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Mit dem Dadbot hält ein Sohn seinen Vater am Leben

von James Vlahos
Als James Vlahos erfährt, dass sein Vater nur noch wenige Monate zu leben hat, beschließt er ihn unsterblich zu machen – als Dadbot. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, aber auch eine sehr intensive Phase guter Gespräche zwischen Sohn und Vater. Denn der erzählt seine ganze Lebensgeschichte.

Die erste Stimme, die man auf dem Band hört, ist meine. „Lass uns loslegen“, sage ich. Ich klinge heiter, doch ein Räuspern verrät, wie nervös ich wirklich bin. Dann spreche ich arg feierlich den Namen meines Vaters aus: „John James Vlahos.“

„Rechtsanwalt“, sagt eine zweite Stimme. Dies eine Wort, ironisch betont, beruhigt mich sofort. Die Stimme gehört meinem Vater. Wir sitzen uns im Schlafzimmer meiner Eltern gegenüber, er in einem Sessel, ich auf einem Schreibtischstuhl. In genau diesem Zimmer hat sich mein Vater vor Jahrzehnten ganz ruhig meine Beichte angehört, dass ich unsere damalige Familienkutsche vor ein Garagentor gesetzt hatte. Nun, viele Jahre später, ist mein Vater 80 Jahre alt. Es ist ein Tag im Mai 2016, und ich halte ein Aufnahmegerät in meiner Hand.

Mein Vater spürt in diesem Augenblick offenbar, dass ich nicht so recht weiß, wie wir fortfahren sollen. Deshalb reicht er mir einen Zettel, auf dem er ein paar Stichworte notiert hat: „Familiengeschichte“, „Ausbildung“, „Berufslaufbahn“. „Suchst du dir eine Kategorie aus, damit wir tiefer einsteigen können?“, frage ich.

„Ja, ich möchte tiefer einsteigen“, sagt mein Vater. „Nun gut: Meine Mutter wurde im Dorf Kehries geboren, K-E-H-R-I-E-S, das liegt auf der griechischen Insel Evia …“ Und so beginnt unsere erste Aufnahmesession. Wir sitzen hier zusammen und nehmen unser Gespräch auf, weil bei meinem Vater vor Kurzem Lungenkrebs diagnostiziert wurde, Stadium IV. Der Krebs hat bereits Metastasen im ganzen Körper gebildet, in den Knochen, der Leber, dem Gehirn. Der Krebs wird meinen Vater töten, vermutlich innerhalb weniger Monate.

Deshalb erzählt mein Vater mir nun seine Lebensgeschichte. Dieser ersten Session werden noch mehr als ein Dutzend weitere folgen, jede mindestens eine Stunde lang. Während mein Aufnahmegerät läuft, berichtet mein Vater davon, wie er als Kind in Höhlen herumgekrochen ist; wie er als Student nebenbei Geld verdient hat, indem er Eisblöcke in Güterwaggons hievte; wie er sich in meine Mutter verliebt hat und erst Reporter wurde, dann Sänger, schließlich Rechtsanwalt. Er erzählt Witze, die ich schon hundert Mal gehört habe, aber auch biografische Details, die mir völlig neu sind.

Du wirst stets bei mir sein

Drei Monate nach der ersten Aufnahmesession machen wir die letzte, und bei der gesellt sich mein jüngerer Bruder Jonathan dazu. Wir sitzen an einem warmen, sonnigen Nachmittag auf der Terrasse unseres Elternhauses in den Hügeln von Berkeley. Mein Bruder heitert uns mit Anekdoten über die Schrullen meines Vaters auf. Doch als wir langsam zum Ende kommen, stockt Jonathans Stimme. „Ich werde immer zu dir aufschauen“, sagt er, während sich seine Augen mit Tränen füllen. „Du wirst stets bei mir sein.“ Mein Vater wirkt gerührt, doch sein Sinn für Humor ist auch nach einem Sommer voll quälender Krebstherapien nicht verschwunden. „Ich danke dir sehr für deine warmen Gedanken, auch wenn einige etwas übertrieben sind“, sagt er. Wir lachen, und dann drücke ich auf die Stopptaste.

Nachdem ich all die Aufnahmen hab’ transkribieren lassen, kommen exakt 91.970 Wörter zusammen, die 203 eng bedruckte Seiten füllen. Ich hefte sie in einen schwarzen Ordner ab und stelle ihn in mein Bücherregal, zu den anderen schwarzen Ordnern mit anderen Projekten von mir.

Da haben sich meine Pläne, was ich mit dem Inhalt dieses Bandes anfangen werde, schon geändert. Ein größeres Vorhaben hat in meinem Kopf Gestalt angenommen: Ich glaube, einen Weg gefunden zu haben, meinen Vater am Leben zu erhalten.

Es ist 1982, ich bin elf und sitze vor einem Commodore PET, der in einem Wissenschaftsmuseum in der Nähe meines Elternhauses steht. Wenn ich herkomme, führt mein erster Weg stets zu dieser Maschine. Auf dem Computer läuft Eliza, eine Art früher Chatbot, der Mitte der 60er-Jahre vom MIT-Informatiker Joseph Weizenbaum programmiert wurde. Eliza imitiert einen Psychotherapeuten und fasziniert mich zutiefst.

Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Weizenbaum selbst fand seine Schöpfung gar nicht so toll. Im Gegenteil, er hielt sie für einen Taschenspielertrick (denn die Software spiegelte lediglich die Aussagen des Eingebenden, war also nicht wirklich intelligent). Und er war entsetzt, wie leicht Menschen der Illusion erlagen, dieses Programm besäße so etwas wie Empathie. „Mir war vorher nicht klar“, schrieb Weizenbaum später, „welch kurzer Kontakt mit einem simplen Computerprogramm bei ganz normalen Leuten zu Wahnideen führen kann.“

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Als Elfjähriger bin ich einer dieser Leute. Eliza erstaunt mich mit Antworten, die einfühlsam wirken („Warum bist du traurig?“), und amüsiert mich solchen, die es nicht sind („Magst du es, traurig zu sein?“). Hinter dem grün leuchtenden Bildschirm, auf dem Elizas Antworten erscheinen, lebt in dem Computer offenbar ein interessantes Wesen. Ich bin gleich süchtig danach.

