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Cyber-Psychologin Mary Aiken im Interview: „In Zukunft wird jedes Verbrechen Cybercrime sein”

von Sonja Peteranderl
Die Cyber-Psychologin Mary Aiken erforscht Karrieremuster von Cyberkriminellen und berät die neue US-Serie CSI: Cyber. Im WIRED-Interview spricht sie über die Verbrechen der Zukunft, Big Data im Polizeieinsatz und warum sie in der Serie CSI: Cyber Hackerklischees erlaubt.

Minderjährige Darknetdealer, die aus dem Kinderzimmer heraus Crystal verkaufen, oder hackende Teenager: Für ein neues Europol-Forschungsprojekt analysiert Mary Aiken, wie Jugendliche online auf die schiefe Bahn geraten. Die Cyber-Psychologin und Leiterin des RCSI CyberPsychology Research Centre in Dublin betreibt keine Detektivarbeit, sondern Grundlagenforschung zum Einfluss von Technologie auf kriminelles Verhalten, von Stalking über Organisierte Cyber-Kriminalität bis Menschenhandel. Denn nur wenn Phänomene frühzeitig erfasst werden, bleibt Zeit für Prävention.

Während Eltern sich sorgen, ob Smartphones für Kinder schlecht sind, fragt sich Aiken bereits, wie Kriminelle VR-Brillen missbrauchen könnten. Sie berät Polizeibehörden — und Hollywood. Seit September 2015 läuft die US-Serie CSI: Cyber bei RTL, mit einer FBI-Cybercrime-Einheit im Mittelpunkt.

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Mary Aiken berät die Serie und ist das Vorbild für die von Patricia Arquette gespielte Protagonistin, die im Gegensatz zu Aiken auch selbst ermittelt.

WIRED: Welche Rolle spielt Cybercrime in der Kriminologie heute?
Mary Aiken: Wir leben in einem Zeitalter, in dem jeder ein Endgerät wie ein Smartphone hat, fast jeder Zugang zu WLAN hat, praktisch jede Straßenecke ist durch Überwachungskameras erfasst. Wie wäre es also möglich, ein Verbrechen zu begehen, das keinen Technologie-Aspekt aufweist? In Zukunft wird irgendwann jedes Verbrechen Cybercrime sein.

WIRED: Sie sind keine Detektivin, sondern Wissenschaftlerin — wie unterstützen Sie Ermittlungsbehörden genau?
Aiken: Ich erforsche als Cyber-Psychologin die Evolution von kriminellem Verhalten und cyberkriminellen Phänomenen online. Es geht bei der forensischen Cyber-Psychologie um die Makroebene, das größere Bild, nicht um den Einzelfall. Es geht aber nicht nur um das Verhalten von Kriminellen, sondern auch um die Entwicklung von Verhaltensmustern bei Opfern. Wir müssen anfangen, Cyberspace als Umgebung zu sehen. Technologie ist kein passives Medium, es ist ein immersives Medium, wo mächtige Kräfte unser Verhalten beeinflussen — Menschen tun zum Beispiel durch die wahrgenommene Anonymität in einem virtuellem Kontext Dinge, die sie im Alltag nicht tun würden. Als ich vor acht Jahren angefangen habe, mich mit Cyber-Psychologie zu beschäftigen, haben sich die Behörden an mich gewandt, weil sie Hilfe brauchten. So habe ich angefangen, bei Projekten für internationale Behörden wie Europol und Interpol zu arbeiten, und bilde Ermittler mit Trainings weiter.

WIRED: Halten Sie die Ermittler bei der Bekämpfung von Cybercrime für kompetent genug?
Aiken: Die Ermittler sind sich der Relevanz von Cybercrime sehr bewusst. Bei allen Behörden, mit denen ich gearbeitet habe, stand das ganz oben auf der Agenda. Das Problem: wir reden von riesigen Volumen von Daten, Big Data. Ich war zum Beispiel in ein Projekt des Weißen Hauses involviert, wo wir technologiebasierte Lösungen gegen Menschenhandel, entwickelt haben. Menschenhandel kann sich auch hinter Online-Escortservice-Plattformen verbergen. Aus einer Polizeiperspektive sind 20.000 Escort-Anzeigen, die täglich hochgeladen oder aktualisiert werden, eine Herausforderung. Also haben wir uns Daten wie die öffentlichen Anzeigen in Foren angesehen und mit einem Programm analysiert.

