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Das Netflix-Erfolgsgeheimnis: Perfekt berechnete Blockbuster

von Karsten Lemm
Je vertrauter, desto besser: Weil der Streaming-Dienst genau weiß, was seine Nutzer klicken, kann er ihnen ganz individuell ein Wunschprogramm präsentieren. Dabei entstehen Kategorien, die es sonst nirgends gibt im Netz. Und Filme wie „Bright“ mit Will Smith, die Netflix für den hauseigenen Medienmix selbst produziert.

Mal angenommen, man hätte knapp hundert Millionen Dollar zur Verfügung, um einen Film zu produzieren, der kleine und große Jungs begeistern soll: Wäre es nicht großartig, schon vorab zu wissen, was das Publikum sich wünscht? Als Hollywood-Studio müsste man sich auf Umfragen verlassen oder ein vages Bauchgefühl. Ein Streaming-Dienst dagegen, der sein Publikum seit Jahren beobachtet, weiß genau, was bei der Zielgruppe gut ankommt: Kumpelszenen zwischen ungleichen Cops zum Beispiel, Fantasy-Wesen, viel Geballer und Verfolgungsjagden sowie hier und da ein bisschen nackte Haut.

So ähnlich muss Bright entstanden sein, eine alles andere als helle Mega-Produktion, die Netflix am 22. Dezember zeitgleich in über 190 Ländern veröffentlicht. 117 Minuten lang hetzen da Will Smith und sein Partner – ein Ork mit Knorpel-Ohren und gräulichem Teint – durch ein düsteres Los Angeles der Zukunft. Wenn die beiden sich nicht mit viel „Fuck, shit, yeah“ über ihren Alltag unterhalten, jagen sie Elben, die einen Zauberstab besitzen und damit die Welt ins Verderben stürzen wollen.

Warum? Egal. Originell ist ohnehin nichts an diesem Film: Jede Szene wirkt wie ein müder Abklatsch von Terminator, Mad Max oder Men in Black. Jede Dialogzeile klingt, als habe ein Thermomix für Drehbuchschreiber sie aus alten Vorlagen zusammengerührt. Manches grenzt an Selbstparodie: Etwa, wenn Kugeln in Zeitlupe durch die Luft fliegen und die Kamera dabei um sie herumkreist. Als Matrix herauskam, war das noch ein Wow-Effekt: 1999. Vor fast zwanzig Jahren.

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Originell zu sein ist aber gar nicht das Ziel von Bright. Im Gegenteil: je vertrauter, desto besser. Science-Fiction und Fantasy, Action und Thriller, Buddy-Movies mit humorigen Dialogen – solche Filme gehören zu den Publikumslieblingen auf Netflix. „Und wenn man alles kombiniert, kann man sich ausrechnen, wie groß das Zuschauerpotenzial ist“, sagt Yann Lafargue, Pressesprecher für Netflix Europa. „Wir glauben, dass Bright ein großer Hit wird.“

Die Mega-Produktion steht symbolisch für die Entschlossenheit, mit der Netflix großes Kino in die kleine Stube holen möchte: Acht Milliarden Dollar wollen die Kalifornier im kommenden Jahr für Inhalte ausgeben, den Großteil davon selbst produziert. Was mit Serien wie House of Cards oder Narcos begann, wird nun konsequent auf Spielfilme ausgeweitet. Allein 2017 finanzierte Netflix gut zwei Dutzend Dramen, Comedies und Thriller. So will der Streamindienst seine Abhängigkeit von Hollywood verringern.

Bright ist nur eine von vielen Produktionen, die Netflix in den kommenden Monaten auf sein Publikum loslassen wird. Mehr als 600 Projekte hat der Streaming-Dienst nach eigenen Angaben in Arbeit, darunter 80 Spielfilme. Auch Dark, die erste deutsche Netflix-Serie, soll weitergehen und bekommt eine zweite Staffel. Schon kurz nach dem Start sei das düstere Mystery-Drama zu einer der „am meisten gesehenen nicht-englischsprachigen Serien auf Netflix“ geworden, jubelt der Video-Dienst.