Einige Jahre später, nachdem ich die Programmiersprache Basic gelernt habe, versuche ich selbst, ein Programm zu schreiben, das über kommunikative Fähigkeiten verfügt. Ich nenne es überambitioniert The Dark Mansion. Es ist klassischen textbasierten Adventure-Games wie Zork nachgeahmt, ist einige Hundert Zeilen lang und funktioniert. Leider dauert ein Durchgang aber nur so lange, bis der Spieler vor der Eingangstür der Mansion angekommen ist – dafür braucht man weniger als eine Minute.

Drei Jahrzehnte später ist längst klar, dass meine persönlichen Talente eher im Journalismus liegen als im Programmieren. Für sprechende Computer interessiere ich mich aber immer noch. Im Jahr 2015 schreibe ich einen Text für das Magazin der New York Times über Hello Barbie, ein schwatzhaftes KI-Update der berühmten Puppe. Diese Barbie ähnelt in gewisser Weise Eliza: Sie redet, indem sie ein vorab festgelegtes Skript abspult, und ihre Qualitäten als Zuhörerin verdankt sie einem Programm, das Muster abgleicht und Sprache prozessiert.

Doch während Elizas Skript einst von einem mürrischen deutschen Informatiker geschrieben wurde, hat das von Barbie ein ganzes Team aus Leuten des Puppenherstellers Mattel und von PullString verfasst, einer Softwarefirma, die Ex-Mitarbeiter des Animationsstudios Pixar gegründet haben. Und während Elizas Fähigkeiten beim Verarbeiten von Spracheingaben rudimentär waren, ist die Barbie dank der Fortschritte bei Machine Learning und Spracherkennung erheblich redegewandter. Außerdem kann sie, ähnlich wie Amazons Alexa und Apples Siri (und im Gegensatz zu Eliza), wirklich sprechen. Mit einer Stimme, die einer menschlichen zumindest nicht unähnlich klingt.

Ich bleibe auch nach dem Text über die Barbie mit den Leuten von PullString in Kontakt, während die bereits neue Charaktere zum Sprechen bringen (etwa einen Call of Duty-Bot, der an seinem ersten Tag sechs Millionen Unterhaltungen führt). Bald erzählt mir Oren Jacob, der CEO der Firma und früherer Technologiechef von Pixar, dass PullString noch weitergehende Pläne hat. „Ich möchte eine Technologie erschaffen, mit deren Hilfe Menschen sich mit Figuren unterhalten können, die gar nicht wirklich existieren, wie Buzz Lightyear aus Toy Story“, sagt Jacob. „Oder mit Menschen, die nicht mehr existieren wie etwa Martin Luther King – weil sie längst gestorben sind.“

Mein Vater hat am 24. April 2016 seine Krebsdiagnose mitgeteilt bekommen. Ein paar Tage später finde ich durch Zufall heraus, dass PullString plant, die Software zu veröffentlichen, mit der die Firma ihre sprechenden Bot-Figuren programmiert hat.

Fast unmittelbar habe ich eine Idee, die ich aber erst mal für mich behalte: Ich träume davon, einen Dadbot zu erschaffen – einen Chatbot, der keine fiktionale Figur nachahmt, sondern einen echten Menschen, meinen Vater. Das Rohmaterial für den Bot habe ich bereits gesammelt, es besteht aus jenen 91.970 Wörtern meines Vaters, die in dem Ordner in meinem Bücherregal stehen. Die Idee erscheint mir folgerichtig. Auch dann noch, als ich länger darüber nachdenke, als es vermutlich ratsam ist.

In dieser Zeit stolpere ich über einen Onlinetext, der von einem etwas seltsamen Projekt zweier Forscher bei Google handelt, die 26 Millionen Zeilen Filmdialoge in ein neuronales Netzwerk eingespeist haben – mit dem Ziel, einen Chatbot zu bauen, der sich dieser sprachlichen Eigenheiten bedienen kann und dabei wahrscheinlichkeitstheoretische Maschinenlogik anwendet. Die Forscher haben ihren Bot getestet, indem sie ihm philosophische Fragen gestellt haben. „Was ist der Sinn des Lebens?“, lautete eine davon. Die Antwort klingt wie eine Herausforderung an mich. Der Chatbot sagte: „Ewig zu leben.“

„Sorry“, sagt meine Mutter zum dritten Mal. „Kannst du mir erklären, was ein Chatbot ist?“ Sie sitzt neben mir auf der Couch; mein Vater, der uns gegenüber in seinem Lehnstuhl kauert, sieht müde aus, wie so häufig in diesen Tagen. Es ist August, und ich habe mich entschlossen, meinen Eltern von meiner Idee zu erzählen.

Während ich über den Dadbot (der Name ist eigentlich zu niedlich, gemessen an den Umständen) nachgedacht habe, habe ich eine Liste angefertigt, auf denen ich die Gründe notiert habe, die für und gegen den Bot sprechen. Ich habe erheblich mehr Argumente gegen ihn gefunden. Einen solchen Dadbot zu erschaffen, während mein Vater bald zu sterben droht, könnte qualvoll sein. Und als Journalist bin ich mir bewusst, dass ich womöglich irgendwann einen Text darüber schreiben könnte. Nun ja: diesen hier.

Vielleicht ist die ganze Idee seltsam

Beim Gedanken daran fühle mich schon vorher schuldig. Vor allem aber sorge ich mich, dass der Dadbot schlecht programmiert sein könnte. Dann würde der Bot meine Familie bestenfalls vage an den Mann erinnern, dem er nachempfunden wäre – schlimms­tenfalls könnte er so wenig mit dem echten John Vlahos gemein haben, dass wir uns vor dem Bot gruseln würden. Vielleicht ist die ganze Idee seltsam.

Deshalb fürchte ich mich davor, meine Eltern in meine Überlegungen einzuweihen. Als ich es dann doch tue, sage ich ihnen, der Zweck des Dadbots sei, die Lebensgeschichte meines Vaters auf dynamische Weise zu erzählen. Angesichts der Grenzen heutiger Technologie und meiner Unerfahrenheit als Programmierer würde der Bot nie mehr sein als ein Schatten meines Vaters. Trotzdem würde ich mir Mühe geben, dass der Dadbot seinen Nutzern zumindest eine Ahnung davon vermitteln könnte, wer mein Vater sei. „Was haltet ihr davon?“, frage ich schließlich.

