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Die Pionierinnen des Cyberfeminismus sagen den Tech-Cowboys den Kampf an

von Sonja Peteranderl
Das australische Künstlerinnenkollektiv VNS Matrix hat den Cyberfeminismus mitbegründet und versucht seit den Neunzigern, Technologie und Gesellschaft mit CD-Rom-Games, Installationen und Performances zu hacken. Bei der Berliner CYBORG-Konferenz diskutierten die Gründerinnen Francesca Da Rimini und Virginia Barratt über die Zukunft von Mensch und Maschine. WIRED Germany hat mit ihnen über Aktivismus ohne Browser und soziale Netzwerke, Flame-Wars und das Erbe von VNS Matrix gesprochen.

WIRED: Ihr gehört zu den Pionierinnen der digitalen Kultur, mit VNS Matrix wolltet ihr die „Tech-Cowboys“ herausfordern, wie ihr es einmal beschrieben habt. Was war das für eine Zeit, in der euer Projekt entstanden ist?
Francesca Da Rimini: Es war 1991, als wir vier Künstlerinnen — Virginia und ich, Julieanne Pierce und Josie Starrs — VNS Matrix gegründet haben. PCs verbreiteten sich damals, aber der Zugang zu größeren und leistungsstärkeren Maschinen war beschränkt und sehr teuer. Es gab viel Hype um Technologie und die gesamte Tech-Szene wurde von einer sehr maskulinen Perspektive geprägt. Deswegen ging es bei unserem Projekt darum, die Maschinen zu kidnappen und sie auch anderen, heterogenen Gruppen und gesellschaftlichen Segmenten gegenüber zu öffnen, vor allem Frauen.
Virginia Barratt: Die Gatekeeper, oder die „Herren der Technologie“, kamen aus dem militärisch-industriellen Komplex. Zugang zu den Maschinen hatte man nur in industriellen Produktionsstätten. Francesca hat zum Beispiel Workshops in einer Fabrik gegeben, in der Kunststoff verarbeitet wurde. Dort konnte sie High-End-3D-Drucker nutzen, spätnachts, nach der offiziellen Arbeitszeit. Man hatte auch Zugang zu Rechnern in Bildungsinstituten und wissenschaftlichen Institutionen, aber nicht als Student oder Studentin — nur als Fakultätsmitglied. Und man musste sich in die Computerräume hineinschleichen.

WIRED: Hattet ihr dann überhaupt Internetzugang oder eher nur sporadisch?
Da Rimini: Community-Projekte und alternative Medienorganisationen haben damals angefangen, eigene ISPs, Internet Service Provider, einzurichten. Deswegen hatten viele von uns kostenlose Zugänge. Sie existieren leider nicht mehr, heute gibt es in Australien nur noch drei große Anbieter. Es war damals eine interessante Zeit mit Highend-Technologien, aber auch interessanten Grassroots-Aktivismus-Ansätzen rund um den Zugang zu einer damals noch sehr neuen Technologie.
Virginia Barratt: So hatten die Leute auch zu Hause Internet, wie heute. Viele haben damals kleine Bulletinboards gegründet, in denen alles Mögliche diskutiert wurde. Aber das war noch das Zeitalter vor dem ersten Browser — wir haben in einer textbasierten technischen Umgebung gearbeitet.

Fürchte dich nicht vor den Maschinen, versuche es einfach, erfinde Dinge, quick and dirty.

Francesca Da Rimini

WIRED: Euer bekanntestes Werk ist das „Cyberfeminist Manifesto for the 21th Century“.
Da Rimini: Unser Manifest war eines der ersten Projekte von VNS Matrix — wir haben es Menschen gefaxt, die keinen Internetzugang hatten, aber die wir trotzdem erreichen wollten. Und wir haben es in der ganzen Stadt plakatiert. Dann haben wir auf einmal gemerkt, dass wir einen Rechtschreibfehler gemacht hatten und mussten alles nochmal neu aufhängen. Für eine Aktion haben wir es später in Sydney in eine große Plakatwand verwandelt, bis dahin wussten wir gar nicht, dass das überhaupt möglich ist, in dieser Größe. Bei allem, was wir taten, wussten wir nie, zu was die Maschinen, die Technologie in der Lage ist. Aber das war auch Teil unserer Arbeit: Verspieltheit, Experimente, Risiko und Scheitern ist ganz zentral. Das haben wir versucht, anderen Frauen zu vermitteln: Fürchte dich nicht vor den Maschinen, versuche es einfach, erfinde Dinge, quick and dirty. Es ist ein Prozess.
Barratt: Einer der wichtigsten Aspekte ist es, Fehler wertzuschätzen. Nur durch die Masse an Fehlern in deinem Leben lernst du etwas. Deswegen wollen wir alle dazu anregen, zu scheitern.

