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Smarte Fieberthermometer, Uhren und Waagen: Nokia kauft Withings

von GQ
Wenn die Uhr zum Schrittzähler wird: Withings-Gründer Cédric Hutchings integriert Fitness-Tracker, smarte Waagen und Schlafsensoren in unseren Alltag. Können wir so gesünder leben?

UPDATE 29.04.16: Nokia übernimmt das französische Unternehmen Withings. Das 2008 gegründete Startup, zu dessen jüngsten Ideen ein smartes Fieberthermometer gehört, wird dabei mit 170 Millionen Euro bewertet. Vor rund einem Jahr hat Karsten Lemm, Senior Editor bei WIRED, Firmengründer Cédric Hutchings besucht. Withings neues Produkt damals: die Armbanduhr Activité. Die Geschichte von unserem Besuch könnt ihr im folgenden lesen. Sie erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im April 2015. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

Zweitausendfünfhundert Schritte gleich am frühen Morgen. Er hat die Kleinen in den Kindergarten gebracht und ist dann ins Büro spaziert — vorbei am alten Rathaus von Issy-les-Moulineaux, rechts ab bei Le Michelet, dem Bistro auf der Ecke, und gleich wieder links hinein in die graue Betonburg am Stadtrand von Paris, in der Withings sein Zuhause hat. Abends zurück und voilà! „So komme ich auf 5000 Schritte am Tag“, sagt Cédric Hutchings, „allein durch den Weg zur Arbeit.“

Nicht schlecht. Aber auch längst nicht gut genug, wie ihm seine Armbanduhr ebenso unaufdringlich wie unnachgiebig vor Augen führt. Jeder Blick nach der Zeit signalisiert dem Withings-Mitgründer beiläufig, dass er heute viel zu viel herumgesessen hat: Der kleine Zeiger, der seine Ak­tivität protokolliert, ist kaum vo­rangekommen. Mindestens 10.000 Schritte sind das Ziel, Tag für Tag neu. So empfehlen es Gesundheitsforscher allen, die halbwegs fit bleiben wollen — denn die Trägheit der Masse ist mitverantwortlich dafür, dass Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und Fettleibigkeit in vielen Ländern epidemische Ausmaße angenommen haben. Schon ein wenig Mehr an Bewegung, so zeigen Studien, könnte viele dieser Leiden lindern oder gar verhindern.

Genau deshalb haben sich Hutchings’ Ingenieure diese neue Armbanduhr einfallen lassen, die mehr kann, als nur die Zeit abzubilden: Der Name, Activité, ist Programm. Sensoren messen ständig, wie sehr sich das Handgelenk bewegt, und die Uhr leitet daraus ab, ob der Mensch geht, sitzt oder liegt. Aus den Beobachtungen entsteht dann im Laufe des Tages ein Aktivitätsprofil mit der geschätzten Zahl an Schritten. Nachts ermittelt die Software aus den Messwerten, wie tief die Schlafphasen ausfallen.

Fitness-Tracker wie die Armbänder von Fitbit und Jawbone beherrschen ähnliche Kunststücke seit Langem. Auch moderne Smartphones  verstehen sich dank einer wachsenden Sammlung eingebauter Sensoren mittlerweile aufs Schrittezählen, Bewegungmessen und vieles mehr. Das mag nicht immer wissenschaftlich präzise sein — Apple verzichtet bei seiner neuen Smart Watch vorerst auf solche Funktionen, weil die Sensortechnik angeblich noch nicht liefert, was die Ingenieure in Kalifornien von ihr verlangen. Aber vielen Fitnessfans reicht gutes Raten: Tausende von Apps buhlen darum, die Daten auszuwerten, um gesundheitsbewussten Smartphone-Nutzern zu demonstrieren, wie sportlich sie sind.

Wir wollen einen 360-Grad-Blick auf die Gesundheit ermöglichen

Cédric Hutchings, Withings

Und doch stechen die Activité und ihr kleiner Bruder Pop heraus. „Mit dem analogen Ziffernblatt geht es uns darum, Menschen jenseits der Fitness-Bewegung zu erreichen“, sagt Hutchings. Der zweite, kleinere Zeiger lässt auf einen Blick erkennen, wie weit der Träger seinem täglichen Bewegungsziel schon gekommen ist. Keine App muss gestartet, kein Smartphone aus der Tasche gezogen werden, um diese simple, aber wichtige Information abzurufen. Sie ist einfach da. Zudem hält die Batterie nicht Tage, sondern Monate; bei Gelegenheit reicht die Uhr ihre Daten per Bluetooth an die Withings-App weiter. „Man hat alle Vorteile eines Aktivitätstrackers, muss sich jedoch kein seltsames Gerät umbinden und ständig daran denken, den Akku aufzuladen.“

