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Der US-Autor Bruce Sterling berichtet vom Ökö-Hacker-Camp POC21

von Bruce Sterling
Wie könnte eine Zukunft aussehen, in der wir ohne fossile Energie auskommen und keinen Müll produzieren? Mehr als hundert Designer, Wissenschaftler und Hacker aus aller Welt kamen Mitte August in einem Schloss bei Paris zusammen, um fünf Wochen lang dieser Frage nachzugehen. Arbeits­titel: POC21. Exklusiv für WIRED berichtet der US-Science-Fiction-Autor Bruce Sterling über seine Erlebnisse im Öko-Hacker-Schloss. 

Das Château de Millemont liegt eine Stunde von Paris entfernt, inmitten hügeliger Felder, Ententeichen und Wäldern, durch die Wildschweine jagen. Dieser Ort ist der Inbegriff von Ruhe, wenn man vom Lärm der Motorsägen absieht.

Für das POC21-Projekt hatte eine kleine Armee von Machern und Vordenkern das Schloss eingenommen, im Garten weiße Zelte aufgestellt und den Stall zu einer Fabrik umgebaut. Ziel der Besatzung: Hardware bauen und mit der Welt teilen — kurz bevor die UN-Klimakonferenz in Paris über die Zukunft des globalen Klimaschutzes verhandelt. Andere demonstrieren. Die Aktivisten im Schloss wollten den Diplomaten lieber ein Dutzend neuer Projekte präsentieren.

Aker

Der Brite Copley-Smith und der Ami Makaruk betreiben Farming als Open-Source-Projekt: Entwürfe für Hochbeete, Kompostanlagen oder Hühnerställe kann man bei Aker (Sitz in Denver) herunter­laden und die Produkte dann selbst herstellen.

 

 

Warum? Nun, nehmen wir an, Sie sind ein junger Internet-Kommunarde. Sie sind technisch begabt und interessieren sich für eine radikal vernetzte Art zu leben, die ohne die altmodischen Regeln für Recht, Finanzwesen und Staatsangehörigkeit auskommt. Sie besuchen Webseiten wie GitHub und trinken Club-Mate mit dem Chaos Computer Club. Sie haben gesehen, wie sich Airbnb und Uber explosionsartig um die ganze Welt verbreitet haben.

Hier geht es zur großen Hintergrunds-Geschichte zu POC21.

Also wissen Sie, dass „vernetztes Teilen“ und „kollaborativer Konsum“ mächtige und disruptive Technologien sind. Reiche Unternehmer sind in Ihren Augen allerdings korrupte Seelenverkäufer. Was Sie wollen, ist eine gerechtere, demokratischere und am Gemeinwohl orientierte Produktions­gesellschaft unter Gleichen, in der es solche Chefs gar nicht erst geben kann.

Das ist der Traum, das große Konzept. Aber was davon lässt sich in der echten Welt umsetzen? Um das herauszufinden, sind Sie hergekommen. Alles, was Sie haben, sind ein bisschen Stiftungsgeld und Ihre zwei Hände. Außerdem verfügen Sie über ein paar Open-Source-Datenbanken und Fertigungshilfen wie Autodesk-Software und 3D-Drucker.

 

Sunzilla

Den ersten Solargenerator haben die vier in Berlin ansässigen Ingenieure entwickelt, weil ein Dieselmotor bei der Filmvor­führung störte. Ihr neuer Prototyp ist gefaltet nur so groß wie eine Palette — für Flüchtlinge so nützlich wie auf Festivals.  

 

 

 

 

Was aus dieser Kombination entstehen kann, ließ sich auf dem Gelände des Château de Millemont besichtigen. POC21 ist kurz für Proof of Concept 21: eine temporäre Internet-Kommune, zusam­mengekommen, um an einem Dutzend Open-Source-Projekten zu arbeiten.

Die meisten sind unter 35 und kommen aus Deutschland, Frankreich oder Spanien. Verständigungssprache ist Englisch. Um ein derartiges Ereignis in Gang zu bringen, braucht man natürlich eine Kerntruppe. Im Fall von POC21 sind diese Drahtzieher zehn Menschen aus zwei Organisationen: Open State aus Berlin und OuiShare aus Paris.