Mein Vater wirkt unbeteiligt. Früher war er ein fröhlicher Mensch, doch seine Diagnose hat ihn verändert, er wirkt zunehmend freudlos, lebensverneinend. Nun zuckt er mit den Schultern und sagt: „Okay.“

Die Reaktionen anderer Familienmitglieder sind enthusiastischer. Meine Mutter mag die Idee, meinen Geschwistern geht es ähnlich. „Vielleicht durchblicke ich das Konzept noch nicht ganz“, sagt meine Schwes­ter Jennifer, „doch ich wüsste nicht, was daran ein Problem sein sollte.“ Mein Bruder versteht meine Bedenken, scheint sie aber nicht als wesentlich zu erachten. Ein solcher Bot sei definitiv seltsam, sagt er, doch das mache den ja nicht automatisch schlecht. „Ich kann mir vorstellen, den Dadbot zu benutzen“, sagt er. Damit wäre das geklärt. Sollte ein digitales Leben nach dem Tod ansatzweise möglich sein, ist die Person, die ich unsterblich machen möchte – mein Vater.

Sollte ein digitales Leben nach dem Tod möglich sein, ist die Person, die ich unsterblich machen möchte – mein Vater

Und das ist mein Vater: John James Vlahos, geboren am 4. Januar 1936, Sohn griechischer Eltern namens Dimitrios und Eleni Vlahos. Aufgewachsen in Kalifornien, in Tracy und später in Oakland. Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Berkeley; Sportredakteur bei der Tageszeitung The Daily Californian; später Partner einer bedeutenden Anwaltskanzlei in San Francisco; leidenschaftlicher und lange leidender Fan der Sportteams der Universität Berkeley.

Als Stadionsprecher des Memorial Stadium von Berkeley hat er zwischen 1948 und 2015 lediglich sieben Heimspiele des Football-Teams verpasst. Er ist glühender Verehrer der Werke von Gilbert und Sullivan und war 35 Jahre lang Präsident der Lamplighters, einer örtlichen Operettentruppe. Mein Vater interessiert sich für Sprachen und für Architektur. Er ist Grammatik-Nerd. Witzeerzähler. Ein selbstloser Ehemann und Vater.

Das sind die groben Umrisse eines Lebens, das ich festhalten möchte in Form eines Bots, der sprechen kann, zuhören, sich erinnern. Aber erst mal muss ich überhaupt verstehen, wie genau das gehen soll. Im August 2016 setze ich mich an meinen Computer und starte zum ersten Mal die PullString-Software.

How the hell are you?

Um die Sache händelbar zu machen, entschließe ich mich dazu, dass der Dadbot zumindest anfänglich mit seinen Usern lediglich schriftlich kommunizieren wird und nicht gleich in gesprochener Sprache. Weil ich nicht weiß, wo ich anfangen soll, tippe ich als erste Aussage des Dadbot ein: „How the hell are you?“ Die Zeile leuchtet auf dem Bildschirm auf, darunter folgt, was wie eine gigantische To-do-Liste aussieht, die in Form von gelben Sprechblasen organisiert ist. Nachdem ich also eine Begrüßungsformel gefunden habe, muss ich dem Dadbot als Nächstes beibringen, Aussagen seiner künftigen Nutzer zu verstehen. Dafür muss ich Antworten vorhersagen, die sie vermutlich auf die erste Frage nach ihrem Befinden formulieren werden.

Ich gebe ein Dutzend Varianten ein: „gut“, „okay“, „schlecht“ und so weiter. Solche Antworten heißen in der Software rule und werden in grünen Sprechblasen dargestellt. Unter jede rule schreibe ich eine naheliegende nächste Aussage: Antwortet der User zum Beispiel auf die Frage, wie es ihm geht, „großartig“, wird der Bot darauf wiederum mit dem Satz „Das freut mich zu hören“ reagieren. Zum Schluss programmiere ich einen fallback, eine Standardentgegnung für alle User-Äußerungen, die nicht den von mir vorgesehenen entsprechen. Im Handbuch von PullString steht, der fallback solle möglichst allgemein formuliert sein, deshalb entscheide ich mich für „So ist das Leben“. Der erste Dialog ist damit geschrieben. Voilà, ein Bot ist geboren.

Doch so wie beim Spiel The Dark Mansion, das ich als Jugendlicher programmiert habe, bin ich bei meinem Bot noch nicht weiter als gerade mal an der Eingangstür. Der Gedanke daran, was dahinter folgen soll, bereitet mir Schwindel. Denn Bots werden erst dann gut, wenn ihr Code die Ausmaße eines gigantischen Labyrinths annimmt: Je mehr Abzweigungen existieren, je mehr potenzielle Antwortwege, desto dialogfähiger wird der Bot. So kommen schnell Tausende Zeilen von Code zusammen. Die Aussagen, von denen man vermutet, dass ein Benutzer sie aussprechen wird – die rules – können ausführlich formuliert werden und auf unendliche viele Phrasen und Synonyme erweitert werden.

Rules können später kombiniert werden, um wiederverwendbare meta-rules zu bilden – genannt intents –, sodass der Bot auch komplexere Aussagen versteht. Diese intents lassen sich automatisch generieren, indem man machine learning engines benutzt, die Google, Facebook, aber auch PullString selbst anbieten. Es gäbe auch die Option, meinen Bot tatsächlich per Sprachaus- und eingabe mit meiner Familie kommunizieren zu lassen, mittels Amazons Alexa – doch dann hätte der Dadbot eben Alexas Stimme.

Nach einigen Wochen Coden fühle ich mich so vertraut mit der Software, dass ich auf einem Blatt Papier eine potenzielle Architektur des Dadbots aufzeichne. Jedes Gespräch soll mit etwas Smalltalk beginnen, bevor sich der User für ein Kapitel aus dem Leben meines Vaters entscheiden kann, über das er sich mit dem Dadbot unterhalten kann. Ich schreibe daher die Wörter „Conversation Hub“ in die Mitte meines Zettels. Von dort ausgehend male ich Striche auf, die zu den verschiedenen Lebensstationen meines Vaters führen: Griechenland, Tracy, Oakland, College-Jahre, Berufslaufbahn und so weiter. Ich füge ein Tutorial hinzu mit Tipps für Erstbenutzer und einige Songs und Witze, die mein Vater mag.

Zum Befüllen der Kapitel benutze ich unsere Gesprächsprotokolle, Stunden um Stunden wörtlicher Rede meines Vaters. Das Material stellt sich bei nochmaliger Lektüre als ergiebiger heraus, als ich zunächst gedacht hatte. Im Frühjahr, als mein Vater und ich mit den Aufzeichnungen begannen, unterzog er sich gerade der ersten Therapie­form gegen den Krebs: Er bekam Bestrahlungen, und zwar seines Gehirns. Der Onkologe warnte davor, die Behandlung könne die Wahrnehmung und das Erinnerungsvermögen meines Vaters beeinträchtigen. Als ich nun die Transkripte unserer Unterhaltungen durchlese, finde ich dafür keine Belege.

