos Ojos. Früher war Los Ojos war eine verschlafene Kleinstadt. Doch dann wurde sie in eine Sonderwirtschafts- und Innovationszone umgewandelt. Das lockte Tech-Giganten an, die Los Ojos in eine Metropole mit eigenen Regeln und Werten hochzüchteten. „Wir schauten uns dafür Projekte wie das Downtown Project von Zappos-Gründer Tony Hsieh oder die Seasteading-Bewegung von Peter Thiel [der streitbare Mitbegründer von PayPal und Gründer des Überwachungsdienstleister Palantir] an“, erklärt Paula Rogers, Mitgründerin von Chance Agency. Sie hat die Story von Neo Cab geschrieben. „Das sind bizarre Träume von Tech-Milliardären, die die Gesellschaft nach ihren eigenen Vorstellungen neu erschaffen wollen.“ Sie hat für Neo Cab weitergedacht. Im Game war eben einer dieser Träume erfolgreich und brachte letztlich eine hoch automatisierte Mischung aus San Francisco und Dubai hervor, in der Lina ihr Leben bestreitet und nach ihrer Freundin Savy sucht, die urplötzlich auf mysteriöse Weise verschwindet.

Emotionale Suche

Der Spieler nimmt in der Rolle von Lina für seine Suche über ein virtuelles Smartphone verschiedenste Beförderungsaufträge auf einer weitläufigen Karte an, so wie ein Uber- oder Lyft-Fahrer. Er sammelt die Passagiere ein, die sogenannten Pax, und befördert sie dann zu ihrem Zielort. Währenddessen hat er die Chance, Gespräche anzustoßen, die Fahrgäste über ihren Tag und die Stadt auszufragen oder nach Hinweisen auf den Verbleib von Savy zu bohren. Dabei kommt es nicht nur darauf an, welche Fragen gestellt werden, sondern auch wie Linas Stimmung ausschaut. „In vielerlei Hinsicht geht es darum, sie vor emotionaler Erschöpfung zu bewahren und ihr beizubringen, sich selbst zu schützen“, sagt Rogers. „Und das in einer Welt, in der Maschinen-gleiche Effizienz der Goldstandard ist.“ Denn Lina ist eine emotionale Person, die es geschafft hat, sich nicht von der Technologie und der Gleichgültigkeit ihrer Mitmenschen abstumpfen zu lassen.

Repräsentiert wird ihre Verfassung durch das Feelgrid, das die derzeitige Stimmungslage als leuchtende Farben an ihrem Armband repräsentiert. Blau-Töne stehen für Traurigkeit und Depression, Rot-Töne für Wut und Zorn. Das hat der Spieler stets im Auge. Denn gespielt wird Neo Cab, das mit seiner flächigen Grafik und den kühlen Farben an Graphic Novels wie Hickville erinnert, die meiste Zeit mit dem Blick durch die Frontscheibe von Linas Wagen. Der Spieler schaut also der Fahrerin ins Gesicht und in den Fond, wo die Fahrgäste sitzen, hinein, so dass er auch deren Gefühlsleben über die Mimik und Körperhaltung interpretieren kann. Als ein „emotional survival game“ wollen die Macher daher dieses durchaus kreative wie ungewöhnliche Werk verstanden wissen.

Entscheidungen mit Folgen

Der Spieler kann völlig frei entscheiden, ob die Taxi-Fahrerin einem Fahrgast mit vorgespielter Freude begegnen soll, obwohl sie deprimiert ist, oder ihre Emotionen offenbart und auslebt. Ist sie allerdings zu bedrückt oder zornig, fallen Dialogoptionen weg. Denn im Laufe des Spiels wird Lina von Passagieren beleidigt, bekommt persönliche Schicksalsschläge erzählt oder auch Theorien präsentiert, was ihrer Freundin zugestoßen sein könnte. „Egal, welche Wahl ihr trefft, ihre Emotionen werden in die ein oder andere Richtung gelenkt“, sagt Story-Autorin Rogers. „Wir wollen zeigen, wie Emotionen uns in eine Spirale treiben können und wie wichtig es ist, unsere Gefühle zu respektieren.“ Dabei muss Lina aber auch die Gefühle der Fahrgäste beachten. Einige von diesen wird sie nämlich mehrfach auflesen – und dadurch sehen, wie sich ihr vorheriges Treffen ausgewirkt hat. Sie kann einer aufregten Frau vor einem ersten Blind Date beispielsweise gut zu reden oder sie kalt mit einem „Was interessiert's mich?“ abbügeln.

