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Der Facebook-Messenger: die App für alle Fälle

von David Rowan
Facebooks Messenger will den Handy-Alltag ganz für sich allein. Bereits im Frühjahr hatte Mark Zuckerberg erklärt, welch hohen Stellenwert das Kommunikationstool im Unternehmen einnimmt: „Wir sehen im Messenger-Wachstum das Potenzial, Menschen zu helfen, sich auf ganz neue Art auszudrücken.“

Sieben Meter hoch reckt sich die Decke in der neuen, von Frank Gehry gestal­teten Facebook-Zentrale über David Marcus, als er über „eine der größten Chancen“ spricht, „die sich der Tech-Branche in den nächsten zehn Jahren bieten werde“. Rings um den ehemaligen PayPal-Manager herum hängen Pos­ter an den Wänden, die Mitarbeiter auffordern: „Move Fast And Break Things“ oder auch, ganz schlicht: „Think Wrong“.

Auf 40.000 Quadratmetern geht das so: Gehry, der Top-Architekt, hat das Hauptquartier der Top-Netz­werker als ein gigantisches, offen gehaltenes Gebäude gestaltet, und überall wird gemahnt, eilig weiterzuhetzen und lieber Fehltritte zu riskieren, als sich auf dem Erfolg auszuruhen. Morgen schon könnte alles anders sein. Morgen schon soll alles anders sein: besser für Facebook. Schöner. Erfolgreicher. Vor allem auch im Zusammenspiel mit Unternehmen, die Facebook bisher bestenfalls für PR-Zwecke nutzen, sonst aber oft wenig mit dem Netzwerk anzufangen wissen.

An David Marcus ist es nun, das zu ändern. Als der gebürtige Franzose im August 2014 überraschend zu Facebook wechselte, verzeichnete die hauseigene Messenger-App 300 Millionen aktive Nutzer im Monat. Gut ein Jahr später ist die Zahl auf über 700 Millionen gestiegen — bei mehr als einer Milliarde Downloads für die An­droid-Version. Und doch spricht Marcus von „Babyschritten“, wenn er beschreibt, wie sehr sein zweihundert Mann
starkes Team sich dem erklärten Ziel genähert hat, die nächste große Kommunikationsplattform für die Firma aufzubauen.

Die große Vision hat Facebook-Gründer Mark Zuckerberg bereits öffentlich umrissen: „Wir sehen im Messenger-Wachstum das Potenzial, Menschen zu helfen, sich auf ganz neue Art auszudrücken, Hunderte von Millionen neu zu vernetzen und ein enorm wichtiges Kommunikations-­Tool für die ganze Welt zu werden“, verkündete er im Frühjahr auf der Facebook-Entwicklerkonferenz F8 vor 2000 Teilnehmern in San Francisco.

Messenger, so Zucker­berg, sei weit mehr als nur eine App: „Wenn wir Menschen die Möglichkeit geben, auf natürlichere Weise mit Firmen zu kommunizieren als bisher, dann wird davon praktisch jeder profitieren, denn das ist ja etwas, das je­der tut.“ Womit er meinte: Wir alle wollen Dinge kaufen, Dienstleistungen bestellen, Feedback geben. Und das könnte einfacher gehen als bisher.

So hat nun Marcus, ein 42-jähriger Finanztechnologie-Spezialist, die Aufgabe, aus einer Nachrichten-App, die ursprünglich für Plaudereien unter Freunden gedacht war, eine allumfassende Software-Plattform zu machen. In China kann man bereits sehen, wie so etwas geht: Dort zählt der Social-Media-Gigant Tencent mehr als 600 Millionen monatlich aktive Nut­zer, die Taxis bestellen, Flüge buchen, Games spielen, Kinokarten kaufen, Arzt­termine buchen, Video­konferenzen abhalten, Onlinebanking machen und Geld spenden – ohne dass sie dazu Weixin, die chinesische Version von Tencents WeChat-App, jemals verlassen müssen.