WIRED: Wie habt ihr die Technologie gehackt? Habt ihr versucht, eure eigenen Gadgets zu entwickeln, selbst gecoded?
Da Rimini: Anfangs hatten wir nicht die Fähigkeiten, um Hardware zu bauen oder Software zu schreiben. Später haben wir Baby-Coding gemacht und irgendwann auch auf einem höheren Niveau programmiert. Unsere Arbeit war eine Art Blueprint. Es ging auch viel um Vorstellung, Imagination. Wir haben zum Beispiel ein Spiel mit einer weiblichen Superheldin entwickelt, „Bad Code“. Es war eine interaktive CD-Rom, der Master kostete 750 Australische Dollar — es war eine komplett andere Welt als heute.
Barratt: Vieles entstand damals spontan, aus einer Idee, einem Prozess heraus. Wir saßen in einem Bus, sprachen über ein Poster für ein fiktionales Game mit einer weiblichen Protagonistin, und dann setzten wir dieses Spiel tatsächlich um — als Ergebnis von Diskussionen und viel Alkohol.

WIRED: Eine Frage, die bis heute umstritten ist: Wie sollte eine Superheldin aussehen, damit sie keine Stereotype reproduziert?
Da Rimini: Am Ende konnte die Erscheinung unserer Protagonistin wechseln zwischen einem intelligenten Nebel, einem Computervirus oder einem biologischen Virus — weil wir uns nicht auf einen weiblichen Körper einigen konnten. Aber das machte sie nur interessanter.
Barratt: Die Bilderwelt, die wir damals kreierten, war ziemlich slapstickartig, sehr cartoon-ähnlich. Wir fanden 3D-Gestaltung, die versuchte, die Realität nachzuahmen, lächerlich.

WIRED: Wie habt ihr euch euer Wissen über Computer und Coding angeeignet?
Barratt: Unsere ersten Coding-Experimente fanden im MOO-Kontext statt. Das ist ein textbasiertes System und es gab Text-Tutorials. Man musste Zeile für Zeile hacken.
Da Rimini: Wir hatten schon immer einen Hang zu reduzierten Umgebungen –je mehr Low-Res etwas ist, desto mehr Vorstellungskraft braucht man. Es ist wie ein Vorschlag, aus dem jeder etwas eigenes machen kann.

Flame-Wars und Trolle gab es damals schon. Aber es wurde nicht so kollektiv auf Frauen eingehämmert wie heute.

Virginia Barratt

WIRED: Heute gibt es mehr Frauen, die coden, in der Tech-Branche arbeiten, Netzkultur mitgestalten — aber sie sind immer noch in der Minderheit, ihre Sichtbarkeit ist gering, sie kämpfen gegen Vorurteile. Wie seht ihr die Entwicklung?
Da Rimini: Es gibt heute noch immer viel Sexismus in der Software-Industrie, in der IT generell und auch in der technologiezentrierten Forschung. Für Programmierinnen ist es deswegen ein riesiger Vorteil, wenn sie zusammenkommen und Fähigkeiten austauschen. Es ist fantastisch, dass sich oft kleine Initiativen bilden, die sich gegenseitig unterstützen. Es funktioniert zwar auch, wenn man es sich selbst beibringt, aber es ist besser, zusammenzukommen.
Barratt: Heute können sich auch außerhalb der Industrie und der Institutionen viele Autodidakten Fähigkeiten aneignen, haben Zugang zu Technologie. Solidarität ist wichtig — denn Cyberbulling existiert immer noch im Gaming-Bereich und anderen Bereichen. Es ist heute extremer als damals, als wir dagegen gekämpft haben.
Da Rimini: Es ist heute extremer, weil die Menschen ihren Hass wie mit vielen Tentakeln über Social Media vermehren und verbreiten können.

WIRED: Wie waren die Reaktionen auf eure Arbeit, die ja doch sehr provokativ war? Wurdet ihr angegriffen?
Da Rimini: Auch damals gab es Sexismus, aber es war nicht genauso bösartig wie heute. Natürlich gab es Kritik, aber wahrscheinlich hat sich keiner getraut, uns etwas direkt ins Gesicht zu sagen. Die wichtigsten Methoden für uns waren Ironie, Parodie und Humor. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Methodik heute noch genauso funktionieren würde.
Barratt: Flame-Wars und Trolle gab es damals auch schon. Aber es wurde nicht so kollektiv auf Frauen eingehämmert, die ihren Platz in der Gaming-Community finden wollen, wie es heute in den sehr konservativen sozialen Netzwerken passiert.

Echte Nähe ist für Widerstand zentral, egal ob mit oder ohne Technologie.

Francesca Da Rimini

WIRED: Heute starten aber auch viele feministische Initiativen in den sozialen Netzwerken, wie der #Aufschrei.
Da Rimini: Man muss optimistisch bleiben. Tools sind immer Werkzeuge sowohl für Beherrschung als auch für Befreiung, abhängig vom menschlichen Willen. Ich finde es zum Beispiel spannend, wie Anonymous immer mehr politisiert wurde durch den Arabischen Frühling und andere Kampagnen. Es ist interessant, diese neuen gesellschaftlichen Formierungen zu sehen, auch die Masse an Personen, die man jetzt online erreichen kann, um einzelne Menschen, Gruppen oder Ziele zu unterstützen. Informationen werden auf eine effektivere Art gebündelt, dann kommen die Menschen aber trotzdem wieder zusammen. Echte Nähe ist für Widerstand zentral, egal ob mit oder ohne Technologie.
Barratt: Ich war an einer Blockade gegen Fracking beteiligt — dabei wurden auch alle möglichen Kommunikationsarten genutzt, bis hin zu einer Drohne. Es gibt bei Protesten heute kein Kontrollzentrum mehr, kein Hauptquartier.