Hutchings verdankt seinen unfranzösischen Nachnamen einem englischen Urgroßvater und ist ein mäßig sportlicher Mann von 38 Jahren, der zu Jeans und Polohemd ein Paar Sneakers trägt. Über dem Gürtel wölbt sich sanft ein Bäuchlein, ein Vollbart gibt dem rundlichen Gesicht noch etwas mehr Fülle. „Ich war 32, als wir Withings gegründet haben“, erzählt er, „und das ist genau das Alter, in dem man anfängt, auf seine Gesundheit zu achten. Unter 30 können viele Leute essen, was sie wollen, aber dann ändert sich auf einmal etwas mit dem Körper.“

Im ersten Stock der Withings- Zentrale teilen sich Hutchings und sein Geschäftspartner Éric Carreel ein Büro. Es ist ein kahler, funktionaler Raum. Beide sind erst Inge­nieure, dann Unternehmer. Ihre Schreib­tische stehen Kopf an Kopf; Strippen, Netzteile, Akkus schieben Papierstapel beiseite. Die Partner kennen sich von gemeinsamen Zeiten beim Telekomanbieter Inventel, einem von mehreren Unternehmen, die Carreel, 55, erfolgreich gegründet hat. „Die Idee bei Withings war, dumme Geräte mithilfe des Internets neu zu erfinden“, erzählt Hutchings. Daher auch der Firmenname: „with things“ — Leben mit (schlaueren) Dingen. „Wir fingen mit einer Waage an, weil das aus unserer Sicht ein besonders dummes Gerät war: Man steigt ab und zu drauf, und das Ergebnis ist gleich wieder vergessen. Selbst wenn man sich sagt: ,Oh, ich habe zugenommen‘, fehlt jede Perspektive.“

Als die Ingenieure, die vorwiegend ein technisches Problem gesehen hatten, Feedback von ihren ers­ten Kunden erhielten, erkannten sie verblüfft die menschliche Komponente ihrer Arbeit. „Wir bekamen Briefe, in denen Leute schrieben: ,Eure Waage hat mein Leben verändert‘“, erzählt Hutchings. Das Auf und Ab der persönlichen Gewichtskurve im Bild zu sehen, war für viele bereits Anreiz genug, ihre Hüftweite besser zu kontrollieren — ganz ohne bewusste Diät.

Neugierig geworden, beschlossen die Withings-Gründer, sich ganz auf Gesundheitshelfer zu konzentrieren. Als Pioniere des Internets der Dinge und der digitalen Selbstvermessung (Quantified Self) wuchsen die Franzosen schnell über ihre Grenzen hinaus: Fast die Hälfte des Geschäfts stammt aus den USA, als einzige Europäer behaupten sie sich erfolgreich gegen die Konkurrenz aus dem Silicon Valley. „Was Withings von anderen abhebt“, sagt Hutchings, „ist unser Fokus auf das Gesamtbild. Wir sind nicht einfach ein Hersteller von Wearables und Waagen, sondern wollen einen 360-Grad-Blick auf die Gesundheit ermög­lichen.“

Viele der wichtigsten Körper­signale lassen sich mittlerweile mit Withings-Geräten digital erfassen: Herzfrequenz und Sauerstoffgehalt des Blutes ermittelt das Pulse Ox; Aura — ein Schlaf-Assistent — spielt Nachtmusik zum leichten Einschlummern und erfühlt mit Sensoren unter der Matratze, wie erholsam die Ruhestunden verlaufen; ein Blutdruckmesser führt per Mobile App Buch darüber, wie sehr die Welt dem Nutzer auf die Nerven geht — und ob er zu Hause womöglich viel entspann­ter ist als beim stressigen Termin in der Praxis. „Ich bin überzeugt, dass Ärzte künftig eher dafür belohnt werden, dass wir gesund bleiben, statt Krankheiten zu behandeln“, sagt Hutchings. „Aber das funktioniert nur, wenn wir ihnen die richtigen Mittel an die Hand geben. Deshalb müssen wir Produkte entwickeln, die sich nahtlos in unseren Alltag einfügen und cool und sexy sind, damit Menschen sie freiwillig dauerhaft nutzen wollen.“

Hinter Schlagwörtern wie m-Health oder E-Health steht genau diese Vision: Wer das Ich über längere Zeit beob­achtet, versteht nicht nur besser, warum er zunimmt oder schlecht schläft, sondern kann ganz allgemein gesünder leben — besonders, wenn es gelingt, die gesammelten Informationen in das Gesundheitssystem zu integrieren, damit die Interpretation der Daten nicht mehr simplen Smartphone-Programmen überlassen bleibt, sondern Fachleuten. „Im Krankenhaus bekommen Sie nur punktuelle Daten“, erklärt Gernoth Grunst, Mediziner beim Fraunhofer-Institut für angewandte Informatik. „Das Spannende sind diese Verläufe über einen größeren Zeitraum hinweg.“ Eine Handvoll chronischer Erkrankungen — darunter hoher Blutdruck, Diabetes und Krebs — sind in Industrieländern für etwa 80 Prozent der Gesundheitskos­ten verantwortlich.