„Keine Frage“, sagt Marcus, „die Stunde des Messaging ist gekommen. Es gibt nichts, was Menschen mit ih­rem Smartphone häufiger tun.“ Das war es auch, was ihn von PayPal zu Facebook gelockt habe, erklärt er: „Ich bin fest davon überzeugt, dass Messaging die nächste große Plattform ist: gemessen an der Zeit, die Menschen darauf verwenden, am Maß der Aufmerksamkeit und der Verweildauer – hier spielt die Musik.“ Um diese Er­kennt­nis kommt auch Mark Zuckerberg nicht herum – selbst wenn sie das Eingeständnis bedeutet, dass Messa­ging sein ursprüngliches Geschäftsmodell in Bedrängnis bringt. „Messaging“, räumte er in einer öffentlichen Fragestunde ein, „gehört zu den wenigen Dingen, mit denen die Menschen mehr Zeit verbringen als mit dem Nutzen von sozialen Netzwerken.“

Beim Umstieg in die Mobilwelt zeigte Facebook sich — allen „Tempo! Tem­po!“-­Wandpostern zum Trotz — eher zögerlich. Am Ende musste Zu­cker­berg Milliarden für WhatsApp und Insta­gram auf den Tisch legen, um den Spätstart zu kompensieren. Diesmal will er nicht das Risiko eingehen, wieder von einer Zeitenwende abgehängt zu werden.

Vorgestellt wurde Messenger im August 2011 als schlichte Nachrichten-App für Android- und iOS-Smartphones, später dann in die Facebook-Mobilsoftware integriert. Seit April 2014 führt die App wieder ein Eigenleben, nun sogar jenseits von Facebook: Wer Messenger verwenden will, braucht nicht mal ein Facebook-Konto.

Dass gleichzeitig die traditionelle Chat-Funktion innerhalb der Facebook-App deaktiviert wurde, User praktisch gezwungen wurden, sich den Messenger zu installieren, um mit ihren Freunden zu kommunizieren – das kam bei der Community denkbar schlecht an, führte zu massenhaft schlechten Protestbewertungen in den App-Stores. Außerdem: Warum, so fragten sich manche Beobachter, kauft Mark Zuckerberg erst WhatsApp für stolze 19 Milliarden Dollar, um zwei Monate später seinen eigenen Konkurrenten ins Rennen zu schicken?

Ist man erst mal mit einem Unternehmen in Kontakt, wird die Unterhaltung nie gelöscht. So wissen Sie jederzeit, worum es geht.

David Marcus, Facebook

Seither ist aller­dings immer deutlicher geworden, dass der Facebook-Chef mit seinen Messaging-Apps unterschiedliche Strategien verfolgt: Während Whats­App schlank bleibt und auf den reinen Nachrichten-Austausch optimiert wird, bekommt Messenger immer neue Funktionen. Inzwischen können Nutzer miteinander telefonieren, Video­gespräche führen, signalisieren, wo sie sich gerade aufhalten, und sich sogar (ähnlich wie bei PayPal) gegenseitig Geld zuschicken. Auf der F8-Konferenz deckte Zuckerberg dann schließlich seine Karten auf: „Bisher haben wir uns darauf konzentriert, Messenger zu verbessern, indem wir alle Funktionen selbst entwickelt haben“, erklärte er. „Heute geht es um den nächsten Schritt: Wir stellen die Messenger-Platt­form vor.“

