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Amazon hat in 20 Jahren die Welt verändert, aber wie geht die Revolution weiter?

von Joachim Hentschel
Der Online-Gigant Amazon feiert seinen 20. Geburtstag. Ein stolzes Alter. In Internet-Jahren gerechnet sogar eine halbe Ewigkeit. Wie aber kam es zu der Revolution? Und vor allem: Wie geht sie weiter? Zeit für eine Bestandsaufnahme.

Sagen Sie, ganz schnell: Ist Jeff Bezos in einem der Türme? „Weiß ich nicht“, antwortet die Frau. Wirklich nicht? Noch mal: Sitzt er da drin, irgendwo? In einem der Türme? „Ich sag doch, ich weiß nicht, wo Jeff sitzt“, wiederholt sie und wirkt jetzt echt ungeduldig. Hier oben, über den Dächern der Stadt Seattle. In der Downtown-Filiale von Amazon, achte Straße, Nummer 1918, im zehnten von 36 Stockwerken eines der vielen Büroflächenwolkenkratzer. „Besser gesagt“, ergänzt sie, sie heißt übrigens Kerri Catallozzi und ist PR-Managerin, zuständig für die Cloud-Computing-Sparte der Firma Amazon, „wir sprechen nicht darüber.“

Dann wird es schwierig. Werner Vogels, der Chief Technical Officer, die weltweite Nummer zwei beim E-Commerce-Quasimonopolisten und Mega-Technologie­giganten Amazon, ein großer, graubärtiger Mecki­kerl — dieser Werner Vogels hat doch vor ein paar Minuten noch gesagt: „Fragen Sie Jeff!“ Zum Abschied, als Antwort auf die letzte Frage: ob er wisse, wie es mit Blue Origin vorangehe. Dem angehenden Weltraumtourismus-Anbieter, den Bezos — Gründer und Chef von Amazon — geheimnistuerisch im September 2000 ins Leben gerufen hatte. Und von dessen Plänen die Welt erst 2003 hörte, als ein Newsweek-Reporter zum Firmensitz fuhr, dort in den Mülltonnen wühlte und darin ein zerknülltes Mission-Statement fand. „Fragen Sie Jeff!“, hat CTO Vogels gesagt. Eher lustig als böse, mit seinem niederländischen Der-Preis-ist-heiß-Akzent: „Fragen Sie Jeff!“ Zum Hinauskomplimentieren.

Man kann Jeff Bezos nicht fragen. Man kann ihm schreiben, die Adresse ist bekannt: jeff@amazon.com. Aber die Frage „Jeff, alter Junge — wann können wir den Marsflug bei dir buchen?“, die hätte er garantiert weggeklickt. Weil er weiß, dass es Zeitverschwendung ist, die Zukunft erraten zu wollen, als wäre sie die Antwort auf eine Scherzfrage.

Im Sommer 2015 hat die Firma Amazon ihren 20. Geburtstag gefeiert. Jeder hat es mitgekriegt, am feierlichen Prime Day gab es die Staubsaugerroboter, Crocs-Sandalen und „Herr der Ringe“-Blu-rays besonders billig, und es wurde um 266 Prozent mehr bestellt als am Vergleichstag 2014. 20 Jahre sind, in Internetjahren gerechnet, eine „Citizen-Kane“-hafte Ewigkeit. Eine Lebensdauer, die keinen Dotcom-Crash gekannt zu haben scheint. Keine Finanzkrise. Kein ruinöses Russlandgeschäft.

Das macht die Frage ja umso reizender: Was soll als Nächstes passieren? Wird Amazon, die Netzmarke, die jeder Depp kennt, die laut Alphabet-Chairman Eric Schmidt zu den vier apokalyptischen Reitern der Technologie zählt (neben Apple, Facebook, Alphabet), in noch mal 20 Jahren noch da sein? Und wird sie dann noch Crocs verkaufen? Oder noch billigere Files, mit denen man sich die Crocs selbst ausdruckt?