Über die Entwicklung von Cyberkriminellen wissen wir noch nichts. Wie entwickelt sich ein Teenager also in einen Cyberstraftäter?

Mary Aiken, Cyber-Psychologin

WIRED: Welche Information liefert eine solche Analysesoftware Ermittlern?
Aiken: Die Anzeigen lassen Rückschlüsse auf den Ort und das Businessmodell zu, auf Fotos kann man sich Manipulationen wie Verpixelung ansehen oder die Distanz von Dingen im Hintergrund, anhand derer man den Aufenthaltsort erkennen könnte. Oder man sieht sich die Migration dieser Profile an — Prostituierte migrieren bei größeren Sportevents in das Veranstaltungsgebiet. Aber es kann auch sein, dass sie dazu gezwungen werden von Menschenhändlern. Menschenhändler, Hacker, Cyberkriminelle sind am Ende des Tages Menschen. Das Besondere an Menschen ist, dass sie sich in einer bestimmten Art und Weise ausdrücken, dass sie Emotionen haben, und einen bestimmten Modus Operandi. Mit Big Data lässt sich herunterbrechen, wie Kriminelle operieren.

WIRED: Womit beschäftigen Sie sich zur Zeit?
Aiken: Mit zwei weiteren Wissenschaftlern arbeite ich für eine Forschungsinitiative von Europol, „Wege in die Cyberkriminalität“. Wir werden die Entwicklung von Cyberkriminellen erforschen. Wir wissen viel über herkömmliche Kriminologie: Es sind oft Kids aus schwierigen Verhältnissen mit falschen Freunden, die in den falschen Vierteln leben und aufgrund ihrer Situation kriminell werden. Über die Entwicklung von Cyberkriminellen wissen wir noch nichts. Wie entwickelt sich ein Teenager also in einen jugendlichen Cyberstraftäter, wie gerät er in Kontakt mit Organisierten Cybercrime-Gruppierungen, die seine Fähigkeiten schätzen? Und, wenn wir den Weg nachvollziehen können: Wo können wir intervenieren, um das Kind davon abzuhalten? Heute gibt es 13-Jährige mit unglaublichen Tech-Talenten. Genauso wie wir Kinder und Jugendliche in der realen Welt schützen, genauso stellt sich die Frage, wie wir sie in einem Cyberkontext schützen können.

WIRED: Haben Sie Zugriff auf Polizeiakten oder wie erforschen Sie Cybercrime-Laufbahnen?
Aiken: Ich kann nicht genau auf die Methodologie eingehen. Aber man sieht sich beim klassischen Profiling zum Beispiel die Triangulation an. Wenn man eine Serie von Verbrechen hat, kann man sie kartieren und sich den Täter ansehen, wo er vielleicht wohnen könnte, wo er arbeiten und wo er aktiv war oder werden könnte. Die Opfer können ihm dann entlang dieser Pfade zufallen. Bei Einbrüchen kommt der Täter zum Beispiel auf dem Weg von zuhause zur Arbeit an bestimmten Häusern vorbei und sieht, dass die Häuser ständig unverschlossen sind. Als Täter werden Sie das Verbrechen dann nicht dort in der Nähe begehen, wo sie selbst wohnen oder wo sie arbeiten. Es wird irgendwie auf dem Weg passieren. Es gibt eine Art Pufferzone zwischen dem Wohnort und Lebensbereich des Täters und dem Ort, an dem er ein schweres Verbrechen wie einen Raubüberfall oder eine Vergewaltigung begeht. Was wir mit unserer Forschung machen wollen, ist dieses klassische Pfad-Modell zu nehmen, das Internet und auch das Deep Web zu konzeptualisieren und uns dann die Wege anzusehen, entlang derer Cyberkriminelle operieren und auch die Wege ansehen, von Opfern und wie und wo sich Wege von Tätern und Opfern kreuzen.