Damit öffnete Facebook seine Software auch externen Entwicklern — zunächst einmal 40 handverlesenen Partnern, darunter ESPN, Giphy, Boostr, Dubsmash und Talking Tom. Dank eigener Möglichkeiten, sich im Messenger zu präsentieren, so Zuckerberg, könnten die Firmen künftig ganz neue Wege finden, mit ihren Fans in Kontakt zu treten — damit Kunden ganz ungezwungen „eine Reservierung machen, etwas bestellen oder die Lieferadresse ändern können“.
In einem Statement erklärt Zucker­berg noch genauer, warum der Messenger für seine Strategie, Facebook breiter aufzustellen, eine Schlüsselrolle spielt: „Unser Ziel ist es, allen Menschen rund um den Globus dabei zu helfen, sich zu vernetzen. Das ist ein weit gestecktes Ziel, aber alles, was wir tun, soll darauf hinaus­laufen.“

Ein Blick auf die Zahlen zeigt, warum Facebook den Messenger so ernst nimmt: Allein WhatsApp verteilt 30 Milliarden Messages am Tag unter seinen Nutzern – verglichen mit 20 Mil­liarden SMS, die weltweit durch die Mobilfunknetze sämtlicher Anbieter schwirren. Selbst eine kleinere Messaging-App wie Telegram gibt an, täglich zehn Milliarden Nachrichten zu versenden. Innerhalb einer solchen App begegnen Menschen weder Bannerwerbung noch Onlinehändlern und verbringen auch keine Zeit in den sozia­len Netzwerken, die sie sonst so be­schäftigt hatten.

„Facebook, Amazon und Google stehen alle vor der Herausforderung, dass es auf Mobilgeräten der Besitzer des Betriebssystems ist, der die Regeln diktiert“, erklärt Benedict Evans, Mobilfunk-Experte beim Risiko-Investor Andreessen Horowitz. „Für Facebook oder Amazon ist es zu spät, ein eigenes Betriebssystem zu entwickeln, also überlegt sich Facebook: Wie schaffen wir es, in diesem Machtgefüge unsere eigene Ebene einzuziehen?“

Gelingt es dem Messenger, sich zwischen Nutzer und Betriebssystem zu schieben, ist wieder alles gut. „Es geht um Aufmerksamkeit und aktive Teilnahme“, sagt Evans. Die entscheidende Frage für Facebook sei dabei: Entwickelt sich der Messenger zu einer weiteren Kurznachrichten-App unter vielen, oder schafft Zuckerbergs Messenger-Team den großen Wurf – eine ganz eigene Lösung, die unser Leben verändert?

„Der Reiz des WeChat-Modells“, sagt Evans, „sowie von einigen ande­ren Facebook-Ankündigungen auf der F8 hat mit dem Aspekt der service discovery zu tun: Eine Messaging-Anwen­dung wird mit Funktionen angerei­chert, die das soziale Element zum Teil des Entdeckens machen.“ Sollte Zucker­berg damit Erfolg haben, erklärt der Analyst, könnte Facebook auch auf Mobilgeräten zum besten Weg für Firmen werden, auf sich aufmerksam zu machen und neue Kunden zu gewinnen – „wie schon auf dem Desktop“.

Für David Marcus geht es beim Messen­ger-Projekt um nichts weniger, als Millionen von Menschen an neue Verhaltensweisen zu gewöhnen: „Die Vorstellung, die viele vom Umgang mit Mobiltelefonen haben, ist immer noch die gleiche wie zu Zeiten der Klapp­handys“, sagt er. „Man hat ein Tastenfeld zum Wählen, ein Telefonbuch-­Symbol für die Kontakte, ein Icon für Nachrichten und noch eins für die Sprachbox. Immer steht dabei die Anwendung im Mittelpunkt, nicht der Mensch. Beim Messenger basiert alles, was man damit tun kann, auf dem Verlauf der Nachrichten – also auf den Beziehungen zwischen Menschen. Das wollen wir weiter ausbauen.“

Nicht zuletzt in Richtung Business-­Anwendungen, um den Nachrichten-­Austausch zwischen Geschäften und ihren Kunden einfacher zu machen. „Schon ein Restaurant anzurufen, ist kompliziert“, sagt Marcus, „und will man erst eine Fluglinie anrufen, um eine Buchung zu ändern, kommt das einem Besuch beim Zahnarzt gleich: Es tut richtig weh, und keiner will sich darauf einlassen.“