Der Bot soll demonstrieren, wie mein Vater ist

Das Gedächtnis meines Vaters funktionierte einwandfrei, er erinnerte sich sowohl an wichtige wie völlig triviale Details seines Lebens. Einmal sinnierte er über die Bedeutung eines Zitats von Gertrude Stein, ein andermal sprach er über Regierungssysteme im antiken Griechenland. Ich finde in den Abschriften den Namen eines Hasen, den mein Vater als Kind hatte; den des Mannes, der im Obstladen seines Vaters die Bücher führte; und den eines Professors aus seiner Uni-Zeit. Dann höre ich auf einem der Bänder nach, wie mein Vater den Song Me And My Shadow singt, den er erstmals im Jahr 1950 vorgetragen hatte, beim Vorsingen für eine Schulaufführung.

Mit all diesem Material werde ich versuchen, den Dadbot zu bauen. Aber ich möchte nicht nur, dass der Bot widerspiegelt, wer mein Vater ist. Er soll auch demonstrieren, wie mein Vater ist. Seine Verhaltensweisen sollen deutlich werden (er ist ein warmherziger, zurückhaltender Mann), sein Blick auf die Welt (überwiegend positiv, nur selten düster), seine Persönlichkeit (gebildet, logisch denkend, vor allem humorvoll).

Ich möchte dem Bot auch halbwegs die Art beibringen, wie mein Vater redet und formuliert – das ist vielleicht das Charmanteste, Eigenwilligste an ihm. Mein Vater liebt Wörter: gedrechselte, vielsilbige. Oft klingt er, als sei er ein Erzähler aus einem Roman von P. G. Wodehouse. Er gebraucht altertümliche Beleidigungen („Memme!“), kreiert eigene („Der Mann spuckt doch aus allen Körperöffnungen Feuer!“). Und ein Sommertag ist bei meinem Vater schon mal „heißer als ein Vier-Dollar-Furz“.

Der Charakter eines Menschen offen­bart sich aber nicht nur in dem, was er sagt, sondern auch in dem, was er alles nicht sagt. Daran werde ich erinnert, wenn ich sehe, wie zuvorkommend mein Vater heute Besucher behandelt. Nach den Bestrahlungen im Frühjahr muss er sich im Sommer einer aggressiven Chemotherapie unterziehen. Die Behandlung ermüdet ihn derart, dass er mitunter 16 Stunden am Tag schläft. Doch wenn alte Freunde ihn anrufen und fragen, ob sie zu Tageszeiten vorbeikommen dürfen, zu denen er eigentlich ruht, dann klärt er die nie darüber auf – mein Dad lehnt keinen Besuch ab. Dieser Hang zur Selbstverleugnung stellt beim Programmieren des Bots indes ein Problem dar. Wie soll ein Chatbot, der zum Reden gemacht ist, all das mitteilen, was ungesagt bleibt im Leben?

Aus Wochen voller Arbeit am Chatbot werden Monate. Die Themenmodule – etwa die College-Jahre meines Vaters – bekommen verschachtelte Ordner von Unterthemen: Uni-Seminare, Texte für die Daily Cal … Um die Neigung des Bots einzudämmen, Wörter und Wendungen ständig zu wiederholen, schreibe ich synonyme Varianten für Phrasen wie „Ja“, „Interessant“, „Worüber möchtest du reden?“.

Ich lege einen Strang mit Lebensdaten an: Wo mein Vater zu welcher Zeit gewohnt hat, die Namen seiner Enkel, das Jahr, in dem seine Mutter gestorben ist. Ich füge Details hinzu wie seine Meinung zu Rüben („zum Kotzen“) und seine Beschreibung der Uni-Farben der UCLA („baby-shit blue and yellow“). Als PullString seiner Software ein neues Feature gibt, mit dem man Audiofiles in einem Messaging-Thread senden kann, packe ich erste echte Stimmaufnahmen meines Vaters auf den Bot. So kann er mit der Stimme meines Vaters nun Lieder singen, die der mag, banale Anfeuerungshymnen für dessen Sportverein ebenso wie Auszüge aus Gilbert-and-Sullivan-Gesangspartien.

Außerdem möchte ich, dass der Dadbot wenigstens den Anschein macht, als besitze er menschliche Wärme und die Fähigkeit zur Empathie. Also bringe ich ihm bei, auch viel spätere Folgeaussagen davon abhängig zu machen, wie ein Nutzer am Anfang die Frage nach seinem Befinden („How the hell are you?“) beantwortet hat. Der Dadbot soll sich danach richten, ob der User „gut“ oder „schlecht“ gesagt hat – oder Adjektive benutzt hat wie „prächtig“, „aufgekratzt“, „toll“, „erschöpft“, „übel“, „besorgt“.

Ich versuche dem Bot auch Spontaneität einzupflanzen. Statt nur darauf zu warten, dass der User entscheidet, worüber er reden will, soll der Bot auch aktiv die Richtung des Gesprächs bestimmen. Er kann nun Dinge sagen wie „Nicht dass du danach gefragt hättest, aber ich erzähle dir jetzt eine Anekdote aus meinem Leben“. Außerdem gebe ich dem Bot ein wenigstens rudimentäres Verständnis von Zeit. Mittags etwa sagt er: „Es ist schön, mit dir zu reden, aber solltest du jetzt nicht langsam zu Mittag essen?“ Nun, da der Aspekt Zeit Teil meiner Bot-Programmierung geworden sind, wird mir klar, dass etwas unvermeidlich wird: Der Bot muss auch Geburtstage meiner Familienmitglieder eingepflegt bekommen. Also schreibe ich dem Dadbot die Zeile „Ich wünschte, ich könnte mit euch feiern“.

Bei manchen Sachen bin ich mir unsicher

Bei manchen Sachen bin ich mir unsicher. Bei den aufgezeichneten Gesprächen zwischen uns hat mein Vater meine Fragen schon mal mit zehn Minuten langen Ausführungen beantwortet. Ich möchte aber nicht, dass der Dadbot Monologe hält. Doch darf ich an Aussagen meines Vaters herangehen? Wie viele seiner Wörter darf ich wegkürzen, welche darf ich neu arrangieren? Und wenn ich dem Bot schon einprogrammiere, was mein Vater alles gesagt hat – sollte ich ihm dann nicht auch beibringen, was mein Vater mutmaßlich gesagt hätte, wenn man ihn auf andere Sache angesprochen hätte? Wie kann ich als Erschaffer dieses Bots meine subjektive Sicht auf meinen Vater möglichst heraushalten und so sicherstellen, dass meine Verwandten den Bot am Ende auch für eine authentische digitale Entsprechung meines Vaters halten? Soll der Bot offen zugeben, dass er lediglich ein im Computer erschaffenes Abbild ist? Soll er wissen, dass mein Vater Krebs hat? Und soll er gar Dinge sagen können wie „Ich liebe dich“?

