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Warum Johnny Haeusler sich bei Videospielen nicht mehr an Vorschriften hält

von Johnny Haeusler
Bill Gates stellt strikte Regeln für seine Kinder im Umgang mit Unterhaltungselektronik auf. Kann man machen, kommentiert unser Kolumnist, der das bei seinen eigenen Kindern auch versuchte. Allerdings wurde es erst richtig gut, als er die Regeln lockerte – und selbst auch mal wieder mitspielte.

Sollte man Kinder erst ab 14 Jahren ans Smartphone lassen, so wie Microsoft-Gründer Bill Gates es offenbar tut? Das ist natürlich okay und seine persönliche Entscheidung (und nur böse Zungen würden jetzt raten: Da es dann sicher Microsoft-Smartphones sind, lieber ganz abstinent bleiben). Generell finde ich gemäßigten Medienkonsum bei jungen Kindern gar nicht mal schlecht. Allerdings: Kleine Ausnahmen, Feldversuche für die Erwachsenen quasi, können durchaus erkenntnisreich sein. Ich weiß, wovon ich spreche:

Im Jahr 2009 begab sich SONY mit der Playstation 3 auf das Terrain der virtuellen, offenen Spielwelten, die sich an der physischen Realität orientierten. Ähnlich Second Life aus dem Jahr 2003, das als Zukunft von quasi allem gefeiert wurde und dem 1994er WorldsAway konnte man sich bei Playstation Home als virtuelle Person selbst erschaffen, um dann seine Figur durch dreidimensionale Welten zu steuern, dort mit anderen Spielerinnen und Spielern zu interagieren oder seine Zeit mit Mini-Games zu verbringen.


Als ich das Spiel ausprobierte, war ich beeindruckt von der zu diesem Zeitpunkt recht fortgeschrittenen 3D-Grafik, inhaltlich begrüßte mich jedoch gähnende Langweile. Nachdem ich mein virtuelles Zuhause eingerichtet und versucht hatte, meinen Avatar wenigstens halbwegs realistisch zu gestalten, irrte mein Computer-Ich über pittoreske Marktplätze und Straßen und bemühte sich vergeblich um sinnvolle Dialoge und Bowling-Spiele mit den anderen Figuren im Spiel, bei denen ich davon ausging, dass sie von Menschen auf der halben Welt gesteuert wurden. 

Die damals neue Erfahrung verlor für mich schnell ihren Reiz, doch ich wollte testen, was diese Art des Spiels und der Kommunikation mit jüngeren Menschen macht. Und die Beobachtung unserer damals acht- und zehnjährigen Söhne, die ich unter meiner Aufsicht an die Konsole setzte, werde ich wohl nie vergessen. Denn die beiden Knirpse hatten jede Menge Spaß. Und zeigten mir und allen anderen vermutlich erwachsenen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, dass wir verlernt hatten zu spielen. 

Im Gegensatz zu mir dachten meine Söhne nämlich nicht eine Sekunde lang daran, ein virtuelles Ebenbild ihrer selbst zu gestalten oder die Figur auch nur halbwegs realistisch aussehen zu lassen. Ganz im Gegenteil. Möglichst absurd sollte ihr Avatar sein, völlig unterschiedliche Körperteile verschiedener Geschlechter wurden zusammengesetzt, Kleidungsstücke so albern wie nur irgend möglich kombiniert. Die gemeinsam kreierte Figur meiner Söhne sah aus wie eine Mischung aus Frankensteins Monster und Dolly Parton, sie hatten die von den SONY-Algorithmen zugelassenen Kombinationen aufs grenzwertigste ausgereizt. Und sie lachten sich schlapp darüber. Grenzwertig war auch das Benehmen der Jung-Gamer im Spiel. Freundliche Begrüßungen anderer Spieler wurden mit der krassesten zur Verfügung stehenden Reaktion beantwortet – ich glaube, es war ein leichtes Schubsen des Gegenübers – und in den Mini-Spielen ging es in erster Linie darum, den größtmöglichen Unsinn anzustellen und die Grenzen auszutesten. Konnte man die Bowling-Kugeln auch den Mitspielern an den Kopf werfen? 

Natürlich nicht. Als aber klar wurde, wie beschränkt das Spiel der Wirklichkeit in Wirklichkeit war, legten meine Nachkommen die Controller gelangweilt zur Seite. Genau wie ich davor, aber aus völlig anderen Gründen.

Wie es sich für einen Vater gehört, hatte ich die unflätigen Aktionen der Kurzen natürlich dauernd gemaßregelt. Ich hatte mir Sorgen um meine Erziehungserfolge gemacht. Und erst später erkannt: Die beiden hatten alles richtig gemacht.

