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Brasiliens WhatsApp-Kapitän: Ein Wahlkampf an der Fake-News-Front

von Julia Jaroschewski, Sonja Peteranderl
In Brasilien steht der zweite Wahlgang der Präsidentschaftswahl bevor. Der rechtspopulistische Kandidat Jair Bolsonaro ist auch mit seinem schmutzigen Onlinewahlkampf zum Favorit geworden. Hetze, Fake News und Massen-Propaganda gehen vor allem auf WhatsApp viral – und bringen Anti-Fake-News-Initiativen in Gefahr.

Mitten im Wahlkampf beförderte eine Messerattacke den brasilianischen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro ins Krankenhaus. Auf einer Wahlveranstaltung Anfang September wurde der 63-Jährige von einem Mann mit einem Messer attackiert, alle Fernseh-Duelle wurden seither von Bolsonaro-Wahlkampfteams abgesagt. Die Verletzung bietet ihm die perfekte Entschuldigung, um kritischen Fragen und direkter Konfrontation auszuweichen. Stattdessen wendet sich der Rechtspopulist in digitalen Kanälen direkt an seine Wähler und Unterstützer, wo er keine direkte Auseinandersetzung mit seinem Rivalen Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT fürchten muss.

Der Rechtspopulist hetzt auf Twitter und Facebook gegen Anhänger der linksgerichteten Arbeiterpartei und Minderheiten wie Frauen, Schwarze oder Homosexuelle. Mit Livestreams meldete er sich trotz seines Gesundheitszustandes von Wahlkampfbesuchen beim Militär und bei der Spezialeinheit BOPE, via Youtube-Videos wendet er sich regelmäßig an die Bevölkerung. Bolsonaros Social Media-Kampagnen erreichen ein großes Publikum. Mittlerweile folgen ihm mehr als acht Millionen Menschen auf Facebook, er hat 5,1 Millionen Fans auf Instagram, zwei Millionen auf YouTube und knapp 1,9 Millionen Follower auf Twitter.

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Mit diesem digitalen Wahlkampf hat Bolsonaro sich vom Außenseiter, dem kaum Chancen eingeräumt wurden, zum führenden Präsidentschaftskandidaten hochkatapultiert: Dem Hauptmann der Reserve und ehemaligen Fallschirmjäger werden für die Stichwahl am 28. Oktober 57 Prozent der Stimmen vorhergesagt. Sein Rivale von der Arbeiterpartei PT, Fernando Haddad, kommt nur auf 43 Prozent. Viele Brasilianer sind müde und frustriert von der in Korruptionsskandale verstrickten PT, ihren Versprechen, in Brasilien aufzuräumen. Mit seinen markigen Sprüchen kommt Bolsonaro bei Brasilianern da besser an. Seine Fans und Anhänger feiern ihn als „Mythos“ oder „Kapitän“. Gern inszeniert sich Bolsonaro als bescheidener Mann, der aus seinem improvisierten Studio zuhause an die Brasilianer sendet: eine Brasilianische Flagge an der Wand, sein Sohn bastelt an der Lampe – die Videos gedreht mit dem Smartphone am Esstisch. Doch der vermeintliche Saubermann kämpft mit schmutzigen Tricks.

Digital und total fake?

Brasilien hat Jahre einer schweren politischen und wirtschaftlichen Krise hinter sich, in der fast täglich neue Skandale das Land erschütterten – all das wird jetzt im Wahlkampf als Vorlage genutzt. Ein Großteil der politischen Propaganda, die online zirkuliert, ist dabei aus dem Kontext gerissen oder komplett erfunden. Noch nie wurde Brasilien so sehr mit Falschnachrichten geflutet wie zu den Wahlen in diesem Jahr. Bolsonaro hat etwa davor gewarnt, dass die Arbeiterpartei PT Kinder zu Homosexuellen umerziehen will und schürt die Angst vor Kommunisten, die Brasilien angeblich in ein zweites Venezuela verwandeln wollen. Seine Fans verbreiten das Gerücht, dass drei Tage vor der Wahl ein von den Linken inszeniertes Attentat auf den linken Spitzenkandidaten Haddad stattfinden soll, um ihn an die Macht zu bringen. Doch auch linke Anhänger teilen manipulierte Fotos und Falschnachrichten.

