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Bayer wagt sich mit Leaps an die irren Fragen der Biotechnologie

von Nikolaus Röttger
Der Pharmakonzern Bayer kämpft mit Biotech gegen Blindheit, Hunger und Parkinson. Dafür vertraut er auf sein Innovationsprojekt „Leaps“. Dessen Leiter Axel Bouchon erklärt im WIRED-Interview, wo seine ethischen Grenzen liegen, wie die universelle Stammzelle möglich ist und warum die Floskel „Gott spielen" Blödsinn ist.

Dieser Artikel erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im November 2017. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

Bayer, der Aspirin-Konzern aus Leverkusen, wagt sich an die ganz großen Fragen, die erst mal irre klingen: Können wir jene, die aufgrund eines Gendefekts blind sind, sehen lassen? Wie wäre es, wenn wir Hirnzellen neu züchten und Parkinson heilen? Oder Patienten mit schwerer Immun­erkrankung ein gesundes Leben ermöglichen? Und wie schaffen wir es, acht oder bald neun Milliarden Menschen zu ernähren? Drei Jahre arbeitet der Pharmakonzern bereits an einer Innovationsstrategie, die unter anderem diese Fragen beantworten soll.

An einem Wochenende Anfang November hat er sie in Los Angeles auf der Summit-Konferenz vorgestellt, auf der sich Silicon-Valley-Unternehmer, Startups und Konzerne trafen. Leaps (dt. Sprünge) heißt das Innovationsprojekt. Und so musste ein Skateboard-Sprung als Metapher herhalten: Axel Bouchon, der Leaps leitet, hatte für die Präsentation die wohl berühmteste Skater-Treppe nachbauen lassen – 25 Stufen aus einer französischen Stadt: Die „Lyon 25“ galten als unbezwingbar, seit Skater Ali Boulala 2001 den Sprung die Stufen hinunter versuchte und scheiterte. Dann kam Aaron „Jaws“ Homoki, der den Sprung 2015 nach mehreren Stürzen und Verletzungen als Erster stand.

Für Leaps haben die beiden ein Video gedreht, der Text dazu wird von ihrem Kollegen Tony Hawk gesprochen, die Musik kommt von Paul Kalkbrenner, die Message: Bei einem tollkühnen Unterfangen kann man schon mal scheitern, aber am Ende doch erfolgreich sein. Lifestyle trifft Life Sciences.

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Ende 2015 investierte Bayer das erste Mal in eines seiner Leaps-Projekte: 300 Millionen Dollar gingen an Casebia, ein Joint Venture mit der Firma Crispr Thera­peutics von Emmanuelle Charpentier. Die französische Wissenschaftlerin und ihre Kollegin Jennifer Doudna gelten als Pioniere der Gen-­Chirurgie: Mithilfe des Werkzeugs Crispr/Cas9 lässt sich DNA zerschneiden; so können Wissenschaftler Bausteine im Erbgut präzise verändern.

Kritiker fürchten, dass die Technologie zum Beispiel für das Züchten von Designer-Babys genutzt werden könnte; gleichzeitig jedoch hoffen Wissenschaftler, mit Crispr zum Beispiel Bluter- und Immunkrankheiten zu heilen. Unter anderem daran forscht Casebia Therapeutics. BlueRock, das zweite Leaps-Startup, gründete Bayer 2016 zusammen mit der Investmentfirma Versant Ventures. Die Firma setzt auf Stammzellen, ist mit 225 Millionen Dollar finanziert und arbeitet unter anderem an der Heilung von Parkinson. Die jüngste Leaps-Investition von 100 Millionen Dollar geht in die Landwirtschaft: Bayer und das US-Unternehmen Ginkgo Bioworks wollen Mikroben züchten, mit deren Hilfe Nutzpflanzen nicht mehr gedüngt werden müssten.

WIRED: Herr Bouchon, was ist Ihr Ziel mit Leaps?
Axel Bouchon: Wir haben Leaps um drei wesentliche Kernfragen gebaut. Erstens: Wie können wir genetische Erkrankungen von Herz, Auge oder Blut besser behandeln, insbesondere bei Kindern? Wir wussten, dafür müssen wir am besten mit DNA-Editing arbeiten. Zweitens: Wie können wir Gewebe, das vor allem beim Altern verloren geht, ersetzen, und so zum Beispiel Hirnzellen regenerieren? Dafür brauchen wir neueste Stammzellen-Technologien. Drittens: Wie können wir die Landwirtschaft nachhaltig gestalten? Es müssen immer mehr Menschen ernährt werden. Können wir – ein Beispiel – den Ackerbau revolutionieren und das Klima schonen, indem wir den Einsatz von Stickstoff-Dünger reduzieren? Wenn wir so große Themen angehen, brauchen wir einen Paradigmenwechsel in der Finanzierung von Forschung.

