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Synthesizer-Bastler: Wir waren beim 19-Zoll-Stammtisch in Berlin

von Jan Kedves
Als sie aus der Fabrik kam, Anfang der 80er-Jahre, hatte die kleine silberne Box zehn Drehregler. Jetzt hat sie doppelt so viele. Auf ein paar Quadratzentimetern, dort, wo normalerweise TR-606 steht, ist eine rechteckige Metallplatte mit zehn Extraknöpfen aufgeschraubt. „Man kann damit zum Beispiel die Ausklingzeit einstellen. Vorher war die bei dem Gerät nicht steuerbar“, sagt ein Typ mit  schwarzem Transistors of Mercy-T-Shirt. Tatsächlich: Der Hi-Hat-Sound, dessen aggressives „Zisch!“ schon Tausende von Techno-Produktionen eingepeitscht hat, lässt sich nun auch auf ein langsames „Zissssschhhhh“ drehen. Super!

Willkommen beim 19-Zoll-Stammtisch, einem seit acht Jahren unregelmäßig stattfindenden Schraubertreff in Berlin. Analog-Geeks von Anfang 20 bis Mitte 40, im Hipster- oder Schluffi-Look, kommen hier zum Fachsimpeln, Löten und Jammen zusammen. Auch wenn die Szene über Foren wie electro-music.com oder synthesizer­forum.de vernetzt ist, ist es ab und zu nett, sich gemeinsam an wechselnden Orten einzustöpseln.

Die Organisatoren des Abends sind Ron Schneider – der Mann vor dem aufgebohrten Roland – sowie seine Kollegen Olaf Giesbrecht und Tobias Münzer. Auf den ersten Blick könnte man alle hier für Digitalhasser halten. In der Einladung steht ausdrücklich: „Exploring music beyond computers“. Doch die Typen, die ihre Geräte zu einem gro­ßen, oben fiependen und unten warm brummenden Kabelmonster verbinden, sind keine Retro-Spinner. Im Gegenteil: „Die Analog-Szene ist im 21. Jahrhundert angekommen“, sagt Olaf Giesbrecht.

Was er damit meint: Beim 19-Zoll-Stammtisch – der heute in einer zum Studio umfunktionierten Wohnung auf dem ehemaligen Stasi-Gelände in Lichtenberg stattfindet – hat kaum jemand etwas gegen die Anbindung seiner Geräte an Software oder schräge neue Interfaces. Das ändert aber nichts am Grundprinzip der analogen Sounderzeugung: Der Ton soll nicht von Datenströmen bestimmt werden, sondern von einer Steuerspannung.

Null Volt für den tiefsten Ton, zehn für den höchsten. Und das in Berlin, der Stadt, die zum Zentrum der Desktop-Komplettlösungen geworden ist, seitdem Audio-Firmen wie Ableton und Native Instruments mit Live oder Reaktor die Studio- und DJ-Welt erobert haben. Softwares, in denen jeder noch so rare Vintage-Synth als Plug-in simuliert ist. Was genau ist denn am Analog-Sound so viel besser?

Wer es im gemeinsamen Jam nicht hört, kann es sich von Tobias ­Münzer, einem Mittzwanziger mit blonden Dreads, der regelmäßig zum Stammtisch kommt und über seine Website tubbutec.de selbst entwickelte Analog-Erweiterungen mit schönen Namen wie „Polysex“ anbietet, erklären lassen: „Plug-ins fehlt einfach die Lebendigkeit“, sagt er und sprich von den „Nicht-Line­aritäten“, die analogen Sound digital schwer simulierbar machten.

Im kleinen Roland TR-606 ist das nachzuhören: In ihm sind die Signalwege nicht gut isoliert, was dazu führt, dass die Kanäle „einstreuen“. Sprich: Wenn man die Snare Drum einschaltet, kickt im Hintergrund auch noch etwas von der Bass Drum mit. So wie beim Nachbarn mit den dünnen Wänden. Im Plug-in wäre alles sauber und getrennt. Und langweiliger.

Auch Leute, die tagsüber bei Ableton oder Native Instruments arbeiten, seien schon zum 19-Zoll-­Stammtisch gekommen, sagt Ron Schneider. Nicht als Spione, sondern als Begeisterte, die „privat selbst fast rechnerlos produzieren“. Auch sie treibt wohl die Sexiness an die Knöpfe der Analog-­Maschinen — ein Wort, das an dem Abend oft fällt.

Dass Kanten und Schrullen — normale menschliche Makel gewissermaßen – als sexy wahrgenommen werden, könnte Emotionspsychologen und AI-Forscher interessieren. Wie bekommen Maschinen Charakter, und wie „menschlich“ kann elektronisch Erzeugtes klingen? Fast scheint es, als schraubten die Berliner Analog-Geeks hier nicht nur an alten Maschinen, sondern auch an Fragen der Zukunft. Und das bis tief in die Nacht. 

 

GLOSSAR

19 Zoll
Standardbreite für die Metallrahmen (Racks), in denen in Musikstudios Geräte eingeschraubt werden.

Filter
Mit dem VCF (Voltage-Controlled Filter) dreht man bestimmte Klanganteile aus einem Analog-Signal heraus. Warmes Blubbern kann zu schrillem Kreischen werden, oder andersrum.

Mod
Kurz für Modifikation. So werden etwa Analog-Geräte um eine digitale Schnittstelle (MIDI) erweitert, sodass sie von einem Laptop gesteuert werden können, aber so klingen wie vorher.

NICHT VERWECHSELN

Haptische Täuschung
Die MPC-Geräte von Akai, seit 1988 im HipHop beliebt, werden als analog bezeichnet: warmer Klang, anschlags­dynamische Bedienung per Gummipad. Es sind digitale Sampler.

GOOD TO KNOW

Return of the Synthie
Analog-Synthesizer boomen, auch jenseits der Mod-Szene. Fast alle Trademarks aus den goldenen 70er- und 80er-Jahren – ARP, Oberheim, Moog, ­Alesis – sind zurück am Markt.

AKTUELLE DISKUSSION

Darf man zweckentfremden?
Je rarer Ersatzteile werden, desto wichtiger wird, was mit ihnen passiert. Vergriffene Spezialchips in neu designten Geräten finden manche fragwürdig. Der Chip könnte ja einem Original das Leben retten. 

In der letzten Folge von Geekipedia ging es um Sex, Drachen und Lesezeichen – mit den „Game of Thrones“-Superfans von Westeros.org

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