
Der Online-Gigant Amazon feiert seinen 20. Geburtstag. Ein stolzes Alter. In Internet-Jahren gerechnet sogar eine halbe Ewigkeit. Wie aber kam es zu der Revolution? Und vor allem: Wie geht sie weiter? Zeit für eine Bestandsaufnahme.
Sagen Sie, ganz schnell: Ist Jeff Bezos in einem der Türme? „Weiß ich nicht“, antwortet die Frau. Wirklich nicht? Noch mal: Sitzt er da drin, irgendwo? In einem der Türme? „Ich sag doch, ich weiß nicht, wo Jeff sitzt“, wiederholt sie und wirkt jetzt echt ungeduldig. Hier oben, über den Dächern der Stadt Seattle. In der Downtown-Filiale von Amazon, achte Straße, Nummer 1918, im zehnten von 36 Stockwerken eines der vielen Büroflächenwolkenkratzer. „Besser gesagt“, ergänzt sie, sie heißt übrigens Kerri Catallozzi und ist PR-Managerin, zuständig für die Cloud-Computing-Sparte der Firma Amazon, „wir sprechen nicht darüber.“

Dann wird es schwierig. Werner Vogels, der Chief Technical Officer, die weltweite Nummer zwei beim E-Commerce-Quasimonopolisten und Mega-Technologiegiganten Amazon, ein großer, graubärtiger Meckikerl — dieser Werner Vogels hat doch vor ein paar Minuten noch gesagt: „Fragen Sie Jeff!“ Zum Abschied, als Antwort auf die letzte Frage: ob er wisse, wie es mit Blue Origin vorangehe. Dem angehenden Weltraumtourismus-Anbieter, den Bezos — Gründer und Chef von Amazon — geheimnistuerisch im September 2000 ins Leben gerufen hatte. Und von dessen Plänen die Welt erst 2003 hörte, als ein Newsweek-Reporter zum Firmensitz fuhr, dort in den Mülltonnen wühlte und darin ein zerknülltes Mission-Statement fand. „Fragen Sie Jeff!“, hat CTO Vogels gesagt. Eher lustig als böse, mit seinem niederländischen Der-Preis-ist-heiß-Akzent: „Fragen Sie Jeff!“ Zum Hinauskomplimentieren.
Man kann Jeff Bezos nicht fragen. Man kann ihm schreiben, die Adresse ist bekannt: jeff@amazon.com. Aber die Frage „Jeff, alter Junge — wann können wir den Marsflug bei dir buchen?“, die hätte er garantiert weggeklickt. Weil er weiß, dass es Zeitverschwendung ist, die Zukunft erraten zu wollen, als wäre sie die Antwort auf eine Scherzfrage.
Im Sommer 2015 hat die Firma Amazon ihren 20. Geburtstag gefeiert. Jeder hat es mitgekriegt, am feierlichen Prime Day gab es die Staubsaugerroboter, Crocs-Sandalen und „Herr der Ringe“-Blu-rays besonders billig, und es wurde um 266 Prozent mehr bestellt als am Vergleichstag 2014. 20 Jahre sind, in Internetjahren gerechnet, eine „Citizen-Kane“-hafte Ewigkeit. Eine Lebensdauer, die keinen Dotcom-Crash gekannt zu haben scheint. Keine Finanzkrise. Kein ruinöses Russlandgeschäft.
Das macht die Frage ja umso reizender: Was soll als Nächstes passieren? Wird Amazon, die Netzmarke, die jeder Depp kennt, die laut Alphabet-Chairman Eric Schmidt zu den vier apokalyptischen Reitern der Technologie zählt (neben Apple, Facebook, Alphabet), in noch mal 20 Jahren noch da sein? Und wird sie dann noch Crocs verkaufen? Oder noch billigere Files, mit denen man sich die Crocs selbst ausdruckt?
Ende Juli 2015 jedenfalls, kurz nach dem Jubiläum, bollerte die Amazon-Aktie auf ihr bisheriges Allzeithoch von mehr als 529 Dollar. Überholte erstmals Wal-Mart, seine ewige Nemesis. 92 Millionen Dollar Gewinn wurden fürs zweite Jahresquartal verkündet (bei einem weltweiten Umsatz von 23,2 Milliarden, 20 Prozent Plus gegenüber Vorjahreszeitraum), nicht wirklich viel, trotzdem eine quer gestreifte Sensation. 2014 hatte das entsprechende Quartal 126 Millionen Dollar Verlust gebracht.
„They make no money!“, stänkerte Ex-Microsoft-Boss Steve Ballmer noch im Oktober 2014 in einem TV-Interview: „Für mich ist eine Firma, die kein Geld verdient, gar kein richtiges Unternehmen!“ Online-Marktführer war Amazon halt auch damals, lag allein in Deutschland 2014 mit 10,8 Milliarden Euro Jahresumsatz weit vor den Verfolgern Otto (4,2 Milliarden) und Zalando (929 Millionen).