Diese zwei Gruppen sind keine Unternehmen, keine reichen Stiftungen, keine Parteien. Es sind schlicht Clubs von Gleichgesinnten, die nicht einmal wirklich aus Berlin oder Paris kommen. Interessanterweise handelt es sich bei der Mehrzahl um Frauen. Wenn Sie eine Aktivistin sind und lieber etwas Konkretes erreichen wollen als einfach nur Ruhm und Macht, dann ist Peer-to-Peer-Produktion vielleicht genau das Richtige für Sie.

Meine Frau Jasmina und ich waren eine Woche lang als Gäste dabei. Anders als die meisten Teilnehmer hatten wir ein eigenes Zimmer im Schloss, mit einem Dach, einer heißen Dusche und einem Bett. Zum Glück hatten wir vorher schon das Burning-Man-Festival, Lager mit Balkan-Flüchtlingen und besetzte Häuser in Mailand gesehen. So konnten wir uns mit dem Open-Source-Lifestyle im Camp schnell anfreunden.

 

 

Bicitractor

Von Bauern für Bauern: Den Fahrradtraktor des internationalen Kollektivs Farming Soul, zu dessen Kern der Franzose Comte gehört, betreibt man einfach mit den Füßen. Das spart Benzin und ist für kleine Farmer eine günstige Do-it-yourself-­Alternative zu teuren Traktoren.

 

 

Als umweltbewusste Menschen legen die POC21-Leute Wert auf Einfachheit. Ihre Bedürfnisse sind bescheiden, ihr ökologischer Fußabdruck winzig. Sie haben kein Problem damit, in feuchten Zelten zu leben und sich fast nur von Salaten zu ernähren. Ihr Bedürfnis nach den Wolken des Internets aber ist metaphysisch. Sie können nie genug davon bekommen. Die erste Erfordernis für das Camp war daher die drahtlose Breitband-Anbindung. In der langen Scheune des alten Schlosses, die als Werkstatt diente, gab es überhaupt keinen Internetanschluss. Also musste die Konnektivität mit verschiedenen Antennen- und Smartphone-Tricks herbeigehackt werden.

Erst danach kamen die weniger bedeutenden Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und gesellschaftlicher Ordnung. All das wurde vor Ort spontan geregelt. Im Schloss gab es eine alte Küche – ein barockes Durcheinander mit riesigen Herdplatten aus Gusseisen. Niemand traute sich, sie zu benutzen. Stattdessen wurde einfach eine neue Küche gebaut, untergebracht in einem Nebengebäude voller Bauernhofschrott. Innerhalb von Stunden räumten die Kommunarden die Scheune leer und bauten eine neue Küche aus Holz, die dann wochenlang effizient für die Versorgung von 100 Menschen genutzt wurde.

Ich habe schon viele Open-Source-Bauprojekte gesehen. Aber so etwas wie diese Küche noch nie. Ich war offen gestanden schockiert über die Anmutung dieser Konstruktion: Zum größten Teil bestand sie aus ungeschliffenen Holzresten – aber jedes Element passte genau in den verfügbaren Raum. Diese Küche war auf fast digitale Weise akkurat, einfach und robust. Regale, Stiegen und Spülen sahen aus, als hätte sie schon seit Jahrzehnten dort gestanden.

 

 

Fair Cap

Ein winziger Wasserfilter, der nur einen Dollar kostet und auf jede Plastikflasche geschraubt werden kann — auf die Idee kam der in Spanien lebende peruanische Social Entrepreneur beim Urlaub im Amazonas-Regenwald. Mit Fair Cap will Cordova Millionen Menschen Zugang zu sauberem Trink­wasser sichern.

 

 

 

Die Tage im Camp begannen mit Kaffee, Yoga und Diskussionskreisen, mit reichlich Handzeichen im Occupy-Stil. Rasch wurden Teams für Kochdienst, Abfall, Nachtwachen und die Wartung der Außentoiletten gebildet. Zwischen dem Camp und dem lokalen Bahnhof pen­delten Autos, ansonsten aber war das Schloss eine Mitmachwelt aus biologisch abbaubarer Seife, Holzpaletten, Schubkarren und Lastenfahrrädern. Die Teilnehmer trugen orangefarbene Klebestreifen auf der Brust, auf die ihre Namen gekritzelt waren.

