Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Das Dance-Album des Sommers kommt von einem Nerd: Jamie xx

von Jan Kedves
Weniger ist mehr, das scheint für Musiker Jamie Smith nicht nur beim Musikmachen zu gelten. 

Wenn man ihm gegenübersitzt, ist es, als sei man in einem Schweigeseminar gelandet: Entweder er nickt auf Fragen nur kurz oder antwortet mit einem einzigen knappen Satz, sehr leise. Augenkontakt hält Smith kaum. Klar, sich anschweigen kann ziemlich intim sein, und irgendwie passt das ja auch: Smith wird international als Produzenten-Nerd bejubelt, weil er mit seiner Band The xx Pop macht für Leute, die Pop eigentlich nicht mögen – also die Musik schon, aber nicht das Getue darum. Das Getue lässt Smith demonstrativ weg, so wie er das Weglassen überhaupt zum Konzept erklärt. Das Doppel-x in seinem Künstlernamen – „löschen“, „Leerstelle“ – unterstreicht den Gedanken. Weniger Gerede bedeutet weniger Quatsch. Damit ist Jamie xx der idealtypische Popstar der Gegenwart. Zumindest für einen Teil des Publikums. 

Denn spätestens seit Musik vor allem übers Netz rezipiert wird, gibt es zwei Mainstreams. Den der Castingshows und der Newcomer, die dafür bekannt werden, dass ein Song von ihnen in einem Werbespot für Raumerfrischer zu hören war, bevor sie als Boy- oder Girlfriend von irgendwem zu Celebrity-Klickfutter werden. Und es gibt den anderen Mainstream, der als Gegenprogramm dazu läuft und in dem Jamie xx ein Star ist. Dessen Fans sind die privaten Lebensumstände seiner Helden relativ egal, nur ihre Musik muss glaubhaft vermitteln, dass sie aus tiefstem Inneren schöpft. Diesen Anspruch erfüllten 2009 The xx auf nahezu perfekte Weise mit dem Gothic-Soul ihres ersten, schlicht „xx“ betitelten Albums, das Smith zusammen mit seinen Londoner Schulfreunden Romy Madley Croft und Oliver Sim aufnahm. Es gewann 2010 in Großbritannien den Mercury Music Prize und bekam zwei Jahre später mit Coexist einen apart klingenden Nachfolger.

In den Lücken, die Smith auf diesen Werken zwischen den Gesangsparts von Madley Croft und Sim stehen ließ, ist nichts zu hören außer: Atmen, Rauschen, Verstärkersurren. Dafür braucht man nicht mal das allerneueste Audioprogramm, der 26-jährige Smith nutzt immer noch Logic Pro 9 aus dem Jahr 2009. Vielleicht habe diese Version manche neuen Tricks nicht drauf, meint er, „aber da ich nicht weiß, welche Tricks das sind, ist es mir egal“.

Ende Mai erscheint mit „In Colour“ nun sein erstes Soloalbum. Es ist eine Dance-Platte, auf der sich der Ansatz des Weglassens vor allem darin zeigt, dass Smith sehr akribisch einige prägnant gewählte Samples bearbeitet und auseinanderschraubt. Zum Beispiel nimmt er ein paar chromatische Akkordwechsel aus dem sentimentalen Song „It’s A Blue World“ von der amerikanischen A-cappella-Jazz-Combo The Four Freshmen aus dem Jahr 1952 und filetiert sie über einem vertrackt stolpernden Dubstep-Beat, bis es in dem Track „Sleep Sound“ stellenweise fast ein bisschen nach Schluckauf klingt. Kein Festival, kein DJ-Set wird in diesem Sommer ohne diesen und die weiteren Hits von „In Colour“ auskommen.

Dieses Album ist seltsamerweise auch eine Art Comeback. Um die Jahre 2011 und 2012 herum wurde Smith als der nächste große R&B- und HipHop-Produzent gehandelt. Nach dem ersten Erfolg mit The xx hatte er – als Lockerungsübung quasi – das Album „I’m New Here“ von Gil Scott-Heron geremixt, also tatsächlich: das gesamte Album. Er hatte es nach allen Regeln der Bass- und Dub-Wissenschaft tiefergelegt, durch Echokammern geschleift und so weiter. Der Rapper Drake nahm ihn daraufhin begeistert mit ins Studio, zusammen arbeiteten sie an „Take Care“, einer Single, die in die Top 10 der Billboard-Charts einstieg. Sie basierte auf einem der Scott-Heron-Remixe, Rihanna sang den Refrain. Der plastikhafte Autotune-Effekt auf ihrer Stimme sei aber nicht seine Idee gewesen, betont Smith. Und spricht von der Entfremdung, die er in den höheren Sphären der Popindustrie, auch bei Kooperationen mit Alicia Keys und Lana Del Rey, empfunden habe: „Bei so großen Produktionen kommen immer noch andere Produzenten mit ins Spiel und geben ihren Senf dazu. Als einzelner Zulieferer hat man kaum Einfluss darauf, wie ein Track letztlich klingt.“

Jamie XX besitzt den Soul der in sich gekehrten Perfektionisten, der auch Codeschreiber und Mathegenies beseelt.