Solche Eigenproduktionen sind für Netflix immer wichtiger, denn die Kalifornier haben ein Problem: Je erfolgreicher ihr Streaming-Angebot wird, umso größer der Neid der Studiobosse. Gerade hat Disney angekündigt, für 52 Milliarden Dollar den Großteil von 21st Century Fox zu übernehmen. Erklärtes Ziel: Einen Streamingdienst aufbauen, der es mit Netflix aufnehmen kann. Und mit Amazon sitzt dem Pionier des digitalen Showgeschäfts bereits ein weiterer aggressiver Gegner im Nacken. Dazu kommen Apple, Google, Facebook und zahlreiche nationale Rivalen wie hierzulande Maxdome. Sie alle kämpfen um die gleiche knappe Ressource: Zeit.

Wie viele Streamingdienste braucht ein Mensch, wenn der Feierabend immer zu kurz ist? Also muss Netflix Zeit vom Fernsehen und dem Kino stehlen. Mit filmreifen Produktionen und technischen Extras, die das Erlebnis aufwerten sollen – etwa hochwertigem Surround Sound oder einem besseren Bild.

Für beides arbeitet Netflix mit Dolby zusammen. Bei einer Präsentation in Berlin zeigten die beiden kalifornischen Firmen, wie Home Entertainment hollywoodreif werden kann – sofern Nutzer moderne Klangsysteme und hochwertige Fernseher besitzen: Soundbars sollen den Rundumklang aus dem Kino simulieren, indem sie Töne an der Decke reflektieren. So könnte etwa ein Hubschrauber beeindruckend realistisch über die Köpfe der Zuschauer hinweg ziehen.

Und während hochauflösende Bilder in 4K (auch Ultra-HD genannt) kaum noch etwas Besonderes sind, setzen Streamingdienste und TV-Hersteller auf die nächste Technologie: HDR. Das steht für High-Dynamic Range und bezeichnet die Fähigkeit moderner Displays, ein größeres Farbspektrum darzustellen und den Bildern deutlich mehr Kontrast zu verleihen. Leuchtkraft und Sättigung übertreffen die herkömmlichen TV-Standards um ein Vielfaches. Deshalb sind Filmstudios eifrig dabei, HDR-Versionen ihrer Tophits zu produzieren. Blockbuster wie Titanic und Der Herr der Ringe werden digital neu gemastert – ähnlich, wie Musikproduzenten einst ihre Originalaufnahmen für die CD aufhübschen konnten.

Noch ringen mit Dolby Vision und HDR+ zwei unterschiedliche Standards um die Vorherrschaft im Heimkino. Netflix unterstützt vorsorglich beide. Allerdings müssen Abonnenten bereit sein, 14 Euro im Monat für das Premium-Paket zu bezahlen, und mit etwa 2000 Stunden Unterhaltung ist das HDR-Programm bislang überschaubar.

Dennoch gibt sich Netflix zuversichtlich, durch diese Extras näher ans Kinoerlebnis heranzukommen: „Wir schließen die Lücke“, sagt Produktchef Greg Peters. Auch Virtual Reality könne er sich im nächsten Schritt vorstellen – ohne sicher zu sein, dass Netflix-Nutzer sich wirklich danach sehnen: „Vielleicht wollen wir uns abends einfach nur zurücklehnen“, sagt Peters. Aber ausprobieren will er es auf jeden Fall, denn am Ende zählt, was die Zahlen sagen.

Weil Netflix jeden Klick auswertet, weiß der Streamingdienst, was die Zuschauer wollen. Theoretisch werden Megaproduktionen wie Bright dadurch weniger riskant: Während Hollywood-Studios hoffen müssen, den Großteil ihrer Kosten an ein paar Kinowochenenden einzuspielen, kann Netflix darauf bauen, dass jeder eigene Film das Angebot attraktiver macht. „Wir produzieren mehr Inhalte und steigern damit den Wert“, erklärt Peters.