Ähnlich schmerzhaft ist aus Marcus’ Sicht bisher der typische Verlauf einer Online-Bestellung: „Zunächst mal müssen Sie ein Kundenkonto anlegen — das ist die erste E-Mail“, sagt er. „Sie legen etwas in den Einkaufswagen, gehen zur Kasse und bekommen die nächste E-Mail. Das Paket wird versandt — und Sie erhalten eine weitere E-Mail. Bei der Auslieferung die nächste. Macht vier Nachrichten, die jede für sich zusammenhangslos bei Ihnen ankommen. Und die einzige Möglichkeit, darauf zu reagieren, besteht für Sie darin, auf einen Link zu klicken, um eine Website zu besuchen, bei der Sie sich zunächst aufs Neue anmelden müssen.“

Auch die Firma hat immer den gesamten Kontext vor Augen. So gibt es keine Reibungsverluste mehr.

Schon auf dem PC daheim ist das alles kein Vergnügen. Auf Mobilgeräten: „Unmöglich“, sagt Marcus. „Deshalb liegt zwar die Quote von Besuchern, die mobil vorbeischauen, bei den meisten Online-Händlern um 50 bis 60 Prozent – aber unter denen, die tatsächlich etwas kaufen, sackt der Anteil mobiler Surfer auf zehn bis zwölf Prozent ab.“ Zugleich sei klar, dass die Zahl der Handy-Besucher künftig steigen werde. Ein Dilemma für Händler, die sich auf das herkömmliche Einkaufsprinzip verlassen. „Die Frage, die wir uns stellen“, sagt Marcus, „lautet also: Wie würde das alles aussehen, wenn das Web und der PC niemals existiert hätten?“

Die Antwort der Messenger-App liegt darin, Unternehmen und Kunden in einem fortlaufenden digitalen Unterhaltungsstrang miteinander zu verbinden. Interactive bubbles nennt das vierzehnköpfige Entwicklerteam diese moderne Form der Sprechblasen, die ein zwangloses digitales Miteinander fördern sollen. „Gestern habe ich ein T-Shirt von Everlane (einem amerikanischen Textilversand — Anm. der Red.) bestellt, und eben kam die Versandbenachrichtigung, samt Landkarte zur Sendungsverfolgung“, erzählt Marcus. „In meiner Unterhaltung mit Everlane war der komplette Verlauf unserer bisherigen Interaktion zu sehen. Nach mehreren Monaten ohne Kontakt habe ich einfach per Messenger bestellt – und sofort kam die Frage zurück: ,Möchten Sie wieder den Crew-Schnitt, wie früher auch schon?‘ Das ist ein besseres Kon­sumerlebnis als mit einer eigenstän­­digen App.“

Auch Airlines zeigten sich an diesem Konzept interessiert, berichtet Marcus. Als Erste wolle die holländische KLM mit dem Messenger expe­rimentieren. Flüge buchen und um­buchen, die Bordkarte besorgen, über Flugdetails informiert bleiben – all das soll sich künftig in einem einzigen Erzählstrang abspielen. „Wenn Sie einmal mit einem Unternehmen Kontakt aufgenommen haben, öffnen Sie einfach diese Unterhaltung, die nie verschwindet“, sagt Marcus. „Sie wissen jederzeit, worum es geht, und auch die Firma hat immer den gesamten Kontext vor Augen, wer Sie sind und was Sie früher bereits gekauft haben. So gibt es keine Reibungsverluste mehr.“