WIRED: Warum?
Bouchon: Weil man sehr viel Geld braucht, aber das Venture-Capital-Modell für die großen Fragen nicht funktioniert: Risikokapital­geber erwarten einen Return schon nach zwei, drei Jahren. Für unsere Leaps brauchen wir bis zu zehn Jahre, um zu fertigen Produkten zu kommen. Darum haben wir einen Ansatz gesucht, der nicht nur auf einen Return on Investment, sondern hauptsächlich auf einen Return on Humanity abzielt.

WIRED: Was bedeutet das? Bayer als Heilsbringer? Ihre Aktionäre wollen doch Geld verdienen.
Bouchon: Wir haben die Investitionen bewusst in Startups getätigt. Die können schneller und flexibler arbeiten. Bayer ist Anteilseigner, hat aber darüber hinaus keinen Einfluss auf tägliche Entscheidungen. Unsere Startups sollen zuerst überlegen, was gut für den Planeten oder Kranke ist. Darauf sind die Teams – wie auch ich selbst – incentiviert. Denn wenn wir dafür Lösungen finden, kommt das Geld irgendwann von allein.

WIRED: Wie wollen Sie den Return on Humanity messen?
Bouchon: Wir sehen ja, ob zum Beispiel durch unseren CRISPR-Ansatz ein Mensch geheilt wird.

WIRED: Aber das dauert bis zu zehn Jahre, sagten Sie.
Bouchon: Bayer erwartet schon, dass wir nach vier bis fünf Jahren erste Erfolge vorweisen können. Wir arbeiten beim CRISPR-Startup Casebia unter anderem an Lösungen für schwere Blutererkrankungen und für angeborene Immundefizienz bei Kindern. Kinder also, die keine Immunzellen haben und in isolierten Räumen leben, weil jede Erkältung sie töten könnte. Es werden pro Jahr etwa 80 bis 100 betroffene Kinder in den USA geboren. Das sind so wenige, dass es für niemanden ökonomisch sinnvoll ist, an Therapien zu arbeiten. Wir tun es.

WIRED: Löblich, doch sicher auch kein Selbstzweck. An den Patien­ten können Sie Ihren Ansatz frühzeitig ausprobieren?
Bouchon: Ja, aber wir sehen eben relativ schnell, ob es klappt. Das ist der Anreiz für unsere Teams. Viele Unternehmen würden den Weg nicht gehen, weil er zu klein ist und darum keinen Profit verspricht. Ich nenne diese Phase: „Learn, not earn“ – erst lernen, dann Geld verdienen. Sie kann als Tür­öffner dienen, um die CRISPR-Technologie später bei Krankheiten anzuwenden, die eine größere Zahl von Leuten betreffen, wie etwa die Bluterkrankheit Hämophilie A.

WIRED: Bayer hat in Casebia eigene Patente eingebracht, für Ihr Stammzellen-Startup Blue­Rock haben Sie sogar weltweit Patente eingesammelt.
Bouchon: Bei Stammzellen gibt es ein Akzeptanzproblem in der Gesellschaft, das ich gut verstehe. Auch für mich und für Bayer ist die Arbeit mit embryonalen Stammzellen ethisch nicht vertretbar. Darum konzentrieren wir uns auf eine neue Technologie: induzierte Stammzellen.

WIRED: Das heißt?
Bouchon: Dabei nimmt man Stammzellen von Erwachsenen, etwa aus der Haut, und dreht in ihnen die biologische Uhr zurück, bis man eine Ur-Stammzelle hat. Aus der stellt man eine Herzmuskel-, Netzhaut- oder Hirnzelle her. BlueRock kann nächstes Jahr vielleicht schon Patienten in der letzten Stufe einer Parkinson-Erkrankung helfen.

Wir versuchen, die natürliche Evolution zu beschleunigen.