Meine Kreativität war von einem japanischen Großkonzern ausgetrickst worden

Johnny Haeusler


Wie bekloppt war ich denn gewesen, mich in einem blöden Videospiel vorschriftsmäßig zu verhalten? Wie spießig, langweilig und lahm war ich, indem ich die eigentlich großartige Chance der freien Selbstgestaltung nutzte, indem ich die virtuelle Welt möglichst getreu der echten kreieren wollte? Und wie wenig konnte ich die Technologie testen, ohne sie auszureizen? Meine Kreativität, so stellte ich etwas frustriert fest, war von einem japanischen Großkonzern ausgetrickst worden. Ich war genauso langweilig, wie sich SONY das gewünscht hatte. Und anscheinend genau wie die meisten anderen Spielerinnen und Spieler, denn PlayStation Home wurde 2015 endgültig eingestellt.

Und nun ist mir genau der gleiche Fehler erneut passiert. Meine Söhne, die mich inzwischen um einen Kopf überragen, zwangen mich begeistert, Rick and Morty – Virtual Rick-ality auszuprobieren, eines der – wie ich inzwischen sagen kann – besten der aktuell verfügbaren VR-Games für die Platzhirsche Oculus Rift und HTC Vive. Das Spiel, dessen Inhalt nur für Fans der TV-Serie verständlich ist und den ich daher hier gar nicht erst zu erklären versuche, katapultiert die Spielerin oder den Spieler mitten rein in eine völlig verrückte Cartoon-Welt. Es gilt, Gegenstände zu greifen, zu kombinieren und Aufgaben zu lösen. Und da es sich um eine VR-Welt handelt, bedeutet das, dass man sich, im Raum stehend und hinter seiner VR-Brille versteckt, nach unten oder nach oben bücken, nach links oder nach rechts greifen muss. Es bedeutet, dass man mit „echten“ Handgriffen Maschinen, Knöpfe und Schalter betätigt und Schränke durchsucht, die man dazu öffnen und schließen muss.

Schließen? Meine Söhne lachen sich kaputt, während sie am Monitor mein Spiel beobachten. „Das ist so typisch! Du stellst alle Gegenstände, die du ausprobierst, immer wieder zurück! Und du machst alle Schränke, den Kühlschrank, die Tür der Waschmaschine immer schön artig zu, genau wie im echten Leben, hahahaha!“ 

Es ist ein einziges virtuelles Chaos


Ich muss selbst lachen unter meiner VR-Brille. Stimmt. Wieso schließe ich eigentlich die Tür eines komplett virtuellen Schranks? An dessen Tür ich mich nicht einmal stoßen kann? Wie verdammt eingefahren bin ich eigentlich?

Ich setze die viel zu sperrige Brille ab (nicht, bevor ich erfolglos versucht habe, die Controller in meiner Hand auf den virtuellen Küchentisch abzulegen) und lasse einen der Söhne ans Spiel. 

Und der kennt keine Regeln. Der ganze Plunder, den er im Spiel ausprobiert, wird einfach fallengelassen, der Spielraum füllt sich mit Spielgegenständen, die auf dem Boden liegen. Die aufgerissenen Schranktüren bleiben geöffnet (vielleicht benötigt man den dort vorhandenen Gegenstand ja noch, sofern er später dort noch ist). Es ist ein einziges virtuelles Chaos.

Doch dann kommt mein Moment des Triumphes. Das Spiel verlangt die Erfüllung der nächsten Aufgabe: „Clean up the mess you made.“ Ha. Ha. Ha. 

Still applaudiere ich den Spiele-Designern für diesen pädagogischen Schachzug, trotz aller Unkorrektheit der TV-Serie und des Games nun also doch die Erkenntnis, dass man auch in der Virtual Reality nicht einfach so den Messie geben kann! JETZT muss er aufräumen, der Sohnemann! Sonst geht’s nicht weiter.

Mein Sohn bleibt unbeeindruckt hinter seiner VR-Brille. Er greift nach allen Gegenständen im Spiel, hebt sie auf und … wirft sie aus dem Fenster in den Garten. In dem sich ein stattlicher Müllhaufen sammelt. Fertig. Aufgeräumt. Ich kann es kaum glauben, aber: Das Level ist geschafft.

Die Welt der elektronischen Spiele ist dann eben doch nicht ganz wie die physische. Und trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten, denn immerhin hat mir der Nachwuchs einmal mehr gezeigt: Bei der Erkundung der Welt(en) ist es hilfreich, die Regeln zu kennen. Manchmal aber auch, sie zu brechen. 

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