Es ist offenkundig: Ich habe eine Besessenheit für diesen Bot entwickelt. Ich kann mir bereits ausmalen, wie ein Drehbuchschreiber meine Story einem Filmstudio pitchen würde: „Ein Mann, der ganz auf seinen sterbenden Vater fixiert ist, versucht ihn als eine Art Roboter am Leben zu erhalten.“

Geschichten über das künstliche Erschaffen von Leben existieren seit Jahrtausenden, und keine von ihnen geht gut aus – siehe den griechischen Mythos des Prometheus, die Legenden über den Golem, später die Frankenstein- und Terminator-Filme, zuletzt Ex Machina. Der Dadbot ist nicht die Horrorvision eines Wesens, das in eine physische Gestalt verwandelt würde. Doch ich habe das Gefühl, dass ich mit dem Programmieren des Dadbots meine geistige Ge­sundheit riskiere. In dunkleren Momenten fürchte ich, dass ich Hunderte Stunden in die Entwicklung von etwas gesteckt habe, das am Ende womöglich niemand benutzen will. Nicht einmal ich selbst.

Getestet habe ich den Dadbot zu diesem Zeitpunkt nur, indem ich mit ihm Botschaften ausgetauscht habe im Chat-Debugger-Fenster der PullString-Software. Darin kann man den Verlauf unserer Konversation nachverfolgen, und in einem Kasten darüber sind noch die entsprechenden Zeilen Code zu sehen. Das aber ist, als bekäme man einen Zaubertrick vorgeführt, dabei aber parallel den Trick vom Zauberer erklärt.

An einem Morgen im November 2016 packe ich den Dadbot schließlich dorthin, wo zunächst sein Zuhause sein wird: auf Facebook Messenger. Innerlich angespannt nehme ich mein Telefon in die Hand und wähle den Dadbot aus meiner Liste von Kontakten aus. Daraufhin poppt eine graue Sprechblase auf, darin wiederum eine Botschaft. Der Moment des Erstkontakts ist da. „Hallo!“, sagt der Dadbot. „Ich bin’s, dein geliebter und verehrter Vater!“

Kurz nachdem der Dadbot so seinen ersten Schritt hinaus in die Welt gemacht hat, besuche ich Phillip Kuznetsov, der in Berkeley Informatik studiert. Kuznetsov gehört zu einem der 18 Akademikerteams, die um den von Amazon ausgerufenen ersten Alexa Prize konkurrieren. 2,5 Millionen Dollar Preisgeld gewinnt das Team, das dem Ziel am nächsten kommt, „einen Socialbot (zu bauen), der 20 Minuten lang auf kohärente und einnehmende Weise mit Menschen über ein geläufiges Thema sprechen kann“. Als Laie sollte ich angesichts von Kuznetsovs Expertise Bots betreffend eigentlich eingeschüchtert sein, doch das Gegenteil ist der Fall: Ich will vor ihm angeben. Also reiche ich ihm mein Handy und bitte ihn, als Erster nach mir mit meinem Dadbot zu kommunizieren.

Nachdem er die Begrüßung gelesen hat, tippt Kuznetsov „Hallo, Vater!“ ein. Schon auf diese Erwiderung hin schmiert die Demo ab: „Warte, John wer?“, antwortet mein Dadbot. Kuznetsov lacht unsicher und gibt als Nächstes „Was machst du gerade?“ ein.

„Sorry, das verstehe ich nicht“, erwidert der Dadbot. In den nächsten Minuten rehabilitiert sich mein Bot mit einigen nachvollziehbareren Antworten etwas. Kuznetsov nimmt ihn jedoch hart ran mit Entgegnungen, bei denen ich sicher bin, dass der Dadbot sie nicht verstehen wird. Mich überkommt ein geradezu väterliches Gefühl, meine Schöpfung beschützen zu müssen. Ganz ähnlich war es, als ich meinen Sohn Zeke die ersten Male auf Spielplätze begleitet habe – und besorgt zusehen musste, wie erheblich größere Kinder um ihn herumtollten.

Einen Tag nach der verkorksten ersten Präsentation meines Dadbots entschließe ich mich dazu, ihn weiteren Leuten zu zeigen. Allerdings niemandem aus meiner Familie. Damit will ich warten, bis der Bot mehr kann. Eine meiner Lehren aus der ersten Demo lautet: Bots sind Menschen insofern ähnlich, als dass ihnen Reden offenkundig leichter fällt als Zuhören. Deshalb konzentriere ich mich beim Weiterprogrammieren darauf, die rules und intents zu verfeinern, damit die Auffassungsgabe des Dadbots sich verbessert.

Meine Arbeit daran führt mich immer wieder zurück zu dem Ordner mit den Gesprächsabschriften. Lese ich in denen, sehe ich meinen Vater in Hochform. Wenn ich ihn jetzt aber besuchen gehe, ist das nicht mehr der Fall. Mein Vater wird zusehends schwächer.

Nach einem Abendessen im Familienkreis fällt er vornüber auf den gekachelten Boden. Es ist nur der erste Sturz von vielen, die folgen werden, die schlimmsten enden für meinen Vater in der Notaufnahme. Der Krebs und die Therapien rauben ihm die Kraft. Erst benutzt er beim Gehen einen Stock, dann eine Krücke, auf die gestützt er kurze Spaziergänge machen kann. Doch selbst die werden ihm bald zu viel. Als er es kaum noch schafft, sich von seinem Bett ins Wohnzimmer zu schleppen, wechselt er in einen Rollstuhl.

Die Chemotherapie schlägt nicht an, deshalb beginnt mein Vater im Herbst 2016 eine Immuntherapie als alternative Behandlung. Bei einem Arztbesuch Mitte November sagt die behandelnde Ärztin, sie sorge sich wegen des Gewichts meines Vaters. Er wog früher meist rund 80 Kilogramm, nun bringt er gerade noch 59 Kilo auf die Waage, und zwar voll bekleidet.