Axel Bouchon

WIRED: Also ähnliches Prinzip wie bei den immunkranken Kindern: Helfen in Not, wenn die Patienten keine Wahl haben.
Bouchon: Wenn es keine anderen Therapiemöglichkeiten mehr gibt, stehen die Betroffenen meist kurz vor dem Tod oder sind massiv beeinträchtigt. Bei Parkinson stirbt ein Zelltyp im Gehirn ab, der für die Kontrolle der Muskeln zuständig ist. Aktuell versucht man, die Symptome zu lindern, indem man Dopamin zugibt. Doch irgendwann ist da nichts mehr im Gehirn. Zur Heilung muss man das abgestorbene Gewebe ersetzen – etwa, indem man eine Hautzelle auf null setzt und aus ihr eine neue Hirnzelle entstehen lässt.

WIRED: Geht das nur mit Stammzellen des jeweiligen Patienten?
Bouchon: Im Prinzip gibt es drei Möglichkeiten: Man arbeitet mit eigenen Zellen des Patienten, die man neu programmiert. Man nimmt Zellen eines Spenders, muss dann aber das Immunsys­tem des Patienten mithilfe von Medikamenten sehr stark unterdrücken. Oder – das wäre das Ideal – man erzeugt eine universelle Stammzelle, die bei jedem funktioniert.

WIRED: Glauben Sie wirklich an Standard-Stammzellen aus dem Regal?
Bouchon: Sonst hätten wir den Prozess nicht angefangen. Ein Werkzeug, um eine universelle Stammzelle zu bauen, ist wahrscheinlich CRISPR/Cas9. Das zeigt das Zusammenspiel: Casebia hat die exklusiven Rechte für CRISPR in der Kardiologie, BlueRock die exklusiven Rechte an Stammzellen in der Kardiologie. Unsere Startups werden miteinander reden.

WIRED: Die Gefahr ist doch, dass dadurch ein Machtklumpen entsteht. Und dann geht es nicht mehr um den Return on Huma­nity, sondern nur um Profit.
Bouchon: Derzeit existiert kein Machtklumpen. Der würde nur entstehen, wenn alles funktioniert. Die Wahrscheinlichkeit dafür liegt bei unter fünf Prozent.

WIRED: Aber Sie wollen ja, dass es klappt. Was dann?
Bouchon: Casebia und BlueRock sind unabhängige Firmen, in die Bayer als Investor zwar Einblick hat – vor allem in unserem kardiovas­kulären Kerngeschäft. Aber auch alle anderen Pharmafirmen dieser Welt können Lizenzen anfragen. Die Idee unseres Ansatzes ist nicht ein Technologie-Monopol; uns geht es um den schnellstmöglichen Push zum Proof-of-Concept.

WIRED: Ihre Startups könnten selbst zu Machtzentren werden.
Bouchon: Vielleicht gibt es einen Vorteil für eine gewisse Zeit, was aufgrund der hohen Investitionen aus unserer Sicht auch sinnvoll ist. Aber die technologischen Entwicklungen in der Humanwissenschaft hören nie auf. Es wird Wettbewerb geben, das bringen Kapitalismus und Evolution mit sich. Ich mache mir da keine Sorgen.

WIRED: Ihr jüngstes Investment: Sie wollen Mikrobiome für Nutzpflanzen züchten.
Bouchon: Das Leben existiert nur, weil Bakterien mit höheren Zellen zusammenarbeiten. Darum ist die Forschung an Mikrobiomen, also der Gesamtheit aller Mikroben, die auch wir Menschen in uns tragen, ein Fokus unserer Arbeit – auch in der Landwirtschaft. Es gibt Bohnensorten wie Soja, die mit Wurzelbakterien in Symbiose leben. Die Bakterien können für die Pflanzen Stickstoff aus der Luft als Düngemittel binden. Das Prinzip der Partnerschaft wollen wir auf Nutzpflanzen wie Früchte, Gemüse, Reis, Weizen übertragen.

WIRED: Warum?
Bouchon: Weltweit verlieren wir dramatisch an nutzbarem Boden, durch Klimawandel, Versandung oder Verstädterung. Die verbleibenden Böden müssen mehr leisten und werden daher oft überdüngt. Die Pflanzen können aber teilweise nur ein Drittel davon aufnehmen. Zehn bis 20 Prozent werden dann ins Trinkwasser ausgewaschen, mehr als die Hälfte landet in der Luft. Fast ein Fünftel aller Treibhausgase weltweit kommen aus der Landwirtschaft und tragen zur Klimaerwärmung bei. Die US-Handelskette Walmart hat vor Kurzem alle Produkte im Sortiment daraufhin untersucht, woher die meisten Treibhausgase kommen: etwa 60 Prozent stammen aus Dünger!