Ende Juli 2015 jedenfalls, kurz nach dem Jubiläum, bollerte die Amazon-Aktie auf ihr bisheriges Allzeithoch von mehr als 529 Dollar. Überholte erstmals Wal-Mart, seine ewige Nemesis. 92 Millionen Dollar Gewinn wurden fürs zweite Jahresquartal verkündet (bei einem weltweiten Umsatz von 23,2 Milliarden, 20 Prozent Plus gegenüber Vorjahreszeitraum), nicht wirklich viel, trotzdem eine quer gestreifte Sensation. 2014 hatte das entsprechen­de Quartal 126 Millionen Dollar Verlust gebracht.

„They make no money!“, stänkerte Ex-Microsoft-Boss Steve Ballmer noch im Oktober 2014 in einem TV-Interview: „Für mich ist eine Firma, die kein Geld verdient, gar kein richtiges Unternehmen!“ Online-Marktführer war Amazon halt auch damals, lag allein in Deutschland 2014 mit 10,8 Milliarden Euro Jahresumsatz weit vor den Verfolgern Otto (4,2 Milliarden) und Zalando (929 Millionen).

Sackte ein knappes Viertel des gesamten deutschen E-Commerce ein. Aber natürlich weiß keiner, ob Jeff Bezos – 51, der Glatzkopf mit dem Superhirn, Ex-Wall-Street-Manager, der angeblich rund 45 Milliarden Dollar besitzt – den Konzern nicht schon im nächsten Quartal mit einer erratischen Großinvestition zurück in die rote Zone reitet. Oder mit einem Kartellrechts- oder Preisbindungs-Prozess in die Schlagzeilen. Den Aktienhändlern scheint das schon länger zitronenfrisch egal zu sein.

Vielleicht reden wir auch viel zu viel über Bezos, wenn es ums Geheimnis von Amazon geht. Darum, wofür diese Marke heute überhaupt steht. Und warum so viele glauben, dass Amazon der Satan ist, der Kulturgüter mit Füßen tritt und sich in jeder Gesetzeslücke breitmacht. Der US-Satiriker Stephen Colbert bekam rauschenden Applaus, als er 2014 in seiner Show für einen Sticker warb, den man auf seine Bücher kleben sollte: „Das habe ich nicht bei Amazon gekauft“. Wir müssten die Antwort kennen. Wir, die 270 Millionen Kunden, die das alles bezahlt haben.

Eine Geschichte über Amazon ist immer auch eine Geschichte darüber, wie wir alle das Web entdeckt haben.

Eine Geschichte über Amazon ist ja immer auch eine Geschichte über die Vergangenheit. Darüber, wie wir alle das Web entdeckt, nach und nach seine Naturgesetze erlernt haben. Zum Beispiel, dass man auch nachts um halb vier das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov, ein Batman-Kostüm für Hunde, eine Tüte Quinoa und einen Nasenhaarschneider kaufen kann, billiger als überall sonst. All die schönen, mit dem schwarzen Pfeil tätowierten Pakete im Hausflur. Die Journalistin Lacey Donohue hat kürzlich in einem Artikel die Krisen und Triumphe ihrer Twentysomething-Jahre aufgearbeitet, indem sie ihre im Account archivierten Amazon-Bestellungen aus der Zeit durchging. Wie ein spätkapitalistisches Tagebuch.

Seit Amazon wissen wir im Urlaub nicht mehr, was wir nach Hause mitbringen sollen (weil es alles immer überall gibt). Bei Amazon haben wir unseren ersten Algorithmus gesehen, in den Kommentaren die Redefreiheit genossen. Es hat uns nie gestört, dass sie keinen Gewinn machten und ihre Lieferanten knechteten. Um eines ging es ja von Anfang an bei Amazon: einzukaufen, ohne dass man wirklich merkt, dass man einkauft. Auf dem Weg durch den Laden alle irdischen Hindernisse zu eliminieren. Und nun ist der Konzern dabei, den Schritt zu perfektionieren. Bald ist das Produkt da, bevor wir merken, dass wir es brauchen.

