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Hakan Tanriverdi fragt sich: Macht uns künstliche Intelligenz wirklich schlauer?

von Hakan Tanriverdi
2015 war das Jahr der Debatten über künstliche Intelligenz. WIRED-Kolumnist Hakan Tanriverdi fragt sich: Sind wenigstens wir jetzt schlauer? 

Maschinen sind dümmer als Kleinkinder. Die Aussage greift natürlich zu kurz – schließlich lösen Maschinen komplexe Rechenaufgaben, während Kleinkinder daran glauben, die Antwort an den Fingern abzählen zu können. Allerdings, und das ist wichtig: Ein Vorschüler versteht zum Beispiel einen Zaubertrick. Hase, Hut. Hase da, Hase weg. Istzustand, Wunschzustand: Dafür hat der Computer keinen Nerv. Wir müssen das nicht Dummheit nennen. Es ist eher Desinteresse.Aber was würde passieren, wenn Maschinen plötzlich doch ein Interesse entwickeln? Die Frage wurde 2015 so scharf diskutiert wie nie zuvor.

Im Juli ging ein Brandbrief viral, in dem mehr als tausend Experten – unter anderem Stephen Hawking und Elon Musk – ihr Unbehagen über die Fortschritte in der künstlichen Intelligenz (KI) erklärten. Ansatzpunkt, ganz grob: Wer Waffensysteme in die kalten Hände von lernfähigen Robotern gibt, setzt die Menschheit einem unkalkulierbaren Risiko aus.
Seither reden wir über KI. Zumindest tun wir so. Denn in Wahrheit reden wir über das Menschsein. 

Einer gern zitierten Umfrage von 2012 und 2013 zufolge gehen mehr als 50 Prozent der KI-Forscher davon aus, dass Maschinen im Jahr 2040 das Intelligenzniveau von Menschen erreichen. 309 Millionen Dollar Risikokapital sind allein 2014 in KI-Start-ups geflossen, doch die meisten davon jagen uns keine Angst ein. Ein selbstfahrendes Auto, das keine Unfälle baut und Tausende Menschenleben rettet? Her damit! Anfang November hat Google eine Software gelauncht, die für wichtige Mails selbstständig Antwortvorschläge schreibt. Wer dem Autopiloten vertraut, schaltet irgendwann freiwillig um. Aber: ein Roboter, den man nicht umstoßen kann, der Hindernisse erkennt und überwindet, der auf Eis nicht ausrutscht? Zur Youtube-Playlist der Firma Boston Dynamics kommen ständig neue Videos dazu – und wer die sieht, ohne dass sich ihm ein paar Nackenhaare aufstellen, muss extrem abgebrüht sein. Hallo, Terminator! Auch der kam ja 2015 zurück. 

Das Beispiel mit dem Roboter ist allerdings ein wenig ge­flunkert. Es ist nicht eine Maschine. Es sind drei verschiedene. Roboter werden heute so trainiert, dass sie jeweils eine Aufgabe optimal lösen können – und erst recht keine Motivation entwickeln, eine andere selbst zu lernen. Die Konfiguration des Superrechners Watson, die die Rateshow Jeopardy gewonnen hat, will nicht plötzlich Poker spielen oder Gesichter erkennen. Input bestimmt Output. Damit Maschinen Interesse entwickeln, müssen Menschen ihnen sagen, was interessant ist.

Zum Schreckensszenario taugen Roboter ja nicht, wenn sie Menschen töten könnten, sondern erst, wenn sie es wirklich tun.

Zum Schreckensszenario taugen Roboter ja nicht, wenn sie Menschen töten könnten, sondern erst, wenn sie es wirklich tun. Aber: Warum sollten sie? Wir unterstellen Maschinen oft heimlich, dass sie menschliche Motivationen wie Hass oder Rache aus irgendwelchen Funktionen ableiten könnten, die wir ihnen verfüttern. Tatsächlich wurde 2015 ein Mensch vom Roboter getötet, in einer VW-Fabrik in Baunatal. Natürlich: ein Unfall. Einer hochintelligenten Maschine wäre das nicht passiert. 

Wenn wir also von gefährlichen Rechnern sprechen, die menschliche Allmachtsfantasien entwickeln könnten, denken wir eigentlich an das Gegenteil. Nämlich an Menschen, die die Fähigkeiten von Maschinen erlangen könnten. Man kann sich das ja mal fragen, wenn man das nächste Mal von bösen Maschinen hört: Ist unser Roboter-Bauchgrimmen eher ein verkapptes Unbehagen an der Menschheit? An der Unberechenbarkeit und Schwerverständlichkeit ihrer technologischen Pläne?

„Wenn jemand eine Maschine mit Bewusstsein erschafft, ist das nicht Teil der Menschheitsgeschichte“, sagt eine der Figuren im KI-Film Ex Machina, der auch 2015 erschien, „sondern einer Göttergeschichte.“ Könnten die Roboter immer allen Menschen eins über die Rübe ziehen, die sich für Gott halten – wir würden ihnen gern dafür die rostige Schaufel überreichen. 

Hakan Tanriverdi arbeitet als freier Journalist unter anderem für das Digital-Ressort von „Sueddeutsche.de“, er twittert unter @hakantee. Für Wired schreibt er regelmäßig über Netz- und Technologie-Themen. 

 

 

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