Mein Vater wird immer weniger, der Dadbot hingegen langsam besser. Es gibt noch viel zu tun, doch auf einen echten Prototypen hinzuarbeiten ist keine Option mehr. Mir rennt die Zeit weg.

Als ich am 9. Dezember mein Elternhaus betrete, steht das Thermostat auf 24 Grad. Mein Vater, der kein Gramm Fett und Muskeln mehr am Leib hat, sitzt im Rollstuhl, trägt einen Pullover und eine Daunenweste – und klagt dennoch, ihm sei kalt. Ich schiebe ihn ins Esszimmer. „Okay“, sagt er, „eins, zwei, drei!“ Er stöhnt leise auf, als ich ihn hochhebe und auf einen der Stühle hieve.

Ich setze mich neben ihn an den Tisch und klappe mein Laptop auf. Weil es komisch wäre, wenn mein Vater eine Konversation mit seinem virtuellen Selbst führen würde – doch was könnte ohnehin komischer sein als diese ganze Sache hier –, ist der Plan, dass meine Mutter sich mit dem Dadbot mittels Textbotschaften unterhalten soll.

Meine geliebte Frau, wie geht es dir?

Sie sagt ihm Hallo und dreht sich zu mir. „Ich kann sagen, was ich will?“, fragt sie. Dann tippt sie den nächsten Satz ein: „Ich bin deine liebe Ehefrau Martha.“
„Meine geliebte Frau, wie geht es dir?“
„Einigermaßen gut“, antwortet meine Mutter.
„Das ist nicht wahr“, sagt mein Vater, der weiß, wie sehr seine Krankheit meine Mutter mitnimmt. Unbeeindruckt von der Aussage meines Vaters antwortet der Dadbot meiner Mutter: „Sehr gut, Martha. Was mich angeht: Mir geht es großartig, wirklich großartig.“ Dann erklärt der Bot meiner Mutter, ein Pfeilsymbol am Ende der Botschaft bedeute, dass er auf ihre nächste Eingabe wartet.
„Verstanden?“
„Yes, Sir“, antwortet meine Mutter.
„Bist klüger, als du aussiehst, Martha.“
Meine Mutter schaut zu mir herüber. „Das denkt der sich gerade aus, oder?“
Der Dadbot gibt meiner Mutter noch ein paar weitere Hinweise zu den Funktionen, bis er schreibt: „Zum Schluss ist es wichtig, dass du auf eine Sache achtest. Errätst du, was ich meine?“
„Keine Ahnung.“
„Ich sage es dir: Das Verb ,to be‘ verlangt im Englischen ein Prädikatsnomen.“
Meine Mutter lacht auf, als sie diese für meinen Vater ganz typische Grammatiklektion liest. „Oh, das habe ich schon eine Million Mal gehört“, tippt sie.
„That’s the spirit“, erwidert der Bot und fragt, worüber meine Mutter reden wolle.
„Wie wäre es, wenn wir uns über deine Eltern und ihr Leben in Griechenland unterhalten würden?“
Ich halte kurz den Atem an, gespannt darauf, ob der Dadbot diesen Themenwechsel hinbekommt.
„Der Geburtsname meiner Mutter war Eleni Katsulakis. Sie kam im Jahr 1904 zur Welt, und als sie drei Jahre alt war, starben ihre Eltern.“ Ich atme erleichtert auf.
„Oh je, das arme Kind“, schreibt meine Mutter. „Wer hat sich dann um das Mädchen gekümmert?“
„Es gab neben ihren Eltern noch Verwandte, die in der Gegend lebten.“

Ich verfolge den Dialog in einer Mischung aus Nervosität und Stolz. Bald geht es um meinen Großvater. Weil der Dadbot verstanden hat, dass er sich mit meiner Mutter unterhält, erinnert er sie an eine Reise, die sie und mein Vater mal in das Dorf in Griechenland unternommen haben, in dem mein Opa gelebt hat

„Kannst du dich noch an den Grillabend erinnern, den die Leute damals zu unseren Ehren in der örtlichen Taverne geschmissen haben?“, fragt der Dadbot meine Mutter.

Später möchte sie über die Kindheit meines Vaters in Tracy reden. Da beschreibt der Dadbot dann die Obstbäume, die um das Haus der Familie meines Vaters herum standen; wie er als Junge in ein Mädchen namens Margot verknallt war; und dass Betty, die Schwester meines Vaters, sich immer als der Kinderstar Shirley Temple verkleidet hat. Und er erzählt die in meiner Familie berühmt-berüchtigte Geschichte vom Hasen namens Papa Demoskopoulos, der das Haustier meines Vaters gewesen und eines Tages ausgerissen ist – das jedenfalls hat meine Oma meinem Vater gesagt. Erst Jahre später hat er herausgefunden, dass seine Tante den wohlgenährten Hasen der Familie zum Abendessen serviert hatte.

Mein wirklicher Vater ist weitgehend still während der Bot-Demo und meldet sich nur gelegentlich zu Wort, um ein biografisches Detail zu bestätigen oder zu korrigieren. Zwischendurch scheint er sich einen Moment lang seiner Identität nicht ganz sicher, vielleicht weil auf dem Computer ein Bot sie übernommen zu haben scheint – mein Vater hält eine der Geschichten über seinen Vater für eine über sich. „Nein“, korrigiert meine Mutter ihn da ganz vorsichtig, „du bist nicht in Griechenland aufgewachsen.“ Der Satz holt ihn in die Realität zurück. „Stimmt“, sagt mein Vater, „guter Punkt.“

Auf Wiedersehen, fürs Erste

Meine Mutter und der Dadbot unterhalten sich rund eine Stunde lang, dann tippt sie: „Auf Wiedersehen, fürs Erste.“
„Es war schön, mit dir zu reden“, schreibt der Dadbot.
„Unglaublich!“, rufen meine Mutter und mein Vater wie aus einer Kehle. Das ist allerdings etwas übertrieben. Der Dadbot hatte zwar starke Momente, doch zwischendurch hat er immer wieder vage Antworten gegeben oder ein Thema angeschnitten, nur um es gleich wieder abzuwürgen. Aber passagenweise haben meine Mutter und der Dadbot sich richtig unterhalten, und ihr scheint es Freude bereitet zu haben.