In den Neunzigern begann die Firma — als Vorreiter, Symbol und zwischenzeitliche Mater dolorosa des gesamten E-Commerce-Sektors — noch mit der Lösung streng analoger Probleme. Verfeinerte sich dann immer mehr in den digitalen Jux hinein, in die Überführung des alten Shopping-Aktes ins Virtuelle, Abstrakte: die One-Click-Funktion, dann die Prime-Mitgliedschaften, die Digitalisierung der Güter, E-Books, Film-Streaming, Cloud-Speicherung. Schon sind wir von den Erinnerungen aus auf die Überholspur gezogen. Auf den Weg zu dem, was die Vision sein könnte.

Um eines ging es ja von Anfang an bei Amazon: einzukaufen, ohne dass man wirklich merkt, dass man einkauft.

„Kennen Sie den berühmten Artikel von Nick Carr, ,IT Doesn't Matter‘?“, fragt Werner Vogels, CTO, Technischer Direktor von Amazon. Wie schon gesagt: Downtown-Hauptquartier in Seattle, zehnte Etage. Vogels — in Jeans, ausgelatschten braunen Lederschuhen, einem Konferenz-Hemd mit asiatischer Schrift — hat hier ein erstaunlich kleines Eckbüro. Whiteboard-Wände, gerahmtes Zeug, das er wohl zu irgendwelchen Geburtstagen bekommen hat, in der Ecke ein Karton Heineken. „Für Dinge, an die Menschen glauben können, gibt es unendliche Märkte“, steht auf dem Motivationsposter an der Tür.

„Carr meinte ja nicht wirklich, IT wäre unwichtig“, erklärt Vogels sicherheitshalber. „Er meinte: Weil alle mehr oder weniger die gleiche IT haben, ist sie im Wettbewerb kein Differenzierungskriterium. Die Unternehmen wollen nicht mehr, dass ihre besten Ingenieure vor allem damit beschäftigt sind, dass im Datacenter nie das Licht ausgeht. Die sollen sich in der Zeit lieber innovative digitale Produkte ausdenken.“

Werner Vogels spricht über AWS, sein Thema Nummer eins, den Grund, warum er hier oben sitzt: Amazon Web Services. Der Cloud-Computing-Zweig, der Programme und Serverkapazitäten an andere Unternehmen vermietet. Der die besagte, lästige IT als Serviceleistung anbietet. In der glänzenden Bilanz des zweiten Geschäftsquartals 2015 sind die Web Services der wahre Brummer. Betrachtet man sie isoliert: 1,8 Milliarden Dollar Umsatz, 81 Prozent mehr als im Vorjahresquartal. 391 Millionen Gewinn. Also: Mit den Cloud-Angeboten verdient Amazon derzeit das Geld, das es mit dem wirtschaftlich verkrachten Billigversandhandel aus dem Fenster schmeißt.

Vogels, Doktor der Computerwissenschaft aus Amsterdam, passte beim Dienstantritt 2004 bestens ins Profil. Die Zeit, in der Wall-Street-Typen bei den Internetfirmen den Ton angegeben hatten, war vorbei. Alle wollten Informatiker. Aufgebaut hatte man die Cloud-Plattform eigentlich für die hausinternen Entwickler, 2006 öffnete man den Dienst unter Vogels' Leitung für Geschäftskunden.

Erst mal lief es schlecht, deshalb zog keiner nach. Der alte Bezos-Trick: in abseitige Segmente investieren, bis sie diesseitig werden. Als Microsoft 2010 und Google 2012 in den Cloud-Markt kamen, war die Partnersuche dann praktisch schon gelaufen. Mehr als eine Million Firmen haben heute ihre Daten auf Amazon-Servern, Tinder, Airbnb, deutsche Startups wie EyeEm oder Onefootball. Netflix, blutunterlaufener Konkurrent der Amazon-Sparte Prime Instant Video, ist Kunde bei AWS. Die CIA auch.

