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Braucht das Internet einen eigenen Heimatverein?

von Dominik Schönleben
Dirk von Gehlen will den ersten Heimat- und Brauchtumsverein für die Bewohner des Internets gründen. Denn nur durch diese urdeutsche Tradition könne man die Kultur des Netzes adäquat gesellschaftlich verteidigen, sagt er. WIRED hat mit dem Journalisten über seine Idee gesprochen.

Das Internet ist mit seinen Memes und seiner freien Kommunikation längst zum Brauchtum geworden. Doch in Deutschland gilt etwas nur dann als schützenswertes Kulturgut, wenn es auch einen Verein gibt, der dafür einsteht. Der immer wieder in gesellschaftlichen Debatten darauf hinweist, wie wichtig ein bestimmtes traditionelles Erbe wie Blasmusik oder Schafkopfen doch ist.

An dieser Stelle will der Journalist Dirk von Gehlen ansetzten. In seinem monatlichen Newsletter hat er einen Vorschlag unterbreitet: „Wir sollten gemeinsam Deutschland größten Brauchtumsverein gründen“, schreibt er. Sein derzeit noch namenloser Verein solle der erste „digitale Heimat- und Brauchtumsverein“ werden. Ein Verein für Menschen, deren Heimat das Internet ist.

„Wenn wir 1000 sind, dann machen wir’s“, sagt von Gehlen im Gespräch mit WIRED. Er hat auf seiner Homepage eine Liste veröffentlicht hat, auf der sich Interessenten eintragen können. 125 Unterschriften sammelte er bereits am ersten Tag. Sein Ziel: 2000 Mitglieder. Denn damit würde der neue Verein fürs Internet nach Gehlens bisherigen Recherchen zum größten Brauchtumsverein Deutschlands werden. Eine Ehre, die bisher die Düsseldorfer Jonges für sich beanspruchen, ein nur aus Männern bestehender Karnevalsverein.

Dirk von Gehlen sieht seine Initiative nicht als Angriff auf bestehende Internet-Lobbyverbände wie die Digitale Gesellschaft, den Chaos Computer Club oder Netzpolitik.org. Doch er vermisst bei diesen etwas: „Was mir fehlt, ist der Aspekt der digitalen Kultur. Was im Musikantenstadel selbstverständlich ist, betont keiner so richtig“, sagt von Gehlen. Sein neuer Verein will sich genau hier positionieren: „Lasst uns die Freude am Internet auf die gleiche Art verteidigen, wie andere ihren Schützenverein und ihre Blasmusik.“

Im Interview mit WIRED erläutert Dirk von Gehlen, warum Kulturvereine so wichtig sind, um Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung zu nehmen und wieso der Shruggy für ihn das Wappentier der Netzpolitik ist.

WIRED: Gibt es einen Auslöser, warum du gerade jetzt diesen Heimatverein gründen möchtest?
Dirk von Gehlen: Nach Snowden habe ich mit Freunden, Bekannten, auf Konferenzen, in Mailinglisten und Chatrooms darüber nachgedacht, ob man nicht darauf reagieren muss. Ob man es vor seinen Enkeln und Kindern rechtfertigen kann, nichts getan zu haben. Mir ist aber keine kluge Idee gekommen. Seit einem halben Jahr laufe ich mit dieser Idee im Kopf rum und als ich auch da nicht weiter kam, habe ich mir gedacht: Jetzt frage ich das Internet selbst, ob es einen Heimatverein will.

WIRED: Ist das die Herangehensweise derer, die sich im Internet heimisch fühlen: Man fragt die anderen im Netz um Rat?
Von Gehlen: Ja, das ist der Zauber des Internets. Und ich weiß, dass ich das alleine nicht könnte. Ich habe die Hoffnung, dass unter den Leuten, die ich begeistern kann auch Menschen sind, die Ahnung vom Vereinsrecht haben. Und wir gemeinsam versuchen diese Idee auszugestalten. Bisher ist es nur eine Idee. Ich habe noch keinen klaren Ablaufplan. Ich habe nur das Gefühl, dass ich das, was mir viel Wert ist, auch irgendwie schützen und verteidigen will. Die Angriffe kommen aus unterschiedlichen Richtungen: Einerseits sind die Begriffe Heimat und Nation aus der rechtsnationalen Ecke so prominent geworden und andererseits gibt es Angriffe aus der Netzneutralitäts-Ecke.

Blechbläser regen sich auf, wenn ihre Musik im öffentlichen Rundfunkt nicht gespielt wird. Also regen wir uns auf, wenn nicht genug Internet in der Berichterstattung vorkommt

Dirk von Gehlen

WIRED: Versucht du also, mit deinem Verein Begriffe wie Volk oder Heimat wieder positiv besetzten?
Von Gehlen: Ich habe um mich herum Leute kennengelernt, die sagen, sie seien im Internet zu Hause. Und ich glaube, dass Menschen, die Heimatvereine gründen, auch dieses Gefühl haben. Aber an einem physikalischen Ort, nicht an einem virtuellen. Mir geht es einerseits darum, diesem Gefühl Rechnung zu tragen. Und andererseits darum, diese Begriffe zurückzuholen und sie nicht den Nazis, Nationalisten und Rassisten zu überlassen. Ich freue mich dabei, etwas so Modernes wie das Internet mit etwas so Rückwärtsgewandtem wie Brauchtum zu kombinieren.

