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Play-Kolumne / Thomas Glavinic über Sex, Lügen und Video

von Thomas Glavinic
Die Liebe ist geduldig, sie erträgt alles. Aber wie gut übersteht ein alter Lieblingsfilm den ständigen Fortschritt der Videoformate?

Ich kenne Leute, die haben nach wie vor einen besten Freund oder eine beste Freundin. Sind wir nicht zu alt für so etwas? Toll, ich bin gerade draufgekommen, dass ich auch einen besten Freund habe — aber lassen wir beiseite, was meine Theorie stören könnte.

Ich will sagen: Außer in der Liebe verteilen wir unsere Zuneigung auf mehrere Objekte. Wir haben kein Lieblingsgericht, erstens weil die meisten von uns sowieso alles fressen, zweitens weil die wahren Genießer viele Lieblingsgerichte haben. Wir haben kein Lieblingslied, weil es zu viele gute gibt. (Ich schon, seit 23 Jahren, „What Goes On“ von Velvet Underground, die Version auf der Live in 1969.) Wir haben keine Lieblingsstellung beim Sex. Wir haben keine Lieblingsjahreszeit: Wir mögen das Frühjahr, weil die Natur von Neuem erwacht und die Blumen blühen und unsere Hormone dingsen. (Beim ersten mickrigen Sonnenstrahl ziehen wir uns zu dünn an und haben drei Wochen Grippe.) Wir mögen den Sommer, weil er warm ist und wir Urlaub machen. (Schweineheiß ist’s, oder es regnet.) Wir mögen den Herbst, weil die Bäume so bunt werden. (Scheiß auf bunte Bäume.) Wir mögen den Winter, weil die weiße Landschaft unser Gemüt beruhigt. (Wir stapfen durch Schneematsch und brechen uns das Genick, sodass uns Kälte und Depression nicht mehr kümmern.) Wir haben keinen Lieblingsfilm. (Stimmt nicht, „Fitzcarraldo“ und „Four Lions“.)

Dieser Film scheint nicht mehr zu existieren. Langsam frage ich mich, ob es ihn je gegeben hat.

In meiner Kindheit hatte ich einen besonderen Lieblingsfilm. Besonders, weil ich ihn etwa ein Jahr lang jeden Tag nach der Schule ansah, oder so gut wie jeden Tag. Er dauerte vier Stunden, ich war zwölf. Er hieß „Der Leutnant und sein Richter“ und basierte auf einem Roman von Maria Fagyas.

Handlung: Am 17. November 1909 wird der K.-u.-k.-Hauptmann Richard Mader tot aufgefunden. Er hatte ein Potenzmittel geschluckt, das ihm von einem gewissen Charles Francis, Pharmazeut, zugeschickt worden war. Die Kapseln enthielten allerdings Zyankali. Hauptmann-Auditor Emil Kunze übernimmt die Ermittlungen. Schnell gerät der charismatisch-geniale Oberleutnant Peter Dorfrichter unter Verdacht, Mader und neun weiteren Offizieren die Giftbriefe geschickt zu haben. Er leugnet beharrlich. Kunze merkt, dass er in Dorfrichter verliebt ist. Verschiedene Leute bringen sich um. Dorfrichters Frau wird wahnsinnig. Überall Dramatik.

Diesen Film habe ich wirklich geliebt. Er war melancholisch, er war spannend, er war geheimnisvoll, er war schön. Ich hatte ihn auf einer 2000er-Kassette. Videorekorder der 2000er-Marke waren das kümmerliche und wenig verbreitete Konkurrenzprodukt von VHS. Was mir egal war.

Irgendwann war es mir doch zu blöd, jeden Tag denselben Film anzusehen. Die Kassette verschwand irgendwo. Sie ging mir nicht sehr ab.

Viele Jahre später fiel sie mir wieder in die Hände, und die alte Gier erwachte. Kunze! Dorfrichter! Zyankali! 1909! Kaiser Franz Joseph! Aber wie eine 2000er-Kassette abspielen? Unseren alten Rekorder gab es längst nicht mehr. Ich hatte Glück, ein Altwarenhändler verkaufte mir einen, und zwar um eine lächerlich geringe Summe.

Kassette rein, Film ab. Ich hörte die Filmmusik, und sofort war meine Kindheit wieder da. Alles, die Stimmung, die Gerüche, die Ruhe, die ich vor dem Fernseher empfand, allein in meiner Welt von 1909, weit weg von der Gegenwart.

Und dann kam der Schnee.

Auf dem Bildschirm begann es zu schneien. Nach ein paar Minuten war nichts mehr von Oberleutnant Dorfrichter zu sehen. Die Kassette war hinüber. Ich trauere bis heute. Es gibt diesen Film nirgends zu kaufen. Es gibt ihn nicht mal auf Youtube. Ich will ihn, ich bekomme ihn nicht. Von wegen moderne Zeiten. Dieser Film aus dem Jahr 1983 oder 1984 scheint nicht mehr zu existieren. Langsam frage ich mich, ob es ihn je gegeben hat.

THOMAS GLAVINIC lebt als Schriftsteller in Wien. Sein letzter Roman „Das größere Wunder“ erschien 2013. Für WIRED schreibt er regelmäßig über seinen Alltag mit der Technologie

In der letzten Folge der Play-Kolumne frönte Thomas Glavinic dem Hass auf den Kindle. 

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