WIRED: Sie wollen neue Organismen züchten, die mit Weizen oder Reis in Symbiose leben, während Bayer zugleich plant, den wegen Gentechnik umstrittenen Saatguthersteller Monsanto zu übernehmen.
Bouchon: Das ist unabhängig voneinander. Wir haben lange vor der angekündigten Monsanto-Übernahme mit den Planungen angefangen. Wir brauchen neue, nachhaltige Ansätze.

WIRED: Auch Sie nutzen Gentechnik.
Bouchon: Bei den Gen-Pflanzen der ersten Generation wurden artfremde Gene in eine Pflanze eingebaut. Das findet in der Natur eigentlich nicht statt. Damit haben viele Verbraucher in Europa ein Problem. Wir arbeiten etwas anders, nehmen ein bakterielles Gen, von dem wir wissen, dass es Stickstoff fixieren kann, und übertragen es auf ein anderes Bakterium. Anders als Pflanzenzellen tauschen Bakterien ständig Gene auf natürlichem Wege untereinander aus. Wir versuchen, die natürliche Evolution zu beschleunigen.

WIRED: Trotzdem bleiben Risiken.
Bouchon: Zunächst muss die Idee überhaupt funktionieren. Aber ja, die Frage ist berechtigt, ob das neue Bakterium sich unkontrolliert ausbreiten könnte. Im Boden würde es sterben, aber kann es auf andere Pflanzen überspringen? Diese Frage müssen wir klären. Die Behörden werden sich das sehr genau ansehen. Und das ist gut so.

WIRED: Verstehen Sie die tiefsitzende Angst, die viele Menschen vor Gentechnik haben?
Bouchon: Aus diesem Grunde möchten wir mit der neuen Firma früh und offen mit den Konsumenten diskutieren. Meine Frage lautet: Was wäre die Alternative, um weltweit bald zehn Milliarden Menschen zu ernähren, ohne das Klima zu schädigen?

WIRED: Wo liegen Ihre ethischen Grenzen?
Bouchon: Mich hat mal jemand gefragt, ob ich Gott spielen möchte. Wie albern. Das Konzept des Lebens ist viel zu genial und komplex und auch heute verstehen wir nur einen bestimmten Teil davon. Unsere ethischen Grenzen sind klar definiert. Zum Beispiel konzentrieren wir uns ausschließlich auf das Heilen einzelner Patienten. Man könnte auch versuchen, die Krankheit auszulöschen, indem man in der Keimbahn versucht, die Gene zu modifizieren. Das werden wir nicht tun.

WIRED: Jemand anderes könnte, Grenzen werden überschritten. In China wurde CRISPR bereits an nicht lebensfähigen Embryonen getestet.
Bouchon: Ja, es gibt Wissenschaftler, die Grenzen überschreiten, um zu verstehen, was machbar ist und um zu lernen. Aber für Unternehmen macht das keinen ökonomischen Sinn. Zum einen ist die Zahl der möglichen Patienten sehr klein. Zum anderen sind die Folgerisiken weder ethisch noch wirtschaftlich vertretbar. Daher arbeitet keine der führenden CRISPR-Firmen an Keimbahnbehandlungen.

WIRED: Wo sehen Sie die nächsten Trends in der Biotechnologie?
Bouchon: An der Schnittstelle zwischen Technologie und Biologie: Können wir Patientendaten mithilfe der Blockchain sicherer machen? Wie hilft künstliche Intelligenz bei der Behandlung? Das menschliche Genom hat mehr als drei Milliarden Basenpaare. Jeden Tag werden Hunderte neuer Studiendaten veröffentlicht. Die Datenmengen sind so gewaltig, wir brauchen unbedingt Algorithmen, um diese besser zu verstehen. Die Gesellschaft muss dringend über Chancen, aber auch risikoreiche Entwicklungen diskutieren: Was passiert etwa, wenn wir DNA als Datenträger nutzen? Bei einer KI kann man im Notfall den Stecker ziehen. Sobald die Menschheit aber die Grenze überschreitet und Trägermedien baut, die sich wie Bakterien von Zucker ernähren, geht das nicht mehr. Darüber werden sich viel zu wenige Gedanken gemacht.

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