Solange Abonnenten am Ende das Gefühl haben, Monat für Monat mehr als genug Programm für ihr Geld zu bekommen, geht die Rechnung auf. Das kann aber nur gelingen, wenn Netflix jeden Film und jede Serie so gut kennt, dass Algorithmen immer das vorschlagen, was die Nutzer wirklich sehen möchten. Etwa 109 Millionen Abonnenten zählt Netflix aktuell. Da viele Konten von mehreren Personen genutzt werden – etwa in Familien –, kämen etwa 250 Millionen Profile zusammen, sagt Peters: „Jedes steht für die Vorlieben eines einzelnen Menschen.“

Aus allen Einsichten über angefangene und abgebrochene Filme, über viele Klicks hier und weniger Klicks da, versuchen die Algorithmen, den individuellen Geschmack herauszulesen. Es soll das perfekte Programm zusammengestellt werden: „Wir erzeugen buchstäblich 250 Millionen unterschiedliche Versionen von Netflix“, erklärt Peters.

Dabei kommen ganz neue Kategorien heraus, etwa Romantische Komödien mit schwarzem Humor oder Preisgekrönte Thriller mit weiblichen Helden. Voraussetzung für solche Vorschläge ist eine Datenbank, die für jede Show 200 bis 300 Stichwörter enthält. „Das Wissen, das wir ansammeln, unterscheidet uns von anderen Diensten“, sagt Mike Hastings, der mit seinem Team dafür verantwortlich ist, jeden Film und jede Folge einer TV-Serie mit Schlagworten zu versehen. So sollen die Algorithmen besser begreifen, wovon die Sendungen handeln, welche Gefühle sie wecken und womit sie sich vergleichen lassen.

Tagaus, tagein betreiben etwa 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Hastings professionelles binge watching: Sie sehen eine Show nach der anderen und füttern die Datenbank mit Begriffen wie „familienfreundlich“, „romantisch“, „extreme Gewalt“, „Sex“ oder „basierend auf einer Romanvorlage“. Rund 4000 solcher Schlagwörter und Kategorien sind bereits zusammengekommen.

Dass Netflix sich überhaupt so viel Mühe gibt, hat einen einfachen Grund: „Wir haben früh gemerkt“, sagt Hastings, „dass Nutzer weniger klicken, wenn wir Vorschläge komplett den Algorithmen überlassen.“ Erst wenn Menschen mithelfen, die Inhalte einzuordnen, komme ein Erlebnis heraus, das die Abonnenten sich wünschen. Netflix wiederum erhält die Möglichkeit, denselben Film auf unterschiedliche Weise zu präsentieren. Titanic zum Beispiel als Bewegendes Drama auf hoher See oder als Liebesgeschichte vor historischem Hintergrund.

„Wir wissen, welche Eigenschaften die Shows aufweisen – aber wir geben den Kreativen nicht vor, auf welche Eigenschaften sie zu achten haben“, betont Hastings. Auch Programmchef Greg Peters versichert, Eigenproduktionen entstünden nicht einfach auf simpler Datenbasis. Es gehe vor allem darum, „besser zu verstehen, was Nutzer sich wünschen“, um daraus abzuleiten, was beim Publikum gut ankommen könnte. Das Ergebnis beschreibt er als „50 Prozent Daten und 50 Prozent Kunst“.

So geben die Netflix-Abonnenten mit ihren Klicks die Richtung vor und entscheiden mit darüber, was sie als nächstes zu sehen bekommen. Noch übernimmt dann der Mensch und schreibt das Drehbuch oder führt Regie. Schwer zu sagen, an welcher Stelle bei Bright die 50 Prozent Kunst geblieben sind. Eher lässt sich ahnen, unter welchen Rubriken der Film in den Programmvorschlägen auftauchen könnte: Explosive Comedys mit Ach und Krach zum Beispiel, Blutige Monstergeschichten aus grauen Parallelwelten oder auch: Alles schon mal gesehen, aber trotzdem irgendwie cool.

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