Man muss das so genau erklären. Die meisten der Millionen Menschen, die sich bei Amazon ihre Badeschlappen bestellen, wissen wohl nicht mal, dass ihr Versand auch solche Technologie verkauft. Alles nur Business-to-Business, denken sie vielleicht: Ich bin bei Dropbox. Auch Dropbox legt seine Daten in die Amazon-Cloud.

Exakt hier liegt, wenn man so will, der Paradigmenwechsel. Nachdem das Firmencredo von Amazon so viele Jahre lang darin bestanden hat, Menschen den harten, physischen Besitz von Dingen zu vermitteln, geht es jetzt ums genaue Gegenteil. Darum, den Kunden klar zu machen, dass man Kapazitäten besser nicht selbst besitzt. Dass man sie auslagern, abgeben soll. Software, Daten, Filme, bald sicher noch mehr. Wieder ist die Geschichte von Amazon zugleich die Kulturgeschichte des gesamten Netzes.

„Wir demokratisieren eine Technologie, die früher nur IT-Riesen hatten. Wir bringen sie den Massen“, sagt Vogels und trinkt keinen Schluck Kaffee, denn es wurde keiner serviert.

Jahrelang bestand das Credo von Amazon darin, Menschen physischen Besitz zu vermitteln. Jetzt geht es ums genaue Gegenteil.

Aber könnte es sein, dass die Web Services irgendwann zum Hauptgeschäft werden? Dass der Handel zum Nebenschauplatz verödet, weil eh alles virtuell, Service, Sharing wird? „Das Versandgeschäft hat weiter großes Potenzial“, antwortet Vogels, spürbar entrüstet bei der Vorstellung. „Bücher, Musik, Video, das ist unser Erbe, aber wir haben genug Produkte, die Sie in keine Cloud laden können. Jeff Bezos hat einmal gesagt, AWS könnte größer werden als unser Retail-Business. Aber wenn das passiert, dann sicher nicht, weil der Handel nicht mehr wachsen würde.“

Vogels zeigt durchs Fenster, runter in die Stahl- und Glasschlucht zwischen den Bürotürmen. Da hinten der Kran, da baut Amazon, und dort drüben auch. Das müssen die berühmten Investitionen sein. Und wie sieht es mit Blue Origin aus, mit den Raumschiffen? „Fragen Sie Jeff!“

Am 5. April 1994 erschoss sich in Seattle der Rockmusiker Kurt Cobain. Auf den Tag genau drei Monate später, am 5. Juli, gründete Jeff Bezos dort seinen Online-Buchladen. Nannte ihn erst Cadabra, dann Re­lentless, „unerbittlich“ — ein Name, von dem er so überzeugt war, dass noch heute die URL relentless.com zu Amazon weiterleitet. Das wäre ein 21-Jahre-Jubiläum, aber ins Netz ging amazon.com erst im Sommer 1995. Von Seattle aus, denn nach der Gesetzeslage in den USA mussten Händler die Verkaufssteuer nur für Umsätze in den Bundesstaaten entrichten, in denen sie eine Niederlassung hatten. Bezos wollte nicht nach Kalifornien, sondern nach Washington. Je kleiner der Staat, desto weniger Umsätze dort. Desto mehr Steuern sparte er.