Ein ganzes Spektrum an Krankheiten ließe sich verhindern.

Gernoth Grunst, Mediziner beim Fraunhofer-Institut für angewandte Informatik

Oft entstehen die Leiden schleichend als Reaktion auf falsche Ernährung, Rauchen, Alkoholmissbrauch oder zu wenig Bewegung. „Ein ganzes Spektrum an Krankheiten ließe sich verhindern“, sagt Grunst, wenn es gelänge, körperliche Fehlfunktionen früher zu entdecken und Menschen zu einem gesünderen Lebenswandel anzuregen. Technik allein hilft dabei nur begrenzt. „Die große Aufgabe ist, das Verhalten zu ändern“, erklärt Grunst, „damit Menschen tatsächlich tun, wovon sie wissen, dass es gesund ist.“

Niemand hat daran größeres Interesse als Krankenkassen und Arbeitgeber. Milliarden ließen sich sparen, wenn Millionen öfter mal ihren inneren Stubenhocker von der Couch kicken würden. In den USA haben Unternehmen wie BP und Ikea bereits begonnen, Zehntausende von Fitness-­Trackern an ihre Mitarbeiter zu ver­schenken, während Versicherer zunehmend auf Zuckerbrot und Peitsche setzen: Wer einen gesunden Lebensstil nachweist, erhält Bonuspunkte und günstigere Tarife; Faulenzer zahlen drauf.

„Wir sehen immer mehr Versuche, Menschen für ihr Verhalten zu belohnen oder zu bestrafen“, sagt Ceci Connolly, Leiterin des Health Re­search Institute bei der Unternehmensberatung PwC. „Die Balance zu finden zwischen Versicherungsschutz für Krankheiten, die unvermeidlich sind, und anderen, bei denen Menschen durch ihr Verhalten dazu beitragen, wird zu einer gro­ßen gesellschaftlichen Herausforderung werden.“

Es mag noch Jahre dauern, bis digitale Gesundheitshelfer routinemäßig unsere Lebenszeichen einfangen, um die Messwerte für Ärzte unseres Vertrauens aufzubereiten. Kein Zweifel aber: Der Tag wird kommen. Zu groß ist der potenzielle Nutzen. Zahllose Menschenleben ließen sich retten – aber auch Gesundheitssys­teme, denen unter der Last einer alternden Bevölkerung der Kollaps droht: Deutschland gibt mehr als 300 Milliarden Euro für Vorsorge und Behandlungen aus; eine Summe, so groß, dass auf jeden Haushalt mehr als 7000 Euro entfallen – bei schnell weiter steigenden Kosten.

„Uns bleibt gar keine andere Wahl, als neue Wege zu finden, chronische Krankheiten in den Griff zu bekommen“, sagt Cédric Hutchings. Die Herausforderung für die Allgemeinheit ist zugleich die große Chance für Startups wie Withings: Wer Menschen dazu bringt, freiwillig ihr Verhalten zu ändern und dauerhaft gesünder zu leben, kann sich unent­behrlich machen und am Wandel mitverdienen.

Nur: Wie gelingt der Trick? Auch wenn die GfK 570 000 verkaufte Fit­ness-Tracker im Jahr meldet (Tendenz: steigend) — nicht alle haben Lust, sich zu radikalen Schritten wie Sport statt Tatort gucken durchzuringen. Für viele mag die größte Hoffnung darin bestehen, dass digitale Gesundheitshelfer besser sichtbar machen, wie der Körper reagiert. „Wenn man ständig über sich Bescheid weiß, muss man keine extremen Entscheidungen fällen“, sagt Hutchings. „Man kann Spaß haben und das Leben genießen. Es reicht, aus dem Feedback zu lernen und ein wenig zu verzichten.“

Peu à peu das Ungesunde meiden — auch das kann große Wirkung haben. Man sieht das gut an dem Betonbau, in dem Withings mit seinen etwa 140 Ingenieuren, Softwareentwicklern und Verkaufsexperten daran arbeitet, die Welt zwanglos ein Stück gesünder zu machen. Man erlebt junge Menschen in hellen Büros, die an Flachbildschirmen sitzen und ab und zu in Richtung Cafeteria schlendern. Dort stehen sie beisammen, plaudern, trinken Café au Lait, Wasser oder Saft. Und keiner raucht. „Dieses Gebäude war mal eine Tabakfabrik“, erzählt Hutchings. „Ich mag die Symbolik.“ Wer sich eine Zigarette anstecken will, muss inzwischen vor die Tür, auch im Land der Gitanes und Gau­loises. Immerhin: Auch diese activité bringt ein paar Punkte fürs tägliche Schrittekonto. 

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