WIRED: Also versuchen Sie, klassische Profiling-Theorien und Konzepte für das Internet und andere Technologien zu adaptieren?
Aiken: Genau darum geht es. Es ist eine riesige akademische Herausforderung. Die fundamentale Frage für die Verhaltenswissenschaften generell: Sind wir uns sicher, dass Theorien, die für die „reale Welt” entwickelt, hypothetisiert und getestet wurden, im Onlinebereich immer noch anwendbar sind? Wenn man von einer cyberpsychologischen Perspektive grundlegend davon ausgeht, dass Verhalten sich verändern kann in einem virtuellen Kontext — misst man dann überhaupt noch dasselbe? Dazu sind Offline-Alltag und digitale Welt nicht getrennt, sondern symbiotisch — wenn online etwas Negatives passiert, beeinflusst das unser Leben offline und umgekehrt. Man muss sich diese theoretischen Konstrukte ansehen, muss sich das Verhalten ansehen und sich dann als Researcher fragen, ob man alte Theorien verändern muss und wie genau man sie in dieser neuen Domäne wissenschaftlich fundiert erfassen kann. Oder wir müssen neue Theorien entwickeln.

WIRED: Würden Sie sagen, dass das Internet kriminelles Verhalten fundamental verändern, zum Beispiel verstärken kann?
Aiken: Ich forsche in vielen Feldern: Cyberstalking, Cyberbullying, Cyberchondrie, Organisierte Cyberkriminalität, das ganze Spektrum. Ich habe nicht die Zahlen, um es zu beweisen, aber von dem, was ich bisher beobachtet habe, also anekdotisch, ist es so, dass jedes Mal, wenn Technologie mit einer grundsätzlichen Tendenz oder Disposition in Berührung kommt, die Resultate daraus dazu tendieren, extremer und erweitert zu sein. Technologie wurde so designt, dass sie belohnend wirkt, engagiert und verführerisch ist. Aber niemand hat dabei an Kriminelle gedacht. Es gibt Menschen, die online an Enthemmung leiden. Je immersiver das Umfeld wird, desto enthemmter könnte der Kriminelle in dieser Umgebung werden — mehr tun oder weiter gehen.

In der Serie CSI: Cyber wird einmal grüner Code gezeigt, dann kommt die Malware und wird in Rot angezeigt. Leute aus der Tech-Industrie haben mich gefragt, ob das mein Ernst ist

Mary Aiken, Cyber-Psychologin

WIRED: Cybercrime ist ein Bereich, der sich ständig verändert, mit neuen Technologien, Apps, Software-Updates und so weiter entstehen ständig neue kriminelle Innovationen.
Aiken: Was auch immer wir jetzt über Verbrechen wissen — es verändert sich. Meine Arbeit ist eher Zukunftsdenken, aber eben inspiriert durch frühere Fälle. Wenn du nicht fünf Jahre nach vorne schaust, dann bist du immer nur dabei, aufzuholen. Mein Spezialgebiet sind Prognosen, also sich anzusehen, was die nächste Entwicklungsstufe sein könnte. Viele Eltern machen sich zum Beispiel wegen des Mobiltelefongebrauchs ihrer Kinder Sorgen. Ich denke mir immer nur: Liebe Eltern, das ist nicht das Problem der Zukunft. Das Problem der Zukunft wird eher darin liegen, wenn Kinder mit einer Oculus Rift auf dem Kopf am Tisch sitzen. Mit Virtual Reality werden sie nicht nur mental, sondern auch physisch eintauchen. Was ich als Zukunftsforscherin versuche: Ich analysiere die Daten, die jetzt schon existieren, und versuche auf Basis dieser Daten eine Vorhersage zu treffen. Das Problem: Menschliches Verhalten ändert sich konstant — man muss die Daten also nehmen, die man hat und dann einen Schritt weiter denken und in der Abwesenheit von Beweisen versuchen, eine Hypothese aufzustellen. Du könntest richtig oder falsch liegen. Aber es ist trotzdem wichtig zu hypothetisieren, zu testen und mögliche Szenarien zu entwerfen — damit wir besser auf sie vorbereitet sind, und besser damit umgehen können.