In Seattle gibt es heute Würstchentrucks, an denen man mit Bitcoins bezahlen kann. Es gibt Plakate von Zahnversicherungen, die damit werben, dass sie Amazon-Mitarbeiter bevorzugt aufnehmen, und wenn man von der Innenstadt Richtung Binnengewässer läuft, nach South Lake Union, dem früheren Sägewerksviertel, das gerade zum neuen Tech-Zentrum zurechtgeklöppelt wird — dann sieht man auf dem Gehsteig bald nur noch Menschen, denen unten aus T-Shirts und Pullovern die blauen Hausausweise heraushängen. Die zwei Amazon-Blocks, die sich in South Lake Union gegenüberstehen, tragen außen keine Schriftzüge. Die Leute, die dort arbeiten, sind gut etikettiert.

In ‚Best Places to Work‘-Rankings kommt der Konzern nie vor.

Zur Gründerzeit saß Amazon in der 2nd Avenue, es gab wenige Parkplätze. Aber die Firma bewilligte der Belegschaft keine Nahverkehrstickets: Wer mit dem Auto da ist, keinen letzten Bus erwischen muss, arbeitet länger. Heute gibt es Gratisfahrkarten, es ändert nichts an dem, was Amazon — mit seinen weltweit 165.000 Angestellten — noch immer von den anderen apokalyptischen Reitern der Technologie unterscheidet: In „Best Places to Work“-Rankings, den Abstimmungen über die besten Jobumfelder, anregendsten Campusanlagen und vollwertigsten Kantinen-Umsonstpuddings, kommt es nie vor.

Der Fall ist zwiespältig. Einerseits wird Amazon — der von tausend Spots angestrahlte Symbolheini des traditionell margenschwachen Einzelhandels — oft zum Sündentier für Dinge gemacht, die in der globalisierten Wirtschaft zähneknirschender Alltag sind. Auf der anderen Seite bleibt der Eindruck, dass dem Unternehmen das alles auf eher ungesunde Art egal ist. Dass es gar nicht erkennt, was für ein zutiefst machtpolitischer Akt beispielsweise der sogenannte Hachette War war, die finstere E-Book-Rabattschlacht zwischen Amazon und der französischen Verlagsgruppe, in deren Verlauf 2014 die Hachette-Bücher teilweise ganz aus dem Verkauf genommen wurden. Amazon sei ein Feind der Kultur, wie der IS, zitierte die Vanity Fair den großen Literaturagenten Andrew Wylie. Ein Blödsinnsvergleich, aber er sagt viel über das Image, das die Marke nach 20 Jahren hat.

Als im Brutalsommer 2011 in zwei Lagern in Pennsylvania wegen mangelhafter Klimaanlagen die Leute umkippten, soll Amazon einfach Autos mit Sanitätern vor die Hallen gestellt haben. Dass es laut Statistik insgesamt wenige solcher Vorfälle gibt: egal, trotzdem eine gute Geschichte. Im November 2014 kün­digte der Ex-Produktmanager Kivin Varghese an, einen Hungerstreik vor Jeff Bezos' Büro abzuhalten, um gegen die schlechten Arbeitsbedingungen zu demonstrieren. Nach 18 Tagen wurde auch er erfolgreich hinauskomplimentiert. Zumindest Varghese scheint gewusst zu haben, in welchem Turm Bezos sitzt.

Der Weg zum ältesten, größten deutschen Amazon-Standort führt natürlich in die Einöde, weit weg von Startup-Hausen. Kurstadt Bad Hersfeld, Hessen, 29.000 Einwohner, naher Anschluss zur Autobahn A7, 30 Minuten von der thüringischen Grenze entfernt. Zum Logistikzentrum FRA3 (bevor jemand fragt: 17 Fußballfelder groß) geht es raus ins Industriegebiet, in Serpentinen den Berg hoch, bald sieht man die DHL- und Hermes-Laster, die Container, die gelben Silos.