Auf einem Volleyballfeld spielte ein halbes Dutzend kleiner Kinder. Nach Sonnenuntergang lümmelten die Bewohner auf Kissen im alten Schlosssaal herum, tranken — na, was wohl? — Club-Mate und sprachen über Ökonomie und Philosophie.

Die Fabrik, untergebracht in den früheren Stallungen des Schlosses, war die summende Seele der Operation. Von der Maker-Bewegung sagt man, ihre An­hänger seien eigentlich gar nicht so sehr an der Herstellung von fertigen Produkten interessiert. Stattdessen lieben sie den Prozess der Herstellung selbst – also stellen sie am liebsten Dinge her, die Dinge herstellen, die Dinge herstellen. Und so kam es, dass auch die Schloss­fabrik einen scheinbar endlosen Strom an Hockern, Bänken und Arbeitstischen produzierte: robuste Konstruktionen, geeignet für Motorsägen, Schraubstöcke und Hämmer.

Die Fabrik war eine Fabrik, aber sie war auch eine Fabrik für Fabriken.
Die Teilnehmer des POC21 gehören zur Elite der Öko-Hacker. Die zwölf Teams im Camp und ihre Projekte wurden aus 200 Bewerbungen ausgewählt. Ihr eigentliches Interesse lag nicht im Alltagsleben auf einem Schloss, sondern in der Weiterentwicklung ihrer Projekte – Konzepte für „angepasste Technologie“ wie Lastenfahrräder, Windturbinen,  wassersparende Duschen.

 

 

Nautile

Der Eisbär und das obskure Unter­wassertier namens Nautilus standen Modell für das
biomimetische Design des Wasserkochers dieser zwei fran­zösischen Designer. Das Ergebnis:
ein 3D-gedruckter Keramikkessel, der nur so viel Wasser erhitzt, wie man tatsächlich braucht.

 

 

Mauricio Cordova etwa. Er hat in seiner Kindheit in Peru miterlebt, was ein Choleraausbruch bedeutet. Jetzt arbeitet er an einem 3D-druckbaren Wasserfilter, der allen Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser sichern soll. „Dieser Filter würde nicht existieren, wenn wir ihn nicht entwickelt hätten. Firmen wollen uns Dinge verkaufen, nicht die einfachste und günstigste Lösung finden, um das Leben aller zu verbessern“, sagt er.

Oder die beiden Produktdesigner Guillian Graves und Michka Meló. Sie entwickeln nach dem Vorbild der Natur einen Wasserkocher, der mit Erdgas beheizt werden kann und mit einem Innenleben aus verschiedenen Kammern nur so viel Wasser erhitzt, wie man auch tatsächlich benötigt. Das Kollektiv Bicitractor arbeitet an einem Fahrradtraktor, den auch Bauern in Chiapas mit minimalen Mitteln nachbauen können. Und der Neuseeländer Daniel Connell will ein 30-Dollar-Windrad entwickeln, für dessen Bau man wenig mehr als eine alte Fahrradfelge, ein paar Aluminiumplatten und eine Bohrmaschine benötigt.

Alle diese Erfindungen gibt es schon in Dutzenden Varianten. Die POC-Leute aber wollen sie als Open-Source-Projekte neu erschaffen, also die Baupläne dazu für alle offenlegen. Der Vorteil: Alle können diese Produkte nicht nur nutzen, sondern auch verbessern, weiterentwickeln, eigene Versionen davon produzieren, die auf ihre Bedürfnisse abgestimmt sind. Niemand hat Rechte an den Lösungen der großen Probleme.

 

Ownfood

Einen Garten, der sich fast von selbst pflegt und vier Leute mit Gemüse versorgt: Das verspricht das französisch-­luxemburgische Team. Das Open-­Source-Treibhaus soll knapp
5000 Euro kosten – das soll sich nach drei Jahren rentieren. 
 

 

 

 

 

Ganz ehrlich: Ein Open-Source-Fahrrad­traktor wird nicht die Welt erobern. Noch nie ist ein physisches Open-Source-Produkt ein echter Hit geworden. Open Source passt einfach nicht zum üblichen kapitalistischen Marktmodell: Vernetzte Planung und Handwerk im kleinen Maßstab lassen sich schlecht mit den Größenvorteilen der Massenproduktion und raschem Vertrieb vereinen.