WIRED: Experimentiert ihr auch mit dem Darknet?
Barratt: Ich habe mit Tor herumgespielt, das ist ein neuer Raum für mich. Ich bin total an illegalen Plattformen interessiert. Aber auch Tor ist nicht vollkommen sicher in Bezug auf Tracking. Ich leake bewusst im Cyberspace, ich bin eine Social Media Slut — aber ich nutze das entgegen den intendierten Regeln als kreativen Raum. Ich glaube, dass ich mein Facebook irgendwann als Buch publizieren werde, ich habe Tausende von Nachrichten und Statusmeldungen heruntergeladen. Ich arbeitete gegen dieses: „Was denkst du? Was fühlst du? Was hast du gegessen, mit wem bist du unterwegs? Tagtagtag!“ Stattdessen poste ich Poesie. Ich bin an Kommunikationsräume wie MOO gewöhnt, die amorph sind, bei denen man Wege der Interaktion erst finden muss.
Da Rimini: Das ist bei jeder Plattform so, egal ob Software oder Hardware: Sie wird von Regeln bestimmst, aber die können gedehnt und gebrochen werden. Ich versuche aber, meine Daten sehr schlank zu halten, nutze auch keine sozialen Netzwerke. Ich mag auch keine Telefongespräche, verabrede mich meistens nur in einem Café.

WIRED: Inwieweit spielt die Überwachungsproblematik bei euerer künstlerischen Arbeit eine Rolle?
Da Rimini: Das stand immer im Hintergrund. Früher, bevor es Browser gab, haben wir oft festgestellt, dass die Regierung eben nicht mitlas — wenn wir etwa einen Protest für Flüchtlinge organisierten und 500 Polizisten auf Pferden zu dem abgelegenen Veranstaltungsort geschickt wurden, aber höchstens 25 Protestierende zusammenkamen.
Barratt: Wir sprechen natürlich über Überwachung, aber unser Ansatz ist eher spekulativ, wir spucken Ideen aus, aber wir entwerfen keine konkreten Gegenstrategien.

Ich glaube, dass ich mein Facebook irgendwann als Buch publizieren werde.

Virginia Barratt

Darling: Welche Zukunftsvisionen hattet ihr, wie habt ihr euch das Jahr 2015 vorgestellt?
Da Rimini: Cyberpunk-Literatur hat uns stark beeinflusst, und Cyberpunk-Visionen waren so wie unsere eigenen immer in der sehr nahen Zukunft angesiedelt, innerhalb unserer Lebenszeit.
Barrat: Wir haben eine gegenderte Zukunft entworfen. MOO-Spaces waren sehr progressiv in Bezug auf Gender-Konstriktionen und -Performances. Jedes Pronomen, das man sich vorstellen kann, war verfügbar. Unsere Zukunftsvisionen waren nicht so sehr auf etwas Körperliches bezogen, also wie ich mich als Mensch mit einem Roboterarm erweitern kann. Wir hatten eher eine Vorstellung von viraler Informationsverbreitung. Im Kern ging es, wie in unserem Computerspiel auch darum, dass es zum Beispiel normal ist, wenn der Top-Chirurg, der dich in einen Cyborg verwandelt, ein älterer Aborigine-Mann ist oder was auch immer — was in Australien leider bis heute nicht der Fall ist. Wir haben für unsere Games und Performances auch Menschen aus Subkulturen und lokalen Communities gecasted, sie popularisiert. Ein Orakel wurde zum Beispiel von einem Stripper oder einer Sexarbeiterin gespielt. So haben wir uns die Zukunft vorgestellt.

WIRED: Was ist das Erbe von VNS Matrix?
Da Rimini: Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, wir haben verschiedene Allianzen mit allen möglichen Girrrls-Bewegungen und anderen Initiativen gebildet. Wir bekommen auch immer wieder E-Mails von Studentinnen oder anderen, die uns schreiben, wie unsere Arbeit sie inspiriert hat.
Barratt: Es kommt auch immer wieder vor, dass jemand unserer Manifest twittert: „The Clitoris is a direct link to the Matrix.“

WIRED: Wohin wird sich die Beziehung zwischen Mensch und Maschine entwickeln? Welche Trends oder Visionen findet ihr im Cyborg-Kontext relevant?
Barratt: Uns geht es weniger um utopische Ideen, die biologie- oder maschinenzentriert sind, sondern mehr um gesellschaftliche und politische Sphären und den Einsatz von Technologie. Ich glaube, das ist es, wo die Crux der politischen Nutzbarkeit des Cyborg-Konzeptes liegt.
Da Rimini: Ich glaube, dass auch mehr Fokus auf die Ethik gelegt werden muss, egal ob wir über biotechnische Entwicklungen sprechen oder andere. Ethische Aspekte werden immer wieder überlagert von dem glorreichen Hype um Technologie. 

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