Jemand wie Smith ist mit solchen Hierarchien wohl nicht gerade kompatibel. Denn er kennt kaum eine größere Befriedigung als die, ganz tief in seine Musiksoftware zu kriechen und dort etwa so lange zehn verschiedene Hi-Hat-Sounds übereinanderzuschichten, bis die einzig gültige, die perfekte Hi-Hat herauskommt. Smith besitzt den Soul der in sich gekehrten Perfektionisten, der auch Codeschreiber und Mathegenies ähnlich beseelt, wenn die in Zahlen, Algorithmen und Logik pure Schönheit finden. Die Hingabe ans Material ist dabei wichtiger als die an Maschinen, der Computer ist nur ein Mittel zur Erreichung des Ziels. Und wenn im Fall von Jamie Smith hinterher niemand außer ihm mehr heraushören kann, dass in dieser einen Hi-Hat zehn verschiedene stecken, ist das umso besser: „Das ist ein schönes Gefühl“, sagt er.

Seit er das Auftragsproduzieren jenseits von The xx wieder bleiben lässt, tritt er umso häufiger bei „Boiler Room“ in Erscheinung, was erst mal wie ein Widerspruch erscheint. Denn die Performances in diesem Musikformat, bei dem DJ-Sets frontal abgefilmt und live ins Netz gestreamt werden, geraten oft arg exhibitionistisch. Doch andererseits bildet „Boiler Room“ – Smith nennt es das MTV seiner Generation, „aber mit größerer Reichweite“ – auch so etwas wie das Gegengewicht zu den „Best DJ fails“-You­tube-Hits. In denen wird ja nur die Schadenfreude bedient, wenn David Guetta oder DJ Tiesto ihre Übergänge verkacken oder Paris Hilton an den Reglern eines Mischpults rumfingert, ohne dass in ihrem fertig vorgemischten Hardtrance-Set davon irgendetwas zu hören wäre. 

Bei „Boiler Room“ hingegen steht das DJ-Handwerk an vorderster Stelle, „no fake“, was doch ziemlich gut zum Wahrhaftigkeitsding passt, das auch The xx ausmacht. Die Session, die Smith Ende 2012 zusammen mit Dan Snaith alias 
Caribou mixte, gehört bis heute zu den meistgeklickten Folgen. Bei der ließ sich auch gut beobachten, wie Smiths Sinn für Melancholie kollektiver Euphorie nicht im Weg steht. Im Gegenteil: Die Gleichzeitigkeit von Innerlichkeit und Tanzbarkeit der Musik erscheint bei ihm völlig einleuchtend. Das ist „intro­spective rave“, wenn man so will.

Diese Sensibilität lässt Smith auch auf „In Colour“ wieder aufscheinen. Besonders in „Loud Places“ und „Stranger In A Room“, den Songs, die von Madley Croft und Sim gesungen werden und in denen es darum geht, sich in einer euphorisch feiernden Menschenmenge allein zu fühlen. Der überraschendste Track des Albums ist „I Know There’s Gonna Be (Good Times)“, weil Smith darin mit karibischen Steeldrums und drallen Dancehall-Beats ein augenblickliches Hochsommer-Feeling erzeugt. Dazu rappt Young Thug, ein Gast-MC aus Atlanta: „I’m a ride in her pussy like a stroller“. Diese leicht verstörende Zeile sticht aus dem sonst eher schüchternen The-xx-Duktus heraus wie ein ausgestreckter Mittelfinger.

Und doch zelebriert Smith auf seiner Soloplatte vor allem Nerd-Innerlichkeit. Eigentlich, so klingt da durch, gehört er weiter zu den Leuten, die im Club lieber am Rande stehen. In Gestalt von Jamie Smith hat es einer von ihnen auf die Bühne beziehungsweise hinters DJ-Pult geschafft. Gut möglich aber, dass er dort oben gar nicht so sehr fürs Publikum spielt. Sondern erst mal nur für sich selbst. 

GQ Empfiehlt