Es gibt allerdings etwas, das an Open-Source-Hardware tatsächlich besonders ist: Traditionell würde man davon ausgehen, dass rasch gebaute Objekte provisorisch und wackelig ausfallen. Wenn sie zum Selbstmontieren gedacht sind, erwartet man Ikea-Stil: leicht, billig, simpel. Die Produkte der Schlossbewohner sehen jedoch anders aus. Sie lassen sich zwar relativ einfach herstellen, doch sie sind das Ergebnis sorgfältiger Überlegungen. Es sind Objekte aus sozialen Netzen, geballte kollektive Intelligenz.

Zur Sicherheit muss man auch anmerken, dass diese Projekte nicht aus der Armut heraus geboren werden. Bei den indischen Erfindungen der sogenannten Jugaad-Technologie zum Beispiel geht es darum, mit wenig viel zu erreichen: Man setzt das Material anders ein, weil man nicht viel hat. Open-Source-Hardware ist das genaue Gegenteil: höchst variabel und manchmal erschreckend teuer. Der Prototyp für das nachhaltige Treibhaus von Ownfood, das hier entwickelt wird, wird etwa 5000 Euro kosten. Man muss schon ganz schön viel Gemüse essen, damit sich das rentiert.

Die raffinierten Pläne mögen gratis oder zumindest billig sein. Doch die Unabhängigkeit, Dinge in Eigenregie herzustellen, kostet einiges. Die Makers verfügen nicht über die enormen Grö­ßenvorteile und ausgeklügelten industriellen Produktionsketten der Her­steller, die derzeit unseren Planeten ruinieren – das schlägt auf den Preis der Produkte.

 

30-$-Windturbine

Das Windrad des Maker-Designers aus Neuseeland kann sich jeder selbst aus Recyclingmaterialien bauen. Aluminiumabfälle aus Druckereien, eine Fahrradfelge vom Schrott, ein paar Bolzen, Cuttermesser und Bohrmaschine als Werkzeug — sogar den Wind dazu gibt es gratis. Nach­haltiger kann Strom­erzeugung kaum sein.

 

 

Und ich? Weil nun mal jeder auf dem POC21 etwas baute, verbrachte ich die Woche damit, beim Bau einer geo­dätischen Kuppel mitzuhelfen, dem auffälligsten Bauwerk des Camps. Steckte hölzerne Streben in die Knotenpunkte, immer und immer wieder. Tag für Tag wuchsen die Seiten der Kuppel, bis diese locker hoch genug gewesen wäre, um sich beim Sturz von der Spitze das Genick zu brechen. Stunde um Stunde verbrachte ich oben auf den Streben – und brachte oft Unschuldige in Gefahr, wenn mir mal wieder die Bohrmaschine herunterfiel. Man hatte von dort einen wunderbaren Blick auf die Umgebung, auf liebliches, fruchtbares Land voller Kartoffeln, Tomaten, Lauch, Salbei und Thymian.

Geodome sind nicht neu, schon die Hippies mochten sie. In einem wichtigen Aspekt unterschied sich dieses Werk aber von denen früherer Generationen: Es war über Crowdfunding finanziert. Als Behausung für Menschen weisen Geodome große Schwächen auf, für Festivals eignen sie sich aber ziemlich gut, weil sie schick aussehen und schnell, geräumig und temporär sind — ein bisschen wie Zirkuszelte. Wenn also eine Crowd einen solchen Bau für eine Crowd finanziert, wird eine Festivalkuppel zu einer echten Peer-to-Peer-Produktion.

Dadurch verändern sich auch die wirtschaftlichen Überlegungen. Dass die Kuppel insgesamt 25.000 Euro kostet, ist nicht mehr so wichtig. Die neue Frage lautet: Würde ich 10 Euro investieren, damit 25.000 Menschen eine Kuppel bekommen? Selbstverständlich wären die meisten nicht so großzügig. Aber wenn nur einer von zehn dazu bereit ist, kann eine Kuppel für 25.000 Euro entstehen und alle überraschen.

So kann Peer-to-Peer-Produktion nach dem Open-Source-Prinzip sehr wohl die Welt verändern – allerdings auf eher subtile Weise. Man muss dafür kontaktfreudig und gesprächig sein. Man muss viel in Kreisen sitzen und geduldig allen zuhören können. Sanft, aber gerissen sein. Wenn Sie dafür geeignet sind, gehört die Zukunft womöglich auch Ihnen.

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