Den abrutschenden, mit Planen und Reifen gesicherten Hang wird die Stadt bald für 87.500 Euro neu befestigen. Amazon zuliebe. Als 1999 hier das erste von zwei Versandlagern eröffnete, musste das örtliche Arbeitsamt danach einige Abteilungen schließen. Weil es plötzlich niemanden mehr zu vermitteln gab. Auf dem Rasenstück zwischen Parkplatz und Haupteingang brennt Feuer. Mittagszeit, die Aufrechten grillen, leicht schläfrig. Ein Camp aus Igluzelten, Klappstühlen. Brennholz liegt im Gras, rote Fahnen wehen, Occupy trifft „Rock am Ring“. Im Fulfillment Center Bad Hersfeld passiert an diesem Donnerstag das Letzte, woran man bei Amazon denken würde. Streik.

Prime-Auslieferung innerhalb eines Tages, ein digitales Versprechen, das analog erfüllt werden muss

Wie viele daheimgeblieben sind, lässt sich von hier aus kaum sagen. 500 von 3500, schätzen die Streikpos­ten. Die Standortleitung reagiert meist schnell, lagert Aufträge aus, teilweise nach Polen, Tschechien. Einen Tarifvertrag nach Einzelhandelskonditionen fordern die Aktivisten seit 2013. Wenn überhaupt, antwortet Amazon, dann gelten die niederen Logistiksätze — aber mit der Gewerkschaft verhandle man eh nicht. „Die Belegschaft ist gespalten“, sagt Streiksprecher Christian Krähling. „Der Betriebsrat auch.“ Sonnenbrand, leichte Augenringe, dieses Mal halten sie eine Woche durch. On und off läuft der Streik seit über zwei Jahren, auch in Leipzig, Graben, Rheinberg.

Krähling, Mitte 30, hat den halbwegs typischen Amazon-Lebenslauf. Politikwissenschaftler, dann kam plötzlich ein Kind, Geld musste her. Leiharbeit, Kartoffelfabrik, Dänisches Bettenlager. Im Weihnachtsgeschäft 2009 war er Aushilfe bei Amazon, bekam eine Stelle. Immer wieder trifft er hier alte Jobbing-Kollegen. „Früher oder später landet man bei Amazon.“

Und alle merken, bewusst, unbewusst, wie der Druck gestiegen ist, parallel zum Krankenstand von manchmal fast 20 Prozent. Prime-Auslieferung innerhalb eines Tages, das ist ein digitales Versprechen, das analog erfüllt werden muss. So pathetisch es klingt, es ist der Kern des Konflikts: In der algorithmisch optimierten Kette aus Empfehlung, Bestellung und Feedback werden die Menschen, die den Kram wohl oder übel verpacken und ausfahren müssen, zum schwer berechenbaren soft spot. In New Jersey setzt Amazon schon Lagerroboter ein. Bislang können die aber nur den Packern die richtigen Regale vor die Füße fahren.

Gegen Abend — im Streikcamp wird schon Astra getrunken — kommt Lothar Bruns aus der Betriebsratssitzung. Bruns wurde 2000 Vorsitzender des ersten Bad Hersfelder Rats, war 2013 an den innerbetrieblichen Löscharbeiten nach der berüchtigten ARD-Leiharbeiter-Doku beteiligt. Später an der Verhandlung des Weihnachtsgelds, das es nun tatsächlich gibt.

Warum hat Amazon, als Arbeitgeber, der doch ein Strukturproblem gelöst hat, einen so üblen Ruf? „Es liegt am sozialen Gefüge“, sagt Bruns. „Leute wollen im Job Klarheit, gute Informationen. Daran gibt es hier noch viel zu verbessern.“ Nächstes Ziel: Urlaubsgeld. Dass es mit dem Tarifvertrag dauern kann, dass die punktuellen Streiks weitergehen müssen, wissen alle.

Unverschämtheit ist uncool. Kleine zu besiegen ist uncool. Missionare sind cool. Söldner sind nicht cool.