WIRED: Geht es dir dabei um die Digital Natives?
Von Gehlen: An die habe ich gar nicht gedacht. Ich habe da banaler gedacht: Wie kriegen wir in Institutionen wie Rundfunkräte oder auch in Gremien, die über Schulbücher entscheiden, digitale Kompetenz rein? Ich glaube, das kann nur gelingen, wenn man seine Interessen verteidigt und als Lobbyinstitution da reindrückt. Ich habe mir gedacht, wir nehmen dafür die Methoden, die über Jahre gelernt sind. Blechbläser regen sich auf, wenn ihre Musik im öffentlichen Rundfunkt nicht gespielt wird. Also regen wir uns auf, wenn nicht genug Internet in der Berichterstattung vorkommt. Und wir fördern dabei vielleicht sogar eine Art digitale Volkskultur, die sich in Memes oder Beteiligungsformen ausdrückt, die genau so wichtig sind, wie jene Musik, die Menschen als Volksmusik oder Brauchtum pflegen.

WIRED: Viele Vereine oder Gewerkschaften haben einen Vertreter im Rundfunkrat. Das große Ziel eures Vereins wäre also, dort auch vertreten zu sein?
Von Gehlen: Einer wäre das Minimum, ich sehe da mehrere. Ich glaube, dass man auf die gleiche Art und Weise Lobbyarbeit machen muss, wie andere es bereits tun. Also wie Gewerkschaften oder die Heimatvertriebenen, die beispielsweise darauf Einfluss nehmen, was in Schulbüchern steht. Zum Teil sehen Schulbücher noch immer so aus wie vor zehn oder zwanzig Jahren, weil die immer gleichen Leute die immer gleichen Sachen reinschreiben.

Wir wollen, dass die digitale Gegenwart angemessen repräsentiert wird

Dirk von Gehlen

WIRED: Und du möchtest das jetzt ändern.
Von Gehlen: Wir wollen, dass die digitale Gegenwart dort angemessen repräsentiert wird. Und nachdem ich jetzt zehn Jahre darauf gewartet habe, dass das von woanders kommt, habe ich mir gedacht: Vielleicht nutzt das Warten nichts, vielleicht müssen wir selbst in die aktive Rolle treten.

WIRED: Welches Meme wird euer Wappentier sein?
Von Gehlen: Das entscheide mit ganz großer Wahrscheinlichkeit nicht ich, sondern das Internet.

WIRED: Und was wäre dein Favorit?
Von Gehlen: Ich persönlich habe eine große Sympathie für die Ratlosigkeit, die sich im Shruggy oder dem Travolta-Meme zeigt. Aber die sind so kurzlebig, dass wenn der Verein in einem Jahr tatsächlich gegründet wird, alle sagen werden: Oh Gott, wo kommen die denn her, wenn die jetzt noch mit „Confused Travolta“ anfangen?

WIRED: Das Wappen-Meme muss also jährlich wechseln?
Von Gehlen: Ja genau, vielleicht ist das der Trick. Tradition zeigt sich hier im Wandel. Was ich bewahrenswert finde, ist die Grundstruktur des Internets. Dass es ein netzneutrales Medium ist, in dem man verlinken kann. Diese Grundidee muss man schützen. Und da muss man politischer oder finanzieller Einflussnahme entgegentreten.

WIRED: Ist der Shruggy, also die Ratlosigkeit, für dich das Symbol der aktuellen netzpolitischen Lage?
Von Gehlen: Ich glaube, dass die Situation verfahren ist zwischen denen, die euphorisch das Neue befördern, die ins Silicon Valley fahren, von da wiederkommen und aufschreiben, wie toll es da ist – und den anderen, die warnen, dass Dinge sich ändern könnten. Die Sachbuchparade, die wir gerade erleben, ist voll mit solchen warnenden Texten. Und ich glaube zwischen der Begeisterung einerseits und dem Kulturpessimismus andererseits muss man eine realistische Position finden. Deren Ausgangssituation ist der Zweifel, die Ratlosigkeit, das Nichtwissen. Ich weiß nicht, wie die Zukunft morgen aussieht, aber ich halte sie für gestaltbar. Deshalb will ich so einen Club gründen, weil ich glaube, dass wir Einfluss auf die Zukunft nehmen können.

Man könnt einen Preis für Heimatpflege im digitalen Raum vergeben

Dirk von Gehlen

WIRED: Man kann also doch noch etwas verändern?
Von Gehlen: Das Perfide ist, dass sowohl die Kulturpessimisten als auch die Euphoriker ja davon ausgehen, dass es unvermeidlich ist. Alles entweder ganz toll wird oder den Bach hinuntergeht. Ich möchte gern eine Position dazwischen finden, die sagt: Klar, wir können die Zukunft gestallten, wenn wir Einfluss auf sie nehmen. Das schönste Zeichen dafür ist für mich der Shruggy. Der Moment der Ratlosigkeit, wenn man selbstfahrende Autos sieht und sagt: Puh, keine Ahnung, dass stellt einiges in Frage. Lass uns überlegen wie wir darauf reagieren. Die meisten Leute sagen sofort ihre Meinung, statt wenigstens einen Moment lang ratlos zu sein.

WIRED: Wird es dann bei euch auch ein digitales Schützenfest geben?
Von Gehlen: Feste müssen wir in so einem Verein natürlich auch feiern. Ich habe mir überlegt, dass man einen Preis ausgeben kann, so wie klassische Brauchtumsvereine es tun. Einen Preis für Leute, die besonders gute Memes erfunden haben oder sich um die Heimatpflege im digitalen Raum verdient gemacht haben.

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