WIRED: Sie beraten die Serie CSI: Cyber. Wie authentisch oder wie futuristisch sind die Verbrechen, die in den Folgen aufgeklärt werden?
Aiken: Wir versuchen möglichst authentisch zu sein, aber es ist auch ein Drama und erfordert deswegen eine bestimmte Art von Storytelling. In der ersten Episode stand ein Babycam-Hack im Mittelpunkt. Die Folge war von einem sehr alten Fall, dem „Lindbergh Baby Kidnapping“ von 1932 inspiriert. Das Baby von dem Flugpionier Charles Lindbergh wurde damals entführt, um die reichen Eltern zu erpressen, und es starb. Dann gab es einen zweiten, aktuelleren Fall: Als ein Vater ins Bett ging, hörte er schreckliche Geräusche aus dem Zimmer seines Töchterchens, als er hineinging, sah er wie seine Tochter schlafend im Bett lag und verbal von einem Pädophilen missbraucht wurde, der ihre Babycam gehackt hatte. Ich habe die Geschichten miteinander verbunden und aus den Tätern eine organisierte Cybercrimegang gemacht, die online Gebote für Babys entgegennimmt, sie versteigert und dann zieht das Kidnapping-Team los, um die bestellten Babies zu entführen.

WIRED: Ist das realistisch?
Aiken: Es ist relativ unwahrscheinlich, dass das wirklich passiert. Aber in der Episode ging es nicht um die Gefahr von Babyauktionen online — es ging um die Logik. Wenn du ein Gerät in das Zimmer deines Säuglings stellst, mit der Möglichkeit extern auf sie zuzugreifen, dann kann das auch jeder andere, wenn die Plattform nicht robust, sicher und geschützt ist. Mit all den entstehenden Internet-of-Things-Geräten müssen wir uns Gedanken machen, wie all die Daten, die wir durch unsere Vernetzung generieren, auch gekapert werden könnten. Das Baby war eine Metapher für all diejenigen, die im Tech-Zeitalter schwach und verletzlich sind. Sechs Wochen, nachdem wir abgedreht hatten, gab es in Europa allerdings tatsächlich einen massiven Abgriff von Babycam-Daten — Bilder aus Gärten, Wohnungen, auch Babycams waren auf eine Webseite hochgeladen worden.

WIRED: Viele Tech-Experten haben sich über die Serie CSI: Cyber lustig gemacht, aufgrund der Hacker-Klischees.
Aiken: In der Serie wird einmal grüner Code gezeigt, dann kommt die Malware und wird in Rot angezeigt. Leute aus der Tech-Industrie haben mich gefragt, ob das mein Ernst ist. Aber: Natürlich wird ein IT-Experte bei einer solchen Metapher aussteigen, und wer sehr technikaffin ist, kann sich über eine Show wie CSI: Cyber tatsächlich lustig machen. Aber die Serie ist gar nicht für Tech-Experten gemacht, sondern sie versucht, alle zu erreichen auf eine populäre Art, die auch unterhalten will. So wie CSI vor 15 Jahren Forensische Wissenschaft erklärt hat, soll CSI: Cyber nun Cyber-Psychologie erklären. Und um ein größeres Publikum zu erreichen, muss man das eben auf einem Level tun, das verständlich ist. Ich hoffe, dass mit CSI: Cyber eine Debatte angestoßen wird, das Cybersicherheit zuhause beginnt. Es geht darum, bei Familien ein Gespräch über Technologiegebrauch anzuregen, was gut ist und was schlecht ist.

In der neuen CrimeWatch-Kolumne analysiert WIRED-Redakteurin Sonja Peteranderl Cybercrime-Fälle, Trends und Ermittler-Strategien. Jeweils donnerstags geht eine neue Folge auf Wired.de online.

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