Sackte ein knappes Viertel des gesamten deutschen E-Commerce ein. Aber natürlich weiß keiner, ob Jeff Bezos – 51, der Glatzkopf mit dem Superhirn, Ex-Wall-Street-Manager, der angeblich rund 45 Milliarden Dollar besitzt – den Konzern nicht schon im nächsten Quartal mit einer erratischen Großinvestition zurück in die rote Zone reitet. Oder mit einem Kartellrechts- oder Preisbindungs-Prozess in die Schlagzeilen. Den Aktienhändlern scheint das schon länger zitronenfrisch egal zu sein.
Vielleicht reden wir auch viel zu viel über Bezos, wenn es ums Geheimnis von Amazon geht. Darum, wofür diese Marke heute überhaupt steht. Und warum so viele glauben, dass Amazon der Satan ist, der Kulturgüter mit Füßen tritt und sich in jeder Gesetzeslücke breitmacht. Der US-Satiriker Stephen Colbert bekam rauschenden Applaus, als er 2014 in seiner Show für einen Sticker warb, den man auf seine Bücher kleben sollte: „Das habe ich nicht bei Amazon gekauft“. Wir müssten die Antwort kennen. Wir, die 270 Millionen Kunden, die das alles bezahlt haben.
Eine Geschichte über Amazon ist immer auch eine Geschichte darüber, wie wir alle das Web entdeckt haben.
Eine Geschichte über Amazon ist ja immer auch eine Geschichte über die Vergangenheit. Darüber, wie wir alle das Web entdeckt, nach und nach seine Naturgesetze erlernt haben. Zum Beispiel, dass man auch nachts um halb vier das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov, ein Batman-Kostüm für Hunde, eine Tüte Quinoa und einen Nasenhaarschneider kaufen kann, billiger als überall sonst. All die schönen, mit dem schwarzen Pfeil tätowierten Pakete im Hausflur. Die Journalistin Lacey Donohue hat kürzlich in einem Artikel die Krisen und Triumphe ihrer Twentysomething-Jahre aufgearbeitet, indem sie ihre im Account archivierten Amazon-Bestellungen aus der Zeit durchging. Wie ein spätkapitalistisches Tagebuch.
Seit Amazon wissen wir im Urlaub nicht mehr, was wir nach Hause mitbringen sollen (weil es alles immer überall gibt). Bei Amazon haben wir unseren ersten Algorithmus gesehen, in den Kommentaren die Redefreiheit genossen. Es hat uns nie gestört, dass sie keinen Gewinn machten und ihre Lieferanten knechteten. Um eines ging es ja von Anfang an bei Amazon: einzukaufen, ohne dass man wirklich merkt, dass man einkauft. Auf dem Weg durch den Laden alle irdischen Hindernisse zu eliminieren. Und nun ist der Konzern dabei, den Schritt zu perfektionieren. Bald ist das Produkt da, bevor wir merken, dass wir es brauchen.
In den Neunzigern begann die Firma — als Vorreiter, Symbol und zwischenzeitliche Mater dolorosa des gesamten E-Commerce-Sektors — noch mit der Lösung streng analoger Probleme. Verfeinerte sich dann immer mehr in den digitalen Jux hinein, in die Überführung des alten Shopping-Aktes ins Virtuelle, Abstrakte: die One-Click-Funktion, dann die Prime-Mitgliedschaften, die Digitalisierung der Güter, E-Books, Film-Streaming, Cloud-Speicherung. Schon sind wir von den Erinnerungen aus auf die Überholspur gezogen. Auf den Weg zu dem, was die Vision sein könnte.
Um eines ging es ja von Anfang an bei Amazon: einzukaufen, ohne dass man wirklich merkt, dass man einkauft.
„Kennen Sie den berühmten Artikel von Nick Carr, ,IT Doesn't Matter‘?“, fragt Werner Vogels, CTO, Technischer Direktor von Amazon. Wie schon gesagt: Downtown-Hauptquartier in Seattle, zehnte Etage. Vogels — in Jeans, ausgelatschten braunen Lederschuhen, einem Konferenz-Hemd mit asiatischer Schrift — hat hier ein erstaunlich kleines Eckbüro. Whiteboard-Wände, gerahmtes Zeug, das er wohl zu irgendwelchen Geburtstagen bekommen hat, in der Ecke ein Karton Heineken. „Für Dinge, an die Menschen glauben können, gibt es unendliche Märkte“, steht auf dem Motivationsposter an der Tür.
„Carr meinte ja nicht wirklich, IT wäre unwichtig“, erklärt Vogels sicherheitshalber. „Er meinte: Weil alle mehr oder weniger die gleiche IT haben, ist sie im Wettbewerb kein Differenzierungskriterium. Die Unternehmen wollen nicht mehr, dass ihre besten Ingenieure vor allem damit beschäftigt sind, dass im Datacenter nie das Licht ausgeht. Die sollen sich in der Zeit lieber innovative digitale Produkte ausdenken.“