„In Brasilien ist das Misstrauen in Institutionen wie Medien, Journalismus, Regierung, Justiz und die Parteien extrem. Die Leute glauben eher daran, was ihre Bekannten, Freunde, Verwandten oder ein Priester sagen, als an Informationen von traditionellen Medien“, sagt Tai Nalon, Mitgründerin der Fact-Checking-Plattform Aos Fatos, gegenüber WIRED. „Nachrichten, die auf Messengern wie WhatsApp von Freunden oder Communities geteilt werden, erscheinen relevanter als Medienberichte – selbst wenn es sich um Falschnachrichten handelt.“

WhatsApp spielt im Wahlkampf im Social-Media-begeisterten Brasilien die zentrale Rolle: Für die Facebook-Tochter ist Brasilien einer der größten Märkte weltweit, rund 120 Millionen Menschen nutzen den Dienst. Einer Studie des Umfrageinstitutes Datafolha zufolge besitzen 66 Prozent der wahlberechtigten Brasilianer ein WhatsApp-Konto.

„Es sind WhatsApp-Wahlen“, bestätigt auch Fabrício Benevenuto von der Universität UFMG in Belo Horizonte. „Polarisierung gibt es in Brasilien schon länger, aber die Relevanz sehen wir jetzt besonders. Wir sind mitten in einem Krieg der Informationen. Es sind unverantwortliche Kampagnen, die in diesen Wahlen aktiv sind.“ Ihn hat überrascht, wie gut die Lügen-Kampagnen organisiert waren – bestimmte Institutionen oder Kritiker wurden auch gezielt mit digital gestreuten Gerüchten unglaubwürdig gemacht.

Wie Forscher gegen Falschmeldungen kämpfen

Benevenuto hat zusammen mit Doktoranden das Projekt Eleições sem fake – übersetzt: Wahlen ohne Falschnachrichten – gestartet, das versucht, Falschinformationen aufzudecken und die Online-Strategien der Wahlkampfteams und ihrer Anhänger sichtbar zu machen. Die Gruppe hat dafür den WhatsApp-Monitor entwickelt, ein System, das täglich 347 öffentliche WhatsApp-Gruppen durchforstet, die einen politischen Schwerpunkt haben. Täglich sammeln sie Videos, Bilder, Audio-Nachrichten und Links, die strukturiert, mit Tags kategorisiert werden, sensible Infos wie die Telefonnummer werden entfernt. Die Datenbank hat Benevenuto für Journalisten zugänglich gemacht. „Wir wollen die Arbeit für Journalisten vereinfachen, indem wir ihnen gebündelt Daten liefern“, sagt Benevenuto. „Im Gegensatz zu Facebook ist WhatsApp schwer zu durchdringen, weil die Nachrichten verschlüsselt werden, und vieles in privaten Gruppen gesendet wird.“

Das macht den Messenger-Dienst attraktiv für digitale Manipulation. Kurz vor der Stichwahl hat die brasilianische Zeitung Folha de São Paulo einen Skandal aufgedeckt. Rund 150 Firmen sollen bei Digital-Marketingagenturen massenhaft Falschnachrichten zu Gunsten des rechten Kandidaten Bolsonaro in Auftrag gegeben haben. Eine große Online-Kampagne sollte in der Woche vor dem entscheidenden Wahlgang gestartet werden. Das Ziel der Attacken: der linke Kandidat Fernando Haddad. Bolsonaro dementiert, in irgendeiner Form mit dem Massenversand der Nachrichten zu tun zu haben. Unternehmer, die zu seinen Gunsten Werbung machten, könne er nicht kontrollieren.

Jetzt ermitteln Wahlbehörde und Polizei aufgrund von möglicher Wahlmanipulation – denn in Brasilien ist die finanzielle Wahlkampfunterstützung von Kandidaten durch Firmen illegal. WhatsApp hat zudem Hunderttausende Profile gesperrt, die Anzeichen von Bot-Aktivitäten und Spam-Versand zeigten. Für Bolsonaro hat auch dieser Skandal einen positiven Nebeneffekt: Seine Anhänger werben online noch aggressiver für den rechten Kandidaten als zuvor und verurteilen die Vorwürfe als Verschwörungstheorien. In den Pro-Bolsonaro-WhatsApp-Gruppen, zu denen WIRED-Journalisten Zugang hatten, beschweren sich Bolsonaro-Fans, dass die Arbeiterpartei PT für den Hassdiskurs verantwortlich sei und „auf das Ende der Demokratie“ hinarbeite. So fordern Gruppenmitglieder zum Weiterleiten von Propaganda auf und teilen Gerüchte, dass Feministinnen Sex mit Tieren propagieren.

Aufrufe zu Waffengewalt!

Dass die private Mobilisierung erfolgreich sein könnte, liegt auch an der digitalen Dominanz der Bolsonaro-Wähler: Der Datafolha-Studie zufolge haben 81 Prozent der Anhänger von Jair Bolsonaro ein Social Media-Konto, bei den Anhängern des linken Kontrahenten Fernando Haddad sind es nur 59 Prozent. Auf WhatsApp werden derzeit sogar Nachrichten verschickt, die zu expliziter Gewalt gegen PT-Anhänger aufrufen. Der Skandal sei eine Strategie der Linken, um Bolsonaro zu schwächen – „Wir müssen unser Land verteidigen.“ Bolsonaro-Anhänger sollten sich mit allem bewaffnen, was möglich ist: Messer, Steine, Eisenstangen, Lanzen und Molotov-Cocktails.