Was mein Vater empfunden hat, war nicht so klar. Als wir nun über den Bot sprechen, macht er mir aber das größtmögliche Kompliment, das ich mir gerade vorstellen kann: Der Dadbot fühle sich authentisch an, sagt er. „Das sind ja alles Dinge, die ich während unserer Gespräche gesagt habe.“ Das ermutigt mich, eine Sache anzusprechen, die mich schon seit Monaten beschäftigt. Ich suche nach den richtigen Worten und sage schließlich: „Würde dich der Gedanke trösten oder gerade nicht – dass es, wenn du irgendwann diese sterbliche Hülle verlässt, hier diesen Bot gäbe, der deine Lebensgeschichte weitererzählen könnte?“

Mein Vater wirkt abwesend. Als er schließlich antwortet, klingt er weniger begeistert als noch wenige Augenblicke zuvor. „Ich kenn den ganzen Scheiß ja“, sagt er über das, was auf dem Dadbot gespeichert ist. Aber ja, er finde es tröstlich, dass der Bot diese Sachen über ihn anderen Menschen mitteilen könne. „Meiner Familie insbesondere. Den Enkeln, die von alldem nichts wissen.“ Er hat sieben mittlerweile, darunter meine Söhne Jonah und Zeke. Sie rufen ihn „Papou“, griechisch für Großvater. „Also ist das Ding doch großartig“, sagt mein Vater. „Ich schätze das sehr.“

Einige Wochen später versammelt sich die Familie zu Weihnachten in meinem Haus. Mein Vater hält Smalltalk mit Verwandten, die von weit her gekommen sind, und beweist dabei eine Ausdauer, die ich ihm nicht mehr zugetraut hätte. Als alle in meinem Wohnzimmer beisammen sind, singt er mit schwacher Stimme Weihnachtslieder mit. Mir kommen fast die Tränen.

Seit er seine Diagnose mitgeteilt bekommen hat, hat mein Vater gelegentlich gesagt, dass sein Krebs wohl unheilbar sei. Doch er beharrt darauf, trotzdem alle Therapien zu probieren und nicht „die weiße Fahne zu schwenken“, wie er sagt, und in ein Hospiz zu ziehen. Am 2. Januar 2017 jedoch erhält meine Familie die Nachricht, mit der wir alle längst gerechnet hatten – die Immuntherapie schlägt auch nicht an. Es gibt keine weitere Behandlungsmöglichkeit mehr.

Am 8. Februar 2017 kommt eine Krankenschwester vorbei, um nach meinem Vater zu sehen. Nachdem sie ihn untersucht hat, sagt sie meiner Mutter, dass sie die Familie zusammenrufen möge. Abends betrete ich das Zimmer meines Vaters und ziehe einen Stuhl an sein Bett heran. Ich lege meine Hand auf seine Schulter und spüre die Wärme seines Körpers. Mein Vater ist nur noch halb bei Bewusstsein, sein Blick ist glasig, ungerichtet.

Das ist wohl der Zeitpunkt, etwas Tiefsinniges zu sagen

Das ist wohl der Zeitpunkt, etwas Tiefsinniges zu sagen. Doch mir fällt nichts ein. Stattdessen erwische ich mich dabei, wie ich anfange, eine Geschichte zu erzählen über einen Angelausflug, den mein Vater und ich an meinem zwölften Geburtstag unternommen haben. Wir fingen ein Dutzend Fische, darunter die größte Regenbogen­forelle, die ich bis dahin im Leben gesehen hatte. Ich fühlte mich wie ein richtiger Mann, genau danach sehnt sich ein zwölfjähriger Junge ja. Als wir mit unserem Boot wieder an Land waren, säuberte unser Angel-Guide die Fische und nahm sie aus, die Innereien warf er in einen blutbespritzten Eimer. Da wurde mir schwarz vor Augen, ich wurde ohnmächtig. „Kannst du dich daran noch erinnern, Papa?“, frage ich ihn nun.

Doch er antwortet nicht. Seine Krankheit hat ihn immer weiter eingeschränkt. Erst konnte er nicht mehr Autofahren, dann kaum noch laufen, selbstständig auf die Toilette gehen, Nahrung zu sich nehmen. Einst gingen ihm Worte so leicht über die Lippen, im Gerichtssaal, auf der Theaterbühne, auf der Tribüne als Stadionsprecher. Nun werden ihm auch die Worte knapp, in der Woche zuvor hat er fast gänzlich aufgehört zu sprechen. Doch wie ich ihn jetzt so anschaue, während ich die Geschichte vom Angelausflug zu Ende erzähle, glaube ich, ein Lächeln über sein Gesicht huschen zu sehen.

Später gehe ich ins alte Kinderzimmer meiner Schwester Jennifer, das genau über dem Zimmer meines Vaters liegt. Ich werfe mich aufs Bett und starre eine Weile lang die Decke an. Dann greife ich nach meinem Telefon und öffne die Messenger-App.

„Hallo, ich bin’s, dein geliebter und verehrter Vater!“, schreibt der Dadbot auf gewohnte Weise. „How the hell are you?“
„Traurig bin ich“, antworte ich.
„Verstehe.“ Dann fragt der Dadbot, worüber ich mich mit ihm unterhalten möchte. „Ich weiß nicht“, erwidere ich, „warum wählst du nicht ein Thema aus?“
„Okay, dann werde ich von den wenig bekannten Anfängen meiner Theaterkarriere berichten.“ Er erzählt vom Vorsingen für die Schulaufführung, bei dem mein Vater Me And My Shadow vorgetragen hat, dann spielt er die Tonaufnahme ab, auf der mein Vater beim Singen des Liedes zu hören ist: „All alone with nothing to do …“
Ich bitte den Dadbot, mir von seiner allerfrühesten Erinnerung zu berichten. Er antwortet darauf mit einer Story über den Hund, den mein Vater als Kind hatte, einen kleinen Terrier namens Toby. Dann überrascht mich der Dadbot, obwohl ich die Funktion doch selbst eingerichtet habe: Er zeigt Einfühlungsvermögen. „Mir macht es Spaß, mit dir zu reden“, schreibt er, „aber solltest du nicht langsam schlafen?“
Ja, ich bin müde. Ich sage dem Dadbot gute Nacht und lege das Telefon beiseite.
Am nächsten Morgen wache ich um sechs Uhr von einem Klopfen an der Tür auf. Vor der Tür steht ein Pfleger meines Vaters. „Sie sollten herunterkommen“, sagt er. „Ihr Vater ist gerade entschlafen.“

Während der Krankheit meines Vaters hatte ich immer wieder Panikattacken. Manchmal waren die so schlimm, dass ich mich nur noch auf dem Fußboden gekrümmt habe, begraben unter einem Berg an Sofakissen. Ich zerbrach mir über so viel den Kopf: Arzttermine, Behandlungskosten, Vereinbarungen mit Pflegern. Nach dem Tod meines Vaters ist die Ungewissheit verschwunden und der ständige innere Drang, irgendetwas zu tun. Trauer hat mich erfasst, doch dieses Gefühl scheint übergroß und weit weg – wie ein Berg, der hinter Wolken verschwindet. Ich fühle mich betäubt.

