Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Drohnenland-Kolumne / Tom Hillenbrand über ein romantisches Dinner in Brüssel

von Tom Hillenbrand
Tom Hillenbrand ist Schriftsteller, sein Buch „Drohnenland“ spielt in einem hoch technologisierten Europa der nicht allzu fernen Zukunft. In dieser Zeit lebt auch PR-Profi Dae-Jung Leclerq, der seine Alltagserlebnisse hier regelmäßig schildert. 

Claudine mustert die Speisekarte wie einen Jahresabschluss. Nach einer Ewigkeit sagt sie: „Den Crevettensalat. Als Hauptgang die Pavés mit Morchelsoße, bitte mit Nudi anstelle des Kalbs.“

Allmächtiger. Romantisches Dinner im L’Indicible, dem besten Franzosen in Brüssel, 8,79 Michelin-Sterne – und meine Freundin bestellt Nudi, ein Zeug, das meist für Nuggets oder Brät verwendet wird. Warum nicht gleich Currywurst?

Der Kellner nimmt die Bestellung ohne Regung auf. „Sehr gerne, Madame. Und für Monsieur?“ „Den Coucou de Malines. Vorweg die Escargots à la Bourguignonne.“ Der Kellner zischt ab. Claudine prüft das Rückstrahlvermögen ihres Bestecks. „Was ist?“, frage ich. „Das mit den Schnecken musste jetzt natürlich wieder sein.“ „Ich mag Schnecken, Claudine.“ „Und ich finde sie widerlich, Dae-Jung.“

„Musst sie ja nicht essen.“

„Nein, aber ich muss dir zusehen, wie du sie aus ihrem Gehäuse zuzelst.“ Ich bleibe ruhig, was mich einige Mühe kostet. Der Kellner bringt Viúva Clicquot. „Auf uns, Chérie“, sage ich.

Claudine lächelt. Es wirkt bemüht. Nach einiger Zeit kommen die Vorspeisen. Auch sie werden von einem echten Kellner gebracht – keine Servierdrohne weit und breit. Dieses L’Indicible ist echt ein edler Schuppen.

„Dein Salat sieht toll aus“, bemerke ich.

Sie nickt nur. Doch ihr Gesicht sagt: „Und deine Schnecken sehen zum Kotzen aus.“

Egal, ich lasse es mir schmecken. Das
Essen ist hervorragend, was man vom Rest dieses Dinners nicht behaupten kann.

„Schmeckt es dir?“, frage ich.

„Ja.“

Ich seufze. „Jetzt hör mal zu, Chérie. Nur, weil du neuerdings nur noch Nudi isst, muss ich ja nicht …“

Weiter komme ich nicht. Ist vielleicht auch besser so, denn ansonsten wäre der Abend vermutlich völlig im Eimer.  

Der Kellner bringt die Hauptgerichte. Mechelner Kuckuck für mich, Nudi-Pavés für Claudine. 

„Ist das echt Kuckuck?“, fragt sie und schaut mein Essen an, als sei es radioaktiv.

„Nein“, sage ich, „heißt nur so. Eine Sperberrasse aus dem Paläogen, die man sequenziert und nachgezüchtet hat. Schmeckt fast wie Chicken, der Kuckuck.“

Claudine lässt ihr Besteck auf den Teller klappern. „Gleich vergeht mir der Appetit.“

„Also, wenn du Nudi isst, solltest du dich über mein Essen nicht aufregen!“

„Was ist damit?“, fragt sie.

„Woraus, glaubst du, besteht Nudi?“

Claudine zuckt mit den Achseln. „Ja, was weiß denn ich? Irgendeine Sojakrillmischung vermutlich. Es ist sehr fettarm und …“

„Nudibranchia!“, brülle ich.

„Was?“

„Warum heißt es wohl Nudi? Nudibranchia, Nackt-schnek-ke!“

Claudine, die bereits zwei ihrer Pavés verspeist hat, erbleicht merklich.

„Dae, was zum Teufel erzählst du da? Du bist so widerlich manchmal. Diese Steaks, so groß wie mein Handteller. Wie sollten die aus Schnecken … Das denkst du dir aus.“

Nun platzt mir der Kragen. „Projektion“, knurre ich. Meine Specs lassen zwischen uns eine dreidimensionale Animation einer nudibranchia maior erscheinen. Sieht aus wie eine gewöhnliche Nacktschnecke, ist aber so lang und dick wie ein menschlicher Oberschenkel. 20 Kilo reines Muskelfleisch winden sich über dem Tisch durch die Luft.

Claudine kreischt. Sie ist nicht die Einzige. Kein Wunder: Bevor man dieses Wunder der Genetik in Scheiben schneidet und Morchelsoße oder Panade drübertut, sehen sie nicht sehr appetitlich aus. Ich knipse die Projektion aus. Dann stehe ich auf.

„Wo willst du hin?“, ruft mir Claudine hinterher, als ich zum Ausgang eile. Statt zu antworten, laufe ich weiter. Ich muss zur nächs-ten Frietkot, und zwar allein. Nichts brauche ich jetzt dringender als ein paar ehrliche Pommes mit Tatarensoße.

GQ Empfiehlt