Brasilien ist mit der Fake-News-Flut überfordert – und diskutiert viel zu spät, wie sich digitale Wahlmanipulation eindämmen lässt. „Die brasilianischen Institutionen waren überhaupt nicht auf die Fake-News-Welle vorbereitet“, sagt Tai Nalon von der Fact-Checking-Plattform Aos Fatos. „Bis heute haben unsere Behörden und Gerichte keine Ahnung, wie Technologie und soziale Netzwerke funktionieren und wie Falschinformationen sich über WhatsApp, Facebook, YouTube und Twitter verbreiten und in Verbindung mit wirtschaftlicher Macht zur Waffe werden können.“

Brasiliens Medien hatten schon lange vor den Wahlen realisiert, dass Fake News zum Problem werden. In der Initiative Comprova, an der auch Aos Fatos beteiligt ist, haben sich 23 traditionelle und alternative Medien zusammengeschlossen, um gemeinsam gegen Fake News vorzugehen. Sie prüfen Nachrichten, Bilder, Videos und Audioaufnahmen und stellen richtig, was Fakt und was Fiktion ist. Aos Fatos klärt Leser etwa auf der eigenen Plattform über Falschaussagen auf, Leser können Updates via WhatsApp abonnieren und verdächtigte Nachrichten mobil mit den Fact-Checkern teilen. Auch Bots, die Aos Fatos entwickelt, sollen die Fake-News-Fluten stoppen. Ein Chatbot für den Facebook Messenger soll Nutzern Tipps geben, wie sie Nachrichten von Meinung und Propaganda unterscheiden können. Auf Twitter schlägt der @fatimabot mit einer „Guerrilla Check“-Strategie zurück: Auf Links mit falschen oder verfremdeten Informationen reagiert er mit einem Fakten-Check und einer automatisierten Nachricht an die Absender.

Zusammen mit den beiden Fact-Checking-Agenturen Aos Fatos und Lupa hat Facebook ein halbes Jahr vor den Wahlen ein Programm gestartet, das verhindern soll, dass Falschnachrichten viral gehen. Mit der Facebook-Partnerschaft sind die Fact-Checker allerdings selbst ins Kreuzfeuer des rechten und des linken Lagers geraten, weil sie angeblich die Meinungsfreiheit einschränken würden. „Als die Partnerschaft bekannt gegeben wurde, wurde das Team von Aos Fatos mit Doxing attackiert und anderen digitalen Angriffen“, so Tai Nalon. „Seitdem erhalten wir jeden Tag neue Nachrichten mit Beschimpfungen und Bedrohungen – es ist unser neuer Alltag.“

Wie schuldig sind WhatsApp und Facebook?

In Brasilien steht vor allem die Facebook-Tochter WhatsApp in der Kritik. Aufklärung allein reiche nicht, findet der WhatsApp-Monitor-Entwickler Benevenuto: „Auch wenn die Gesellschaft gut gebildet ist, ist sie anfällig für Lügen. Sobald jemand einer Seite angehört, wird es schwieriger, sie von einer anderen Meinung zu überzeugen.“ WhatsApp müsse mit einer technischen Lösung verhindern, dass massenhaft Fake News über den Messenger verbreitet werden. In einem offenen Brief hat Benevenuto gemeinsam mit anderen Kritikern gefordert, dass der Nachrichtendienst die Broadcast-Funktion beschränken soll, die den gleichzeitigen Versand von Nachrichten an bis zu 256 Kontakte zulässt – denn so kann über ein Schneeballsystem eine enorme Gruppe an Menschen erreicht werden. Das Weiterleiten originärer Nachrichten müsste zudem ebenso wie die Größe von Gruppen verringert werden. WhatsApp hatte zunächst gesagt, der Zeitraum von einer Woche sei zu kurz, um diese Veränderungen vorzunehmen. „Für WhatsApp sind es eigentlich nur ein paar Parameter“, kritisiert jedoch Benevenuto.

Facebook will während der entscheidenden Stichwahl am 28. Oktober einen War Room in der Konzernzentrale in Menlo Park einrichten, wie Bloomberg berichtete. Eine Spezialeinheit soll mögliche Wahlbeeinflussung durch Massennachrichten und Fake News in sozialen Netzwerken beobachten und Fake-News-Trends aufdecken, um gegenzusteuern. Auch portugiesischsprachige Analysten werden eingeflogen. Die Wahlen in Brasilien sind für Facebook ein Testlabor – im November finden in den USA die Midterm-Wahlen statt.

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