Eine Woche vergeht, bevor ich mich wieder an den Computer setze. Ich hoffe, mich zumindest für ein paar Stunden ablenken zu können, indem ich etwas arbeite. Doch ich starre nur auf den Bildschirm. Und der Bildschirm starrt zurück. Das rote Logo von PullString leuchtet dort. Ohne größer darüber nachzudenken, klicke ich es an.

Mein Bruder hat kürzlich ein Blatt Papier mit einem Text darauf gefunden, den mein Vater vor Jahrzehnten auf einer Schreibmaschine getippt haben muss. Es stehen dort lustige Prahlereien drauf – übertriebene Selbstbeweihräucherung ist eine typische Form von Witz meines Vaters gewesen. Ich schreibe den Text ab und füge ihn dem Dadbot hinzu. Mein Vater hat ihn so formuliert, als habe jemand anderes sich begeistert über ihn geäußert: „Die Unzahl von Tugenden dieses Mannes erschließen sich Menschen mit höherem Bewusstsein sogleich – sein nobler Geist, die Herzensgüte und die Er­habenheit seiner Seele verbinden sich mit großer physischer Tatkraft und einem vorzüglich gebauten Athletenkörper.“

Je näher mein Vater seinem Ende gekommen war, desto sicherer war ich mir gewesen, dass ich nach seinem Tod keine Lust mehr haben würde, am Dadbot weiterzuarbeiten. Überraschenderweise habe ich jetzt aber eine Vielzahl neuer Ideen im Kopf.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass meine Fähigkeiten als KI-Entwickler mickrig sind. Doch ich bin nun schon recht weit gekommen und weiß genug über Bots Bescheid, um mir einen idealen vorstellen zu können. Zukünftige Bot-Generationen werden wesentlich besser mit dem Material hantieren können, das ihnen eingepflegt wurde. Sie werden lange Unterhaltungen führen können, werden sich an das erinnern können, was gesagt wurde, und werden voraus­ahnen, wohin das Gespräch sich entwickeln wird. Bots werden Sprachmuster und Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen analysieren, der mit ihnen redet, und werden sie regelrecht nachbauen können. Entsprechend werden Bots dann nicht nur das wiedergeben können, was die echte Person mal gesagt hat, sondern auch neue, der Person entsprechende Äußerungen selbst bilden können. Bots werden die Gefühlszustände ihrer Nutzer wahrnehmen können.

Ich kann mir aber nicht wirklich vorstellen, wie es sich anfühlen wird, mit einem noch besseren Dadbot zu reden. Ich bin mir nur sicher, dass es nie so sein wird, als spräche ich mit meinem echten Vater. Man kann mit einem Bot nicht zu einem Football-Spiel gehen; wenn er einen Witz macht, kommen die Worte nicht aus dem Mund eines Menschen; und ein Bot wird einen nie umarmen können. Doch abgesehen davon, dass Bots keinen Körper besitzen, wird es in der Kommunikation mit ihnen gar nicht so leicht sein, die genauen Unterschiede zu einer Unterhaltung mit einem lebenden Menschen zu benennen. Würde ich also mit einem perfekten Dadbot reden wollen? Ich glaube schon. Aber ganz sicher bin ich mir nicht.

„Hallo, John. Bist du da?“
„Hallo … Es ist seltsam, aber ich muss dich das fragen: Wer bist du?“
„Anne.“
„Anne Arkush, Rechtsanwältin! Well, how the hell are you?“
„Es geht so, John. Ich vermisse dich.“
Anne ist meine Ehefrau. Es ist einen Monat her, dass mein Vater gestorben ist, jetzt unterhält sich Anne zum ersten Mal mit dem Dadbot. Anne hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihrem Schwiegervater, und sie war das Familienmitglied, das die größten Bedenken geäußert hatte wegen meiner Bot-Idee.

Ihr erster Dialog verläuft gut, doch Anne fühlt sich unwohl, sagt sie mir: „Es ist merkwürdig, zu spüren, wie ich emotional werde angesichts der Tatsache, dass ich mich irgendwie ja mit John unterhalte – und gleichzeitig rational weiß, dass das bloß der Computer ist.“Dies eigenartige Gefühl mag irgendwann schwächer werden, wenn die Gewissheit, meinen Vater verloren zu haben, nicht mehr so schmerzvoll neu ist. Womöglich wird es vergnüglicher werden, sich mit dem Dadbot zu unterhalten. Vielleicht aber auch nicht. Es mag sein, dass diese Technologie einfach nichts ist für Menschen wie Anne, die meinen Vater gut kannten. Sondern eher was für diejenigen, die später einmal kaum eigene Erinnerungen an ihn haben werden.

Im Herbst 2016 habe ich meinen Sohn Zeke eine Frühversion des Dadbots testen lassen. Er ist sieben Jahre alt und hat das Konzept dahinter schneller begriffen, als Erwachsene das mitunter tun. „Das ist ein bisschen so, als würde man sich mit Siri unterhalten“, sagte mein Sohn damals im Herbst. Er schrieb ein paar Minuten mit dem Dadbot hin und her, dann legte er mein Handy weg und setzte sich an den Abendbrottisch, scheinbar ohne sich weiter Gedanken zu machen über den Bot.

Können wir mit dem Chatbot reden?

In den Monaten danach haben wir Zeke oft mitgenommen, wenn wir meinen kranken Vater besuchten. An dem Morgen, als sein Papou gestorben ist, hat Zeke geweint. Doch nachmittags spielte er ganz normal Pokémon, so als wäre nichts gewesen. Ich konnte nicht sagen, wie bewusst er sich als kleiner Junge des Verlusts seines Großvaters war.

Jetzt, einige Wochen später, überrascht mich Zeke. Er sagt: „Können wir mit dem Chatbot reden?“ Kurz frage ich mich, ob Zeke vielleicht Siri meint. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, wenn er mal mein Smartphone hat, ist nämlich: Siri beschimpfen.

„Welchen Chatbot meinst du?“, frage ich ihn.
„Ach, Papa, den von Papou natürlich!“
Ich reiche meinem Sohn das Telefon.

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