Damit solche Erlebnisse so persönlich-­freundlich wirken, wie es nur geht, selbst wenn Millionen gleichzeitig anfangen, per Messenger Anfragen zu starten, setzt Facebook stark auf künstliche Intelligenz (KI). „Bestimmte Unterhaltungen können von einer KI schnell und einfach übernommen werden“, sagt Stan Chudnovsky, der bei Facebook das Produktmanagement für Messaging-Produkte leitet. „Formulare funktionieren im Mobilfunknetz beispielsweise nicht, und auch die freie Suche gestaltet sich schwierig. KIs können einem das abnehmen. Dafür schreibt man zum Beispiel einfach: ,Ich möchte den billigsten Flug nach San Francisco, was habe ich für Möglichkeiten?‘ Ist man mit den Ergebnissen nicht zufrieden, kann man menschliche Hilfe in Anspruch nehmen. Wenn wir das richtig anstellen, dann wird Messenger die primäre Schnittstelle zur Erledigung sämtlicher Aufgaben.“

Zuständig für die Entwicklung der KI-Funktion, M genannt, ist Wit.ai, ein Startup, das erst im Januar von Facebook gekauft wurde. So wie Marcus es beschreibt, geht M weit über die reine Informationsfunktion von Apples Siri hinaus: „Man kann sagen: ,Ich möchte meiner Frau heute Nachmittag Blumen schicken, kannst du dich darum kümmern?‘ Die KI weiß, wer Sie sind, und kennt Ihre Adresse. Sie schickt Ihnen eine hübsche Bubble mit einem Vorschlag, wie der Blumenstrauß aussehen könnte. Sie brauchen nur noch zu akzeptieren, und es wird erledigt.“

Firmen, die den Messenger bereits testen, singen Lobeslieder

Mit Blick auf Marcus’ PayPal-Vergangenheit drängt sich die Frage auf, ob Messenger auch einen Bezahlservice bieten wird. Darauf angesprochen, druckst der Facebook-Manager etwas herum. „Wir sind nicht darauf aus, ein eigenes Bezahlgeschäft aufzubauen“, wehrt er ab, um gleich darauf hinterherzuschieben: „Aber natürlich müssen Bezahlvorgänge für unsere Nutzer absolut reibungslos sein. Wenn ich zum Beispiel eine Unterhaltung über einen Flug mit KLM offen habe, dann sollte es kein Problem sein, den nächsten Flug mit einem schnellen Fingertippen zu buchen. Das gilt auch für E-Commerce. Die ersten Schritte dahin sind Peer-to-Peer-Bezahlungen unter Nutzern in den USA, die wir auch in anderen Ländern anbieten werden.“

Fragt man Firmen, die bereits den Messenger testen, singen sie in der Tat ein Hohelied auf die Face­book-Software. Michael Preysman, CEO und Gründer von Everlane, lobt den „menschlicheren persönlichen Dialog, der sich jederzeit nachverfolgen lässt“, und freut sich über die Nähe zu eigentlich Fremden: „Wir sprechen mit Kunden, wie wir mit unseren Freunden sprechen.“

Aber die eigentliche Attraktion, sagt Preysman in seinem Büro in San Francisco, verstecke sich in dem Potenzial, über die App tatsächlich Geschäfte abzuwickeln. Im Augenblick laufen lediglich 20 Prozent von Everlanes Verkäufen über Smartphones, obwohl rund 45 Prozent aller Besucher der Website per Handy vorbeischauen. „Eine kundenfreundliche Plattform ist schön und gut“, erklärt Preysman, „aber am Ende wollen wir sehen, ob wir die Leute dazu kriegen, von unterwegs etwas zu kaufen.“

Andere Partner sehen den Wert der Messenger-App in der Macht des Sharing. „Abends auszugehen, ist eine zutiefst soziale Angelegenheit — bei jeder Buchung verkaufen wir im Durch­schnitt 2,3 Tickets“, sagt Viktoras Jucikas, Mitgründer der Ticketbörse YPlan. „Wenn man sich früher entscheiden wollte, wo man mit seinen Freunden hingeht, hat man ihnen via WhatsApp oder als SMS den Screen­shot einer App geschickt. Das ist eine recht komplizierte Art, etwas zu teilen. Wir wollen den Messenger bei uns in das Gesamterlebnis integrieren.“