Aber damit nicht genug: Es geht gleichzeitig auch um Linas Job und das blanke Überleben. Denn reagiert sie kratzbürstig oder fühlt sich ein Fahrgast durch ihre Fragen unwohl oder bedrängt, riskiert sie eine schlechte Bewertung – genau wie echte Uber-, myTaxi- und Lyft-Fahrer. Kommt es dazu, werden in Zukunft wohl weniger Fahrgäste in ihren Wagen steigen, was ihre Suche nach Savy behindert und ihr weniger Geld bringt. Dabei braucht sie das für ein Hotel und die E-Tankstelle für ihren Wagen. „Es ist eine heikle Balance, die der Spieler hier arrangieren muss“, sagt Ewing. Eben genauso, wie echte Gig-Economy-Arbeiter mit denen die Entwickler gesprochen haben: Uber-, Lyft- genauso wie Postmates- und Zesty-Fahrer. „Wir haben so viele Geschichten gehört“, sagt Ewing. „Einige lustig, einige grauenhaft, einige herzerwärmend. Wir haben uns auch durch etliche Foren gegraben, um zu verstehen, welchen Blick diese Menschen auf die Welt sie haben.“

Maschineneffizienz

Los Ojos ist nicht nur ein technokratisch-libertäres Utopia, sondern auch das Experimentierfeld des mächtigen Capra-Konzerns, der die Stadt mehr oder minder regiert. „Wir haben bemerkt, dass Firmen wie Google und Apple kontinuierlich neue Märkte erobern und mehr und mehr in unsere Leben dringen“, sagt Ewing. „Vor einem Jahrzehnt hattest du einen Apple-Rechner, und das war es. Nun sind Apple oder Google oder Amazon mehr wert als die Ölindustrie und stecken in deinen Computer, deinem Telefon, deiner Uhr, deinem Fernseher und, schon bald, natürlich in deinem Auto: Für uns ist Capra all das und was noch kommen wird.“

Lina versucht dem Unternehmen aus dem Weg zu gehen, da sie, genau wie viele andere Fahrer gefeuert wurde – ob der stetig zunehmenden Automatisierung. Sie konkurriert ganz alleine mit autonomen KI-Fahrern. Doch Capra zu entgehen ist nahezu unmöglich. Denn der Konzern ist auch ein allmächtiger Überwachungsapparat, der seine Drohnen und Kameras überall in der Stadt hat. Nicht wenige, die in den Wagen von Lina steigen, beteiligen sich zudem als freiwillige Spitzel, die gegen kleines Geld alles berichten, was sie sehen, hören oder sonst wie erfahren. Andere hingegen versuchen sich gegen diese Dauerüberwachung zu wappnen, in dem sie ihr Gesicht mit einer holographischen Projektion verschleiern, wie Lina über all die Gespräche in der fünf Nächte dauernden Geschichte erfährt.

„Natürlich gibt es auch einige Wendungen und Überraschungen, die wir noch nicht verraten können“, sagt Rogers. „Das ist ein Teil des Ganzen, eben herauszufinden, was der Rote Hering ist und was wirklich das Herz der Geschichte darstellt – und wie all das durch höhere Kräfte in einer Welt der Automatisierung und ökonomischen Instabilität geformt wird.“ Dennoch soll Neo Cab im Kern eine persönliche und intime Geschichte sein, die sich um Lina und ihre Suche dreht. Aber die im Videospiel angelegte Kritik ist den Machern wichtig. Sehr wichtig sogar. Neo Cab soll die Möglichkeit geben, eine Welt zu erforschen, in der das blinde Vertrauen in Technologie und unreflektierter Optimismus eine Gesellschaft an einen Ort und in eine Situation treiben, in der es vielen schwer fällt, sich zu behaupten und die eigene Menschlichkeit zu bewahren.

Eine Warnung?

„Wir wollen mit Neo Cab nicht einfach die ganzen Ridesharing-Firmen angreifen, wobei es ein echter Gewinn wäre, wenn manche netter zu ihren Uber-Fahrern wären, wenn sie das Spiel gespielt haben“, sagt die Story-Autorin Rogers. Es gehe auch nicht darum, pauschal die Automatisierung zu verteufeln. Denn autonome Fahrzeuge könnten jede Menge tödliche Unfälle verhindern und vielleicht sogar Stress aus unserem Alltag nehmen. Es gehe dem Entwicklerteam von Neo Cab aber durchaus darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, welche Gefahren eine unregulierte Automatisierung, der Wegfall von ganzen Berufen und die Fragmentierung der übrig bleibenden Arbeitswelt in auftragsbasierte Beschäftigungsformen mit sich bringt. Auch soll das Spiel für das unreflektierte Vertrauen sensibilisieren, das großen Silicon-Valley-Unternehmen oft entgegengebracht wird, wenn sie einen neuen Markt disruptiv aufsprengen und übernehmen wollen.

Natürlich ist Neo Cab nur ein Videospiel. Aber einiges, was darin zu sehen ist, ist gerade dabei, Realität zu werden. Vor allem die Abgabe von Aufgaben und Verantwortung an Maschinen. „Die ganze LKW-Fahrer- und Speditionsindustrie wird in einigen Jahren auf- und umgebrochen, ehe die Leute eine Chance haben, neue Karrieren für sich zu finden“, sagt Ewing überzeugt. „Das wird chaotisch und eine echte Herausforderung für unsere Gesellschaft.“ Auch werden Städte immer öfter mit neuen Technologie im Hintergrund geplant und gedacht – und die Einwohner selbst dabei fast vergessen. Was damit drohe, sei die Entmenschlichung der Menschen, weil diese sich immer öfter mit Künstlichen Intelligenzen und Maschinen messen müssten, mahnt Patrick Ewing. „Maschinen werden stetig besser darin, Menschen und ihre Fähigkeiten zu imitieren. Aber wir dürfen uns nicht dazu verführen lassen, Maschinen zu imitieren oder jemanden wie eine Maschinen zu behandeln.“

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