Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Anja Rützel über die analoge Gadget-Zauberwelt von gestern

von Anja Rützel
WIRED-Kolumnistin Anja Rützel fragt sich: Wie stolpert man ganz analog über wundersame Dinge aus der Zauberwelt von gestern?

Kürzlich, als ich mal wieder nach meinem Reisepass suchte (ähnlich wie ich immer nach dem TAN-Generator fürs Online-Banking fahnde) und gerade eine entlegene Schublade durchwühlte, hopste etwas Glattes, Rundes aus dem Sammel­surium, titschte zweimal auf dem Boden auf und rollte dann zu meinem Hund, der das Ding interessiert ins Maul nahm und darauf herumlutschte. Ich rang ihm das Ding zwischen den Zähnen hervor. Es war ein Glasauge, das ich einmal in einem sehr sonderbaren Laden in Amsterdam gekauft hatte. 

Der Laden hieß The Otherist und hatte ein außergewöhnliches Sortiment: Es gab dort vergoldete Krähenfüße, täuschend echt nachgebildete Artischocken aus Filz und Bilderrahmen mit kleinen, glänzend blauen Käfern drin, die ein alter Franzose in Südafrika oder ein alter Südafrikaner in Frankreich gesammelt hatte. Natürlich fand ich den Laden toll, er erinnerte mich an die Wunderkammern des Barocks, Kabinette voller kurioser Dinge, die vermögende Menschen angehäuft hatten. Besonders gut gefiel mir an dieser Frühform eines Museums, dass Naturfunde, alchemistische Gerätschaften und kunsthandwerklicher Klimbim ganz selbstverständlich nebeneinander ausgestellt wurden. Nachdem ich einmal ein Buch über die Geschichte der Wunderkammer gelesen hatte, wollte ich mir in meiner Besenkammer gerne selbst eine einrichten.

Kurz gefasst scheiterte der Plan daran, dass geradezu unverschämte Preise für Narwalzähne aufgerufen  wurden (sie dienten in den historischen Wunderkammern gerne als Einhorn-Horn-Ersatz) und der Markt für Märtyrerreliquien wie leer gefegt war. Vielleicht braucht es einfach eine zeitgenössische Variante davon, dachte ich mir nun, das Glasauge in der Hand. Zumal die Hauptkriterien, die ein Ding zum Einzug in eine Wunderkammer qualifizierten, heute ohnehin keinen Bestand mehr haben: Schwere Erreichbarkeit? Bestimmt kann man sich goldverzierte Straußeneier längst per Amazon Prime liefern lassen. Exotik? Was könnte heute so exotisch sein, dass nicht schon irgendwer damit auf der Straße in Kleinschmölkelsdorf herumliefe? 

Natürlich ist es toller, Dinge zu sammeln, statt sie einfach zu kaufen. Sie ganz ohne verschwitzte Sammlerbörsen, Online-­Alerts und kleinkarierte Expertenforen zu finden. Geld brauchte man dazu freilich auch früher schon, Reliquien-Sammeln ist nun mal kein Arme-Leute-Hobby. Wahrscheinlich ist es dekadent, sich manchmal nach einer Welt ohne Anleitungen zu sehnen. Ohne Anleitung dafür, wo und wie man Dinge erwerben kann, und ohne Betriebsanleitung, was mit den glücklich aufgestöberten Dingen nun anzufangen sei. Die Rätselhaftigkeit, das Wunderwesen, ist den Sachen abhanden gekommen, das Höchste der Gefühle ist heute ja mal eine gestammelte Radebrecher-Übersetzung beim Kauf eines Billig-Gadgets – natürlich nichts, was sich nicht durch eine nachlässige Google-Suche lösen ließe. Praktisch. Und unendlich fad. 

An die Stelle der Exotik ist heute die Limited Edition getreten, eine künstliche Verknappung, die den Jagdtrieb kitzelt, wo eigentlich kein Mangel bestehen müsste. 

An die Stelle der Exotik ist heute die Limited Edition getreten, eine künstliche Verknappung, die den Jagdtrieb kitzelt, wo eigentlich kein Mangel bestehen müsste. Ich besitze noch eine unangetastete Flasche Duschgel aus dem Jahr 1996, Duftrichtung „Spice Girls“ – womöglich wäre das ein gutes Erststück für mein eigenes Kuriositätenkabinett. Keinesfalls darf man eine solche Sammlung einfach mit Retromüll befüllen, mit koffergroßen Gameboys und riesigen Taschenrechnern. 

Apropos Taschenrechner: Meine ersten drei TAN-Generatoren habe ich übrigens versehentlich weggeworfen, weil ich sie für unverlangt zugesandte billige Werbegeschenk-Taschenrechner meiner Bank hielt. Erst als ich wütend abermals dort anrief und fragte, wann sie mir denn endlich meinen TAN-Generator zuzuschicken gedächten, bemerkte ich meinen Irrtum. Kleine Faustregel für den Alltagsgebrauch: Dinge, die Gefahr laufen, wegen Tand-Verdachts versehentlich weggeworfen zu werden, sind definitiv kein Wunderkammer-Material.

Anja Rützel interessiert sich weiter für Reliquien-Ankauf. Ihre Lieblingsheiligen sind die Heilige Notburga von Rattenberg (Patronin des Feierabends) und der Heilige Mungo von Glasgow. In der November-Ausgabe machte ihr die zunehmende Kaufsucht im digitalen Zeitalter zu schaffen. 

GQ Empfiehlt