Für Rocket Internet steht der Trend zum Messaging für die beispiellose Chance, weltweit neue Kunden anzusprechen – und im Idealfall gleich innerhalb der App mit ihnen ins Geschäft zu kommen. „Früher haben Menschen ihre Zeit damit verbracht, Blogs oder Facebook-Nachrichten zu lesen – jetzt verlagert sich das auf Messaging-­Apps“, sagt Arthur Gerigk, globaler Marketingchef bei Rocket Internet. „Ein Unternehmen, das Kunden gewinnen möchte, muss dort einfach mit dabei sein. Allerdings muss man sich im Klaren darüber sein, dass sich die Dinge hier nicht so kontrollieren lassen wie auf einer Website – man kann nicht einfach ein Banner platzieren oder Leute vollspammen. Man muss sich sein Publikum erst aufbauen.“

Die Facebook-Maxime „Fertig ist besser als perfekt“ bringt es mit sich, dass enthusiastisch vorgestellte Produkte schnell wieder verschwinden, wenn sie nicht zum erhofften Hit werden — siehe etwa: Facebook Gifts, Facebook Credits, Facebook Deals, Facebook Sponsored Stories, Facebook Questions, Facebook Poke, Facebook Beacon und Facebook Home.

Diesmal allerdings zeigen sich die Topmanager mit ihren Absichtserklärungen alles andere als bescheiden. „Wir hoffen in den Märkten, in denen wir aktiv sind, auf mehr als 90 Prozent Markt­durchdringung zu kommen“, sagt Stan Chudnovsky. „Unser Ehrgeiz ist sehr groß. Hier handelt es sich um ein essenzielles Hilfsmittel — jeder Mensch muss kommunizieren. Irgendwann werden wir auf 2015 zurückblicken und sagen: Das war das Jahr, in dem die Messaging-Technologie die westliche Welt erobert hat.“

Hochgesteckte Ziele, die unverkennbar durch die Breitenwirkung von WeChat inspiriert sind: Die Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten samt automatischer Anmeldung macht die Software bei ihren Nutzern zur bevorzugten App, um Games zu spielen, Guthaben aufzuladen, den öffentlichen Nahverkehr oder andere städtische Dienstleistungen zu nutzen, Tickets zu kaufen, Taxis zu bestellen und — ganz wesentlich — Geld auszugeben.

Haben wir es hier tatsächlich mit einem seltenen Beispiel für ein westliches Unternehmen zu tun, das frech ein chinesisches Vorbild kopiert? „Was in Asien passiert, ist eine Inspiration für uns — und das betrifft nicht allein WeChat“, sagt Chudnovsky. „Entscheidend dabei ist aber, dass die dortige Entwicklung zeigt, was möglich ist. Sie beweist, dass alles mit einem Gespräch beginnt.

Zweitausend Jahre lang waren Gespräche die Grundlage für so ziemlich alles im Leben. Das änderte sich erst mit dem Aufkommen des Internets, in dem das Verhalten anfangs sehr stark strukturiert war: Besuchte man eine Website, um etwas einzukaufen, dann diente die Interaktion allein dem Einkauf. In Asien wurde das Gespräch als Ausgangspunkt nie abgelöst. Deshalb entdecken die Menschen dort die Welt durch diese Messaging-Apps.“

Früher haben Menschen Zeit mit Blogs oder Facebook verbracht — jetzt verlagert sich das auf Messaging-­Apps.

Arthur Gerigk, Rocket Internet

In solch kulturellen Unterschieden sieht Facebook nun auch seine Chance, das WeChat-Modell an eigene Zwecke anzupassen. Anders als beim Vorbild soll sich niemand als bevorzugter Partner in die Messenger-App einkaufen können, sondern die Plattform steht allen offen, die mitmachen möchten. „Als WeChat auf den Markt kam, gab es noch kein Airbnb, kein Uber und viele andere schnell wachsende Apps“, sagt Marcus. „Der Grad dessen, was Menschen akzeptabel finden, ist im Westen ein völlig anderer: Wenn sie von ihrer Messaging-App, in der es um sehr private Dinge geht, ständig mit Werbung bombardiert werden, kehren sie irgendwann zur SMS zurück.“

Nach Einzelhandel und Flugreisen plant Marcus, Facebook mit der Messenger-Plattform zunächst einmal weitere Märkte zu erschließen – über die er vorerst nichts sagen will –, bevor er schließlich „die Schleusentore öffnet“ und jeden mitmachen lässt, der Inte­resse zeigt. Was die Frage aufwirft: Fängt der Messenger nicht irgendwann an, Facebooks andere Nachrichten-App zu kannibalisieren?

Nein, sagt Marcus: „WhatsApp ist in den Entwicklungsländern auf dem Vormarsch, wogegen Messenger mehr auf die ent­wickelten Länder zielt. So viele Überschneidungen gibt es da gar nicht. Um ehrlich zu sein, denken wir eigentlich kaum darüber nach, ob wir einander Konkurrenz machen. Es sieht danach aus, als ob die Welt sich ganz von allein aufteilt in Länder, in denen WhatsApp dominiert, und andere, in denen wir dominieren.“ Das WhatsApp-Management stimmt zu – auch wenn es nicht zitiert werden will.

Das Problem mit Plattformen ist nur, dass sie allein die Regeln vorgeben. Andere Unternehmen, die sich auf ihre Bedingungen einlassen, müssen damit rechnen, dass eine Regeländerung jederzeit ruinös werden kann. Zynga war einmal das größte Social-­Gaming-Unternehmen der Welt – bis Facebook anfing, am Algorithmus für den News-Feed zu schrauben. Plötzlich konnte Zynga seine Spiele nur noch sehr eingeschränkt bewerben.

Dennoch ist Facebooks Reichweite schwer zu ignorieren: Aktuell zählt das soziale Netzwerk 1,5 Milliarden Nutzer, die mindestens einmal im Monat vorbeischauen. 2014 teilten Facebook-­Mitglieder mehr als fünf Milliarden Inhalte anderer Apps. Eine Deloitte-­Studie, die Facebook gern zitiert, kommt zu dem Schluss, dass der Social-­Networking-Primus für seine Partner Gold wert ist: Demnach werden andere Firmen in diesem Jahr mithilfe der Face­book-Plattform mehr als 29 Milliarden Dollar umsetzen.

Diese Omnipräsenz macht es dem Netzwerk leichter als seinen Konkurrenten, zur zentralen Nachrichtenstelle des Internets zu werden: Da Face­book bereits die Identität von über 1,5 Milliarden Menschen kennt, kann es Firmen und Kunden schnell und unkompliziert miteinander verknüpfen.

„Richtig interessant wird es, wenn wir Messenger in eine universelle Mitteilungsplattform für das Web verwandeln“, sagt Marcus. „Denn in diesem Moment geht es auch um die Existenz von Apps: Muss man die überhaupt noch installieren? Apple und Google wären gern ebenso weit, aber ihnen fehlt diese Identitätsplattform für das Web, anders als Facebook.“

Für diese Chance war Marcus auch bereit, PayPal zu verlassen. „Mark überzeugte mich, darauf zu verzichten, Chef eines 50-Milliar­den-Dollar-Unternehmens zu werden“, erzählt er. Solche Chancen bieten sich nun mal nicht alle Tage und auch nicht überall. Bei Facebook, sagt er, „können wir das Beste daraus machen. Die Möglichkeiten sind praktisch grenzenlos.“

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