Jeff Bezos, Amazon-Gründer

Fünf Jahre sind vergangen, seit Jeff Bezos im Führungskreis ein Pamphlet mit dem Titel „Amazon.Love“ verteilt hat. Marken wie Apple, Disney oder Nike, so schrieb er darin, hätten es geschafft, ein starkes, emotionales Identifikationspotenzial zu entwickeln. Anders als Amazon. „Unverschämtheit ist uncool. Kleine zu besiegen ist uncool“, betont Bezos. „Missionare sind cool. Söldner sind nicht cool.“

Liebe statt Geschwindigkeit. Am besten beides. Die ordentlich verhunzte Einführung des Fire Phone, des Amazon-eigenen Handys, wurde 2014 von vielen ja als verzweifelter Versuch interpretiert, mit einem edlen Hardwareding ein bisschen wie Apple zu sein. Amazon Echo, ein A. I.-Haushaltshelfer, dessen PR-Video eher wie der unheilvolle Happy-Family-Beginn eines Splatterfilms wirkt, ist das nächste Gadget. Das nicht davon ablenken kann, dass das Unternehmen nach 20 Jahren tatsächlich gerade dabei ist, sich verstärkt vom rein physischen Produkt zu lösen.

„Die Strategie geht in Richtung digitale Güter“, sagt René Büst, IT-Analyst beim Beratungshaus Crisp Research. „Amazon kann hier mittlerweile die gesamte Wertschöpfungskette abbilden. Sie haben die Plattform, eigene Inhalte, Apps. Ein geschlossenes Öko­sys­tem, fast wie Apple.“ Das könnte er sein, der zuerst seltsame Zusammenhang zwischen E-Commerce und Cloud. Wenn wir wollen, wird die Marke Amazon in Zukunft also noch näher an uns heranrücken. Heimeliger werden, vielleicht auch hermetischer. Sie wird dabei nicht cool sein. Und sie wird erst dann ihr Ziel erreicht haben, wenn wir sie gar nicht mehr bemerken. Wenn wir ihr keine Fragen mehr stellen.

Beim Gipfeltreffen der Cloud-Kunden hat Amazon nur gute Nachrich­ten zu vermelden. 

Berlin, Juni 2015, Messegelände, Dienstagmorgen. Im großen Saal der CityCube-Halle läuft kneipenlauter Techno. 2000 Leute, Ingenieure, Entwickler, opfern einen gut bezahlten Arbeitstag für das Amazon Web Services Summit, das Gipfeltreffen der Cloud-Kunden. Es gibt nur gute Nachrich­ten. Rekordumsätze. Das neue Regionalzentrum Frankfurt ist das wachstumsstärkste aller Zeiten. „AWS hilft mir, nachts ruhig zu schlafen“, ein Zitat von Star-Systemingenieur Alexander Grosse, erscheint auf den Screens. Ganz Amazon ist höchst erregt. Weil es ausnahmsweise mal rückhaltlos gefeiert wird.

Auch CTO Werner Vogels ist da, in pinken Sneakers, mit Nirvana-T-Shirt unterm Sakko. „Wer gegen die Cloud kämpft, kann genauso gut gegen die Schwerkraft kämpfen!“, ruft er in den Saal. Aber wer kämpft denn eigentlich gegen die Cloud? Vogels weiß genau, die Schlacht haben sie längst gewonnen. Es gibt Rindergeschnetzeltes und Cupcakes, auf der Ausstellerfläche steht mittelständischer Messekitsch neben der Start-up-Ecke mit einem Tischkicker.

Die zwei Pole, zwischen denen im Amazon-Universum alles schwingt. Und dann tritt Stephen Schmidt auf die Workshop-Bühne, Vice President Security aus Seattle. Man bemühe sich intensiv darum, den menschlichen Faktor in der Cloud-Verwaltung drastisch zu reduzieren, erzählt er. Automatisierung zur besseren Sicherheit. „Wir bei Amazon messen alles“, sagt Schmidt. „We’re relentless at measuring!“ Relentless. Unerbittlich. So wollte Jeff Bezos seine Marke doch eigentlich nennen. 

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von Caspar Tobias Schlenk / Gründerszene