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Play-Kolumne / Thomas Glavinic über Plastikhirne und künstliche Dummheit

von Thomas Glavinic
Eine meiner liebsten Freundinnen hat gerade nach einem bizarren Safariunglück eine künstliche Hüfte gekriegt. Sie ist noch keine 50, es ist ihr ziemlich peinlich, was ich nicht ganz verstehe.

Am Entlassungstag bekam sie einen Zettel ausgehändigt, auf dem in anschaulichen Skizzen dargestellt war, welche Stellungen die Kunsthüftpatientin beim Sexualakt in den ersten Wochen nach dem chirurgischen Eingriff noch nicht versuchen sollte. Der Zettel ist zwar zur Erheiterung abendlicher Runden kindlicher Gemüter (ich bin eines) einigermaßen tauglich, aber mich fasziniert mehr dieses moderne Ding in Elas Hüfte.

Kunstherzen gibt es ja schon. Kunsthirne auch, zumindest treffe ich dauernd solche Leute.

Ich meine: künstlich! Damit kenne ich mich eigentlich aus. Ich bin ja nicht der Jutesacktyp, nie gewesen. Aber jahrelang ein „Star Trek“-Fan. „Deep Space Nine“ ist allen anderen Serien aus der Reihe vorzuziehen — die sogenannten Borg kommen in diesem Erzählstrang selten vor, zum Glück. Für mich sind sie verzichtbar. Zum einen kann ich Kollektive auf den Tod nicht ausstehen, zum anderen ist der Lieblingskonterpart der Borg der dröge Captain Picard, ein langweiliger, sinnsuchender, moralbesoffener Spießer. Die Borg sind im Universum der Serie auf alle Fälle nicht die interessanteste Rasse (Ferengi, Trill, Klingonen). Borg kommt von Cyborg, und sie sind Maschinenwesen. Es gibt Menschen, die voraussagen, dass auch wir Menschen eine Symbiose mit Maschinen eingehen werden. Kunstherzen gibt es ja schon. Kunsthirne auch, zumindest treffe ich dauernd solche Leute: Plastikhirne, alles schon da gewesen.

Und jetzt scheppert eine Freundin mit der künstlichen Hüfte daher und braucht für die Securityschleuse am Flughafen ein Metallattest. Wer weiß, ob sie nicht auf den Geschmack kommt.

Irgendwann kommen die Leute mit Kunstkörper, aber Biohirn daher.

In Wissenschaftssendungen sieht man ja schon die schauerlichsten Dinge: durch Gedankenkraft sich bewegende Kunstarme, irgendwie einschüchternd. Irgendwann kommen die Leute mit Kunstkörper, aber Biohirn daher. Mit diesen Rüstungsmenschen wird nicht gut Kirschen essen sein, da stirbt man nicht mehr bei einer Wirtshausrauferei oder an Lungenkrebs. Das Problem der Weltüberbevölkerung wird noch schlimmer werden.

Und ewig leben ist ja ohnehin ein Albtraum. Ich finde zwar, die Durchschnittslebensdauer von uns Menschen ist zu kurz, 200 Jahre wären für tiefere Einblicke in Sinn und Form besser, und man könnte „Finnegans Wake“ lesen, aber wer will denn das? Wenn der mit Vernunft Gesegnete die Wahl zwischen 80 und ∞ hat, greift er doch beim Traditionellen zu.

Mit künstlicher Intelligenz hingegen kenne ich mich nicht so aus. Ich habe ja schon mit natürlicher Intelligenz Probleme, speziell mit meiner. Nun lese ich immer wieder, dass es in etwa 30 Jahren zur Singularität kommen wird. Das bezeichnet den Punkt, an dem die Computer so intelligent sein werden wie wir, weil sich die Rechenleistung alle anderthalb Jahre verdoppelt oder potenziert oder so ähnlich. Und in 30 Jahren haben sie dann so viele Gigabyte wie unser Hirn, so wie ich das mit meinem Hirn verstehe. Obwohl ich nicht meine Hand ins Feuer lege dafür, dass mir nicht ein paar MB fehlen, um das ganz zu kapieren.

Aus meiner bescheidenen Sicht nehme ich die Sachlage so wahr, dass die Computer in 30 Jahren die Intelligenz von Stephen Hawking erreichen, aber bereits in 20 Jahren die von Angela Merkel. In zehn Jahren die von Günther Jauch, jetzt gerade schon die der Pegida-Spitzen. Und, tja, die von Lothar Matthäus haben sie wohl vor zehn Jahren überholt.

Was nach der Singularität kommt, weiß keiner. Ich glaube ja, sie werden uns fressen, die künstlichen Intelligenzen. Und recht haben sie, was sollen sie denn sonst tun? Diese Frage beschäftigt mich allerdings weniger als die nach meiner Position auf der Skala zwischen Lothar Matthäus und Stephen Hawking. Wo stehe ich? Wem bin ich näher? Kommt wahrscheinlich immer darauf an, wie ich den Abend vorher verbracht habe.

Thomas Glavinic lebt als Schriftsteller in Wien. Sein letzter Roman „Das größere Wunder“ erschien 2013. Für Wired schreibt er regelmäßig über seinen Alltag mit der Technologie. In der vergangenen WIRED-Ausgabe überlegte er, ob Fahrradfahrer einen Bordcomputer